Lara – Wasser

„Wer ins kalte Wasser springt, taucht ins Meer der Möglichkeiten.“
Finnisches Sprichwort

Independence of the Seas, Mittelmeer – Erde

Wasser, so weit das Auge reichte. Ihr war sterbenselend!
Würgend hing Lara über der Reling. Seekrankheit. Sie hasste das Meer.
Nein, eigentlich hasste sie Wasser im Allgemeinen!
Von wem nur stammte die Idee mit der blöden Kreuzfahrt? Ach ja, ihre Eltern hatten sie gebucht. Anlässlich von Laras 17. Geburtstags.
Beschwingt über ihren im Voraus ausgetüftelten, wahnsinnig tollen Einfall hatten John und Grace Bishop einen Teil ihres beträchtlichen Vermögens in eine 14-tägige Tour auf der Independence of the Seas investiert. Die Abfahrt war vor 5 Tagen erfolgt. Start- und Endhafen lag in Southampton. Ihr Vater hatte darauf bestanden, mit dem Auto von ihrem Wohnort Plymouth zur Anlegestelle zu fahren. Unmittelbar vor der Gefangenschaft auf dem übergroßen Boot hatte Lara demgemäß drei Stunden mit ihren Erziehungsberechtigten in deren Rolls-Royce ausharren müssen. Tolle Ferien.
Unbedingt sehnte Lara sich nach dem morgigen Stopp. Und das hatte ausnahmsweise nichts damit zu tun, dass sie endlich wieder Boden unter den Füßen zu spüren bekäme. Am morgigen Tag würde das Schiff für ein paar Stunden in Nizza ankern. Frankreich hatte sie schon immer besuchen wollen.
Daddy sah in dem Land nichts Besonderes, denn der Architekt für Großunternehmen war ohnehin in ganz Europa herumgekommen. Laras Mum blieb zu Hause, arbeitete halbtags an einer Universität als Professorin für Geschichte und kümmerte sich nebenbei um ihre Tochter. Bald sollte ihre Aufopferung ein Ende finden. In einem Jahr erwog Lara, ein Studium anzutreten. Zum Ziel nahm sie sich vor, einen Job finden, der sie auf Reisen schicken und die Welt entdecken lassen würde. An sich unterstützten ihre Eltern das Vorhaben einer Promotion, diskutierten aber ständig über ihren gewählten Berufszweig. Vom Reisen per se verdiente man kein Geld. Beharrlich hatten John und Grace die Freizeitaktivitäten ihres braven britischen Mädchens gefördert, zu welchen überwiegend das Klavierspielen zählte. Unfreiwillig.
Aufgrund ihres Talents sowie zur Freude der Erwachsenen hatte Lara jahrelang geübt, war bei Konzerten im Orchester oder solo aufgetreten. Sie spielte wunderbar, ihre Musikalität grenzte an Kunst. Lieben hatte sie ihr aufgezwungenes Hobby nie gelernt. Im Gegenteil. Je unnachgiebiger ihre Eltern Lara zum Musizieren gedrängt hatten, desto weniger lieb hatte sie es gewonnen. Zuletzt war sie widerwillig, beinahe hasserfüllt ans Klavier gesessen.
Insgeheim verbarg sich ihre Leidenschaft in der Fotografie. Alle Länder der Welt zu erkunden und besondere Momente mit ihrer Kamera festzuhalten, davon träumte sie. Dann würde sie ihre Werke in einer eigenen Galerie ausstellen. Die Leute kämen, um ihre Fotokunst zu bewundern, verloren sich in den prächtigen Farben, die diese Welt hergab.
Von romantischen Gedanken hatten John und Grace sich wenig begeistern lassen. Für ihre Tochter erhofften sie sich eine „gescheite“ berufliche Zukunft. Letzen Endes entsprach dies einer Arbeit, durch die Lara Geld verdiente. Viel Geld. Wie ihr Daddy.
Bevor sie überhaupt in etwaige Richtungen weiter planen konnte, musste Lara diese Schifffahrt überleben! Ihre Abneigung vor Wasser war nicht unbegründet. Sie beherrschte einiges. Mit Intelligenz gesegnet, hatte die Musterschülerin stets Bestnoten erlangt. Diversen außerschulischen sportlichen Aktivitäten wohnte sie gern bei, sei es Golfen, Tennis oder Reiten. Egal worin, in jedweder Disziplin glänzte sie. Ihre Leistungen ragten heraus. Immerzu.
Die einzige Sache auf der Welt, die sie nie gelernt hatte, war das Schwimmen. Seit dem Kindesalter hegte sie eine regelrechte Abscheu gegen das kühle Nass. Weil ihre Eltern davon wussten, war Lara nicht imstande, den Gedanken hinter deren Geburtstagsgeschenk nachzuvollziehen. Gedachten sie, ihr eine Konfrontationstherapie zu schenken?
Grübeln und Jammern brachte ihr keinen Erfolg, darum: Augen zu und durch!
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte eine Stimme hinter Lara.
Das blasse Mädchen schaffte kaum ihren Kopf zu drehen.
Jemand legte ihr behutsam die Hand auf den Rücken, streichelte sanft ihre Wirbelsäule entlang. Trotz ihrer Übelkeit lächelte sie.
An ihrem ersten Abend hatte sie an Bord einen jungen Mann kennengelernt.
Andy, 21 Jahre alt, hervorragend aussehend, studierte Medizin an der Oxford University. Daneben spielte er Eishockey, erarbeitete sich sogar den Posten als Captain der Mannschaft. Dem Hobby verdankte er seinen durchtrainierten Körper. Flapsig gesprochen – er war mega heiß!
Unfassbar, dass der Mädchenschwarm, welchem unzählige weibliche Seelen hinterherliefen, von Anfang an einzig ein Auge auf sie geworfen hatte. Prinzipiell lagen Lara und er auf einer Wellenlänge, betreffend sowohl ihren schulischen Eifer, genauso ihre Leistungsorientierung. Gleichwohl passten sie optisch zusammen. Lara war eine Augenweide. Langgewachsene, dunkelbraune Haare umspielten ihr ebenmäßiges Gesicht. Dank ihrer sportlichen Aktivitäten besaß sie eine drahtige Figur. Ungeachtet ihrer naturgegebenen Grazie verhielt Lara sich bodenständig, niemals arrogant.
Dementsprechend hatte das Interesse des Superstars sie ehrlich überrascht.
Genau dieser Star streichelte ihr momentan über die Kehrseite.
„Frag mich das morgen an Land“, krächzte sie.
Andy lachte, zeigte dabei strahlend weiße Zähne.
„Geburtstagskind, heute ist dein Ehrentag. Freu dich!“
Lara rollte die honigbraunen Augen.
„Meine Feier findet auf hoher See statt!“ - „Aber es gibt Kuchen!“, versuchte sie ihr Freund zu überzeugen.
Kritisch war sie ein: „Bist du dir da sicher? Die letzten Tage warf das Buffet Steaks oder Meeresfrüchte ab.“
Angeekelt rümpfte sie die Nase, verzog ihre roten Lippen. Weder das eine, noch das andere aß sie besonders gern.
„Wären zumindest Fish & Chips dabei!“, jammerte sie.
Andy legte ihr den Arm um und führte Lara Richtung Innendeck.
„Sicherlich serviert der Luxusdampfer kein Fast Food! Aber hey, sobald wir nach England zurückkehren, spendiere ich dir eine ordentliche Portion!“
Oh Mann, schön wär’s! Ihre Eltern kannten ihn ausnahmslos vom Sehen. Gegensätzlich zu ihr war Andy bereits volljährig. Die Chance, dass Mommy und Daddy eine Beziehung tolerierten, entsprach der Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns. Im Essbereich des Kahns angelangt, löste Andy die Umarmung. Lara erblickte ihre Eltern und lief auf beide zu, nicht ohne vorher noch einen Blick über die Schulter zu werfen. Der Frauenheld zwinkerte.
„Happy Birthday, Schatz!“, gratulierte ihre Mama freudig.
Zu allem Übel umarmte sie ihre peinlich berührte Tochter. Mr. Bishop tat es seiner Frau gleich. Als ob das nicht genug des Guten gewesen wäre, hatte Andys Vermutung gestimmt und die Eltern tatsächlich eine riesige Torte organisiert. Sicherlich traf der Schoko-Mango-Sahne-Kuchen Laras Geschmack, die 17 brennenden Kerzen, säuberlich auf der mit Schokoladenguss überzogenen Oberfläche drapiert, sorgten jedoch für unangenehme Aufmerksamkeit des restlichen Gästepublikums.
„Na los, wünsch dir etwas!“, ermutigte Grace ihr kleines Mädchen.
„Mum! Ich bin erwachsen!“, erwiderte dieses empört.
„Ach Schatz! Es ist nie überflüssig, einen Wunsch zu äußern!“, meinte John.
Innerlich aufgeregt, äußerlich ganz cool, pustete Lara die Flämmchen aus.
Sehnlichst flehte sie um ein Abenteuer.
Abends verabredeten sich ihre Eltern mit Lara zum Abendessen. Hinterher würde sie Andy treffen. Zusammen stießen sie auf ihren Geburtstag an.
Vorher stattete die Britin dem schiffseigenen Fitnessstudio einen dringlichen Besuch ab. Bei einem anstrengenden Work-out trainierte sie überflüssige Kalorien von der kürzlichen Kuchensünde ab. Eigentlich war ihr dergleichen egal. Lara verfolgte einen aktiven Lebensstil, machte Sport, bewegte sich reichlich. Demnach aß sie, was sie wollte, wann sie wollte. Heute galt als Ausnahme. Unbedingt musste sie in das von ihr gewählte Outfit passen, um Andy zu gefallen. Da sie gerade nichts Besseres zu tun hatte, ihre Eltern einer Partie Karten beiwohnten, folgte sie dem Motto „ohne Fleiß kein Preis“.
Obwohl Lara nie ein Freund der Seefahrt werden würde, musste sie zugeben, dass dieses Kreuzfahrtschiff einiges bot.
Die Bishops wohnten in einer komfortablen Suite, welche einem luxuriösen Hotelzimmer gleichkam. Einschlafen fiel ihr aufgrund des Geschaukels trotzdem schwer. Diverse Wein- und Themenbars, sowie Restaurants servierten eine große Auswahl an Spezialitäten für verwöhnte Gaumen.
Am Abend verfolgten sie meist Shows im Theater, Paraden auf der Royal Promenade, sangen zwischendurch Karaoke, oder schauten Filme im Kino.
Neben einer Vielzahl unterschiedlicher Sportanlagen, darunter Minigolf, Kletterwände und Fitnesscenter, nutzen die Reisenden Thai Chi Stunden und Yogakurse, gegebenenfalls entspannten sie im Spa. Zeitweise bummelten sie durch Souvenirläden und andere Geschäfte. Die zurückliegenden Tage waren dank allerhand Aktivitäten im Flug vergangen. Glücklicherweise. Dadurch hatte Lara sich nicht die ganze Zeit über auf ihre Gefangenschaft auf dem Wasser konzentriert.
Ihr aktuelles Sportprogramm beinhaltete vorwiegend Cardiotraining. Schweißtreibende Übungen belebten ihren Körper, erweckten alle Zellen zu neuem Leben.
Frisch geduscht, die Haare ordentlich zu einem Knoten hochgesteckt, wählte Lara ein dunkelblaues, trägerloses Kleid zum Abendessen. Wohl eher für danach.
Zum Diner erwartete sie eine Überraschung. Papa John hatte den Küchenchef des Restaurants gebeten, „Fish and Chips“ für sein Mädchen zuzubereiten. Laras Lieblingsessen. Das freute sie außerordentlich.
Anschließend luden Ihre Eltern sie zum Karaoke ein, doch Lara lehnte, mit dem Vorwand unter Kopfschmerzen zu leiden, ab. Demnach verabschieden die Familienmitglieder sich, die Eltern wünschten der Tochter eine gute Besserung. Das Mädchen lief in Richtung Kabine, während die Erwachsenen die Karaoke Bar aufsuchten, wo sie stundenlang ihre Gesangskünste demonstrieren würden.
Natürlich wartete Andy bereits vor der Zimmertür der Bishops. Doch sie gingen nicht hinein. Stattdessen suchten die beiden seine Kajüte auf. Champagner stand gekühlt auf dem Beistelltisch in der Mitte des Raumes.
Lara machte große Augen. Dramaturgisch entfernte er den Korken der Flasche und goss die sprudelnde Flüssigkeit in bereitstehende Gläser. Eines reichte er ihr. Sie stießen an, tranken einen Schluck Alkohol.
Normalerweise hatte Lara einen entspannt ausklingenden Abend mit intensiven Gesprächen und vielleicht einem romantischen Gutenachtkuss erwartet. Mädchenträume eben.
Andy verfolgte offenbar andere Pläne.
Gleich zu Beginn hatte er seine Hand um ihre Taille gelegt, zog sie nun stürmisch an sich, presste noch stürmischer seine Lippen auf ihre. Wie die meisten Mädchen besaß sie bestimmte Vorstellungen von ihrem ersten Kuss.
Darunter fanden sich unter anderem eine romantische Kulisse, der perfekt magische Moment, sanfte Berührungen, zart gehauchte Bewegungen der Münder. Ein Szenario, würdig eines Disney Klassikers.
Die Realität entsprach keineswegs ihren träumerischen Gedanken. Nicht einmal im Entferntesten!
Andy steckte Lara im wahrsten Sinne die Zunge in den Rachen!
Unwürdiger konnte ein erster Kuss nicht sein, gar leidenschaftsloser!
Feuchtfröhlich passte besser.
Mit seiner rechten Hand grabschte Andy dem Mädchen an den Po, die linke wanderte aufwärts. Bevor er ihre Brüste anpackte, stieß ihn Lara von sich.
„Halt! Das reicht!“, keuchte sie, wischte sich mittels Handrücken über den Mund.
Da ihn offenbar selten eine Frau abwies, glotzte er doof aus der Wäsche.
Irritiert unterstellte er ihr: „Warum zickst du auf einmal herum? Ich dachte, du willst mich auch!“
Jetzt war es an Lara, ihren Urlaubsfreund verständnislos anzublicken. Sachte schüttelte sie den Kopf, ihre Wellen tanzten um ihr Gesicht.
„Du hast mich wohl missverstanden! Natürlich finde ich dich toll, aber ich bin nach knapp einer Woche noch nicht bereit für das hier. Vor allem nicht so!“
Sie gestikulierte mit ihren Händen, zeigte auf das befremdliche Ambiente, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen.
„Sag mal, bist du Jungfrau?“, mutmaßte Andy.
Lara errötete.
Als Lara zögerte, fühlte er seine Behauptung bestätigt.
„Mit 17 jungfräulich? Na, großartig!“, frotzelte er sarkastisch.
Unwohl in ihrer Haut fühlend, entschied Lara das Treffen zu beenden.
„Ich glaube, ich gehe lieber“, wisperte sie, in der Hoffnung, er hielt sie auf.
Doch stattdessen lachte er schief.
„Hey, sorry, dass ich nicht begeistert bin! Aber du musst meinen Standpunkt auch nachvollziehen. Heutzutage ist eine Siebzehnjährige ohne Erfahrung selten. Und ich stehe mehr auf, sagen wir Schlampen im Bett, die wissen, was sie tun. Wobei, für dich mache ich sogar eine Ausnahme.“
Bei dem letzten Satz grinste er widerlich. Lara sagte kein Wort mehr.
Frappiert wandte sie sich um, riss die Tür auf und verließ die Räumlichkeit.
Eine Schlampe im Bett, was bildete sich der Kerl ein? Mitnichten gehörte sie dieser Art Mädchen an! Ihre Eltern hatten Lara anständig erzogen. Aufgewühlt stürmte sie in ihre Kabine.
Konstant kreisten ihre Gedanken. Rastlos spazierte sie in dem Zimmerchen auf und ab. Unter Umständen hatten die strengen Grenzen, eine stetig herausragende Leistung, ihre brave Einhaltung aller Regeln, Laras Charakter etwas prüde geformt. Hatte sie Andy voreilig abserviert? Oder wollte sie das nur glauben? Das Mädchen überlegte. Erst gegen Mitternacht endete ihr Geburtstag. Sollte sie nicht einmal eine Dummheit wagen? Schließlich erwog sie künftig auf abenteuerlichen Reisen abenteuerliche Dinge zu erleben. Da konnte sie keineswegs bei der ursprünglichsten Sache der Welt kneifen!
So fasste Lara einen neuen Entschluss. Mit veränderter, risikofreudiger Einstellung rannte sie klopfenden Herzens zurück. Inständig hoffte sie, Andy verziehe ihr. Um die Ecke lag seine Kajüte. Lara blieb stehen. Sie hörte Stimmen. Vorsichtig lugte sie hinter der Mauer hervor in den Gang. Unmittelbar setzte ihr Herzschlag aus.
Für sie hatte Andy schnell einen Ersatz gefunden. Eine junge Blondine lehnte an seiner Tür, er hielt sie mit beiden Armen, rechts und links abgestützt, gefangen. Andys hübsche Eroberung kicherte, als er ihr unartige Dinge ins Ohr flüsterte. Dann küsste er sie.
Falsch, er schob ihr seine Zunge zwischen die Zähne. Der Anblick ihrer verschlungenen Münder erregte in Lara Ekel. Da sich Blondie nicht sträubte, streichelte Andy mit einer Hand zunächst Gesäß, daraufhin die Brust unter dem engen T-Shirt. Immer noch nicht abgeneigt, erwiderte die Frau seine Zärtlichkeiten. Nachdem er zwischen ihren Beinen angekommen war, schnappte Lara verbittert Luft. Heuchelte er ihr doch tagelang ernsthaftes Interesse vor, dann schlief sie nicht direkt mit ihm und er schleppte geradewegs eine Neue ab? Wie dreist konnte der Kerl sein?
Fertig mit Vorspiel, öffnete Andy die Kabinentür und trat mit der liebeshungrigen, anderen Frau ein.
Versteinert stand Lara eine ganze Weile hinter der Mauer, trabte später entmutigt davon. Den Geburtstag würde sie ihren Lebtag nicht mehr vergessen! In der Tat …
Zwei Wochen waren verstrichen.
Nicas Rubin hatte sich keinen Millimeter bewegt. Eine Spur bezüglich des vierten Priesters hatte sich nicht finden lassen. Dafür hatte sich Neuzugang Hanna als wahres Goldstück erwiesen.
Zunächst hatte sie außerordentlich misstrauisch auf jedes einzelne Mädchen reagiert. Nach einer Weile war sie ein wenig aufgetaut.
Jessica war sprachlos gewesen, die junge Mexikanerin hatte einiges durchmachen müssen. Und sie hatte nicht schlecht gestaunt, als Hanna in die Systeme des hiesigen Krankenhauses eingedrungen war. In kürzester Zeit hatte die Latina Jessi eine Krankmeldung beschafft. Gültig bis zum Ende des Jahres! Die Begründung: Burn-out.
Einfach so und schwuppdiwupp stellte ihre Arbeit die nächsten Monate kein Problem mehr dar.
Neben Maelle verfügte Hanna über weitreichende Kenntnisse in Kampfsport, welche Jessica für die Mission zu nutzen gedachte. Fanden im Fitnessclub keine Kurse statt, besetzte Jessi mitsamt aller Mädchen den ungenutzten Kursraum. Dank ihrer Zauberkräfte benötigte sie keinerlei Überredungskünste, das Studiopersonal gewährte ihr freien, uneingeschränkten Zutritt.
Shanti und Nica verstanden sich im Umgang mit Waffen. Selbstverteidigung, Tritt-, Schlag- und Grifftechniken lernten sie schnell dazu.
Yelina benötigte, mangels Berührungspunkten, längere Zeit für die Umsetzung. Trotzdem empfand sie, empfanden sie alle, bei den Trainingseinheiten Spaß. Jessica befand Herumsitzen sowieso für gänzlich unproduktiv.
Ihren Elementkriegerinnen hatte sie ein Doppelzimmer gebucht, die beiden harmonierten prima miteinander.
Zwischenzeitlich hatte kein Angriff auf einen der Planeten stattgefunden. Das Universum schien ruhig. Still.
Auch wenn sie die zurückliegenden Tage bestmöglich zum Üben genutzt hatten, erst wenn die Auserwählten vollständig waren, konnten sie ihr eigentliches Training starten. Wie dieses aussähe, darüber würde Jessi sich beizeiten Gedanken machen.
Gewöhnlich verbrachten die Mädchen ihre Abende im gemeinsamen Kreis.
Jessica empfand ein intensives Kennenlernen sowie Vertrauen gewinnen als wichtig und sinnvoll.
Hanna zeigte ihren neu gewonnenen Freundinnen Poker. Fasziniert lauschten Maelle, Shanti, Nica und Yelina ihren Erklärungen. Die verschiedenen Charaktere stammten von völlig unterschiedlichen Welten. Amüsiert schaute Jessica ihren Schützlingen zu, wie sie das fremde Spiel ausprobierten. Chuck durfte ausnahmsweise das Bett belegen, während die Frauen sich auf dem Boden ausbreiteten. Kater Pan schwänzelte um die Runde, beschnupperte die einzelnen Personen. Argwöhnisch beäugte Chuck jedwede Regung des kleinen Raubtiers.
Jessi grinste. Bestimmt nahm das Fellknäuel telepathischen Kontakt zu seiner Herrin auf und verriet ihr die Karten ihrer Gegnerinnen. Von wegen schnuppern!
Recht behielt sie. Shanti bluffte professionell und warf Nica, Maelle und Yelina aus dem Rennen. Ihr scheinbar glückliches Händchen beeindruckte Hanna nicht im mindesten. Die Latina wusste, wie der Hase lief.
„Ich will deine Hand sehen!“, forderte sie.
Ups, durchschaut! Leicht quengelig deckte Shanti das leere Blatt auf, Hanna gewann.
Jessi mischte. Sie übte die Funktion des Dealers aus.
Als die heiße Phase der Einsätze in Form von Plastikchips startete, klopfte jemand an der Zimmertür. Binnen Sekunden standen sowohl Wald- als auch Schattenelfe kampfbereit und Hanna, geprägt vom jahrelangen Verbrecherleben, zückte eine Pistole.
Wo zur Hölle hatte sie die denn her?
Mahnend hob Jessi die Hände, zum Zeichen, dass die Mädchen ruhig bleiben sollten.
Jessica – kein wirklich gutes Vorbild für Kinder, welchen Mamis beibrachten, die Tür nicht ohne Weiteres zu öffnen – riss sie beinahe aus den Angeln, eine Hand war vorsichtshalber am Mondstein gelegen.
Überraschenderweise stand ein Fräulein vor ihr.
„Wer bist du?“, fragte Jessi in neutraler Tonlage.
Gleichzeitig musterte sie das junge Ding. Zu den harten Fakten zählten schulterlange, wellig braune Haare, Augen selbiger Farbe, gebräunte Haut, nicht vom Solarium, sondern von der Sonne, dünner, fast kindlicher Körper.
Angenommene Altersklasse, identisch zu jener Yelinas.
Jessi überlegte angestrengt, kam zu dem Ergebnis, die Fremde zuvor nie gesehen zu haben. Die Brünette spannte die Hexe nur kurz auf die Folter, ehe sie ihre Identität aufdeckte.
„Freut mich außerordentlich, dir begegnen zu dürfen, Jessica Adams, Erdenhexe, Auserwählte der Königin von Licht und Magie!“
Vorsichtig begutachtete Jessi die Mimik des Mädchens, das ihren Namen kannte. Folgende Worte hauten sie dann regelrecht um.
„Ich möchte mich meinerseits vorstellen. Mein Name lautet Sonja und ich bin die Wächterin der Träume.“
Jessica klappte der Mund auf. Eben hatte sie noch geglaubt, das Kind ihr gegenüber wäre eine Pfadfinderin und wollte Kekse verkaufen!
Nun, das „Kind“ grinste und zeigte strahlend weiße Zähne.
„Du lieber Himmel!“, hüstelte Jessica, hielt die Tür offen und bat den Neuzugang rein.
Ins Zimmer geflitzt, erstarrte das Mädchen namens Sonja.
„Ah!“, brüllte sie schrill, „ihr seid alle real!“
Leicht verwirrt blickten die Kriegerinnen sich untereinander an. Ein Wasserfall an Worten sprudelte aus der Unbekannten.
„Entschuldigt! Ich bin mehr oder weniger auch eine Kriegerin der Königin. Vor zwei Jahren wählte mich Eure Majestät Celestia zur Wächterin der Träume. Es existieren insgesamt drei Wächter. Von Rick, dem Wächter des kosmischen Raumes, erhieltet ihr den Schlüssel, welcher das Reisen zwischen den Planeten ermöglicht. Seine Aufgabe ist euch bekannt. Artemisia, die Wächterin der Zeit, sorgt dafür, dass kein Wesen außerhalb seiner vorgesehenen Zeitschiene wandelt und Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft manipuliert.“
Blubber, Blubber, Blubber. In der Manier flutschte die Informationsflut aus Sonja.
„Die arme Frau arbeitet extrem hart!“, erzählte sie weiter, fuchtelte dabei wild mit ihren Händen. Teils vergnügt, teils fasziniert, in Jessis Fall genervt, hingen die restlichen Anwesenden an ihren Lippen.
„Mir wurde die Ehre auferlegt, die Träume der Menschen zu beschützen, denn sie erschaffen allein die Magie. Heutzutage keine leichte Sache sage ich euch! Die Sterblichen träumen immer weniger!“
Sonja seufzte. Jessica nutzte ihren Stillstand, geschwind einzulenken. „Was umfasst dein Schaffen genau?“, interessierte sie.
Hoffentlich gelangte Sonja heute noch zum Punkt!
„Öh, gute Frage!“, gestand sie. „Manchmal gibt ein Individuum seinen Traum nicht eigenmächtig auf“, fuhr sie fort, rieb sich währenddem das Kinn.
„Menschen können Magie und Zauberkraft weder sehen noch erfassen, obwohl die Mächte allgegenwärtig sind. Die Nichtmagischen nehmen sie meist in Form von Energieschwingungen, ferner Energiewellen wahr. Je nach Ursprung verursachen sie gute oder schlechte Gefühle, aber auch positive und negative Gedanken. Ein Mensch, welcher an negative Magie, mehrheitlich erzeugt durch das Böse, gerät, verfällt leicht in Depressionen. Depressive Phasen sind keine Krankheiten, nur die Aufnahme einer zu großen Anzahl bösartiger Magiepartikel. Gibt ein Mensch seine Träume aus diesem Grund auf, kann ich ihn heilen. Ich entferne negative Magieteilchen und bringe ihn zurück zum Träumen. Falls ein Mensch aber freiwillig aufhört zu träumen, kann ich nichts tun.“
Erneut seufzte sie. Den Umstehenden klingelten die Ohren. Bei Weitem zu viel Input!
„Leider“, atmete Sonja schwer aus, „passiert das in diesem Jahrhundert ständig. Sind die Menschen erst erwachsen, fängt der Alltag sie ein. Sie erinnern sich nicht mehr an ihre Kindheitswünsche. Tagträume werden seltener und die Kinder schneller erwachsen.“
Ihre Stimme war ein leises Flüstern.
„Das schlimmste Szenario wäre, alle Menschen hörten auf zu träumen. Dann stürbe alle Magie.“
Zunächst verarbeiteten die Mädchen Sonjas ausführliche Erläuterung schweigsam. Unvorstellbar, dass die Königin von Licht und Magie einem derart jungen Ding eine solche Verantwortung aufbürdete! Als ob sie Gedanken las, beantwortete Sonja die im Raum stehende Frage.
„Dich, Jessica, erwählte die Königin, da du die Hexe mit dem meisten Potenzial und dem reinsten Herzen auf Erden bist. Mich ersuchte sie, weil ich die größte Träumerin bin.“
Natürlich. Die Wächterin der Träume sollte selbst träumen. Logisch, nicht?
Jessica schnaufte. Die Wahl war rational gefallen. Und dennoch. Das Mädchen war ein Kind! Gut, eigentlich waren alle in diesem Raum, bis auf Jessi selbst, Kinder!
„Ich besitze einen Magiestein, ähnlich eurem“, unterbrach Sonja das bedröppelte Schweigen, „ich bin hier, weil ich euch helfen will. Mit meinem Spiegel, einem Teil meiner Ausrüstung, sehe ich manch gegenwärtige Vorkommnisse. Er zeigt mir, wenn sich ein Traum in Gefahr befindet. Vielleicht nutze ich euch bei eurer weiteren Suche!“ - „Aha, ein magischer Spiegel, ja? Fandest du mit dem Teil auch uns?“, fragte Hanna forsch.
„Ja. Rick, also der Wächter des Raumes, brachte mich auf mein Bitten her. Seinem Vorschlag nach sollte ich allerdings klopfen. Wahrscheinlich stürmtet ihr auf mich, wäre ich unangemeldet ins Zimmer geplatzt.“
Im Prinzip korrekt.
„Eine Hilfe mehr, perfekt! Lasst uns eine Vorstellungsrunde machen!“, befand Maelle fröhlich und klopfte der Neuen auf den Rücken. Das herzlich willkommen heißen klappte schon mal.
Lara rollte sich an ihrem Geburtstag traurig im Bett ihrer Kabine zusammen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Entsprechend zu ihrer tristen Stimmung veränderte sich das Wetter. Durch das Bullauge sah sie Regen fallen.
Fast hätte man annehmen können, sie sei der Auslöser gewesen. Eine nette Vorstellung!
Das Schiff schwankte, offenbar bedingt vom ordentlichen Wellengang.
Kurz vor Zwölf hörte sie ihre Eltern die Suite betreten. Das Mädchen stellte sich schlafend, auch wenn ihre Gedanken sie wach hielten.
Zu einem anderen Zeitpunkt fiel sie dann doch völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf. Versunken träumte sie von einem weiten Land. Gebirge rahmten ein grünes, blühendes Tal ein. Flüssen durchzogen die von Menschen unberührte Natur. Sie sah wilde Tiere über die Ebene streifen. Affen, Raubkatzen, Echsen. Die Wildnis zauberte ein atemberaubend schönes Bild.
Lara erkundete jeden Winkel von diesem magischen Reich, genoss die vielfältigen Eindrücke. Farbenfroh lag die Gegend vor ihr. Neben den Facetten nahm sie die Gerüche wahr. Feuchtes Gras. Duftende Blumen. Regen.
Regen?
Auf einmal spürte sie seltsames. Ihre Füße fühlten sich feucht an.
Warum stand sie in Wasser?
Schlimmer noch, es umgab sie.
Der Anblick des fernen Kontinents verschwand. Aufgeschreckt kam Lara zu sich. Ihre Beine waren tatsächlich nass. Sie musste geschlafwandelt sein, denn schlagartig stand sie mutterseelenallein an Deck des Kreuzfahrtschiffes.
Sicherlich waren die restlichen Passagiere vor dem plötzlich aufgekommenen Sturm in ihre Kajüten geflüchtet. Es regnete nicht nur in Strömen, es hagelte Katzen!
Lara trug weiterhin das blaue Kleid, hatte sich jedoch ihrer Schuhe entledigt. Barfuß suchte sie einen Eingang. So gut sie konnte, balancierte sie über das wippende Seefahrzeug. Einige Male stürzte sie, rieb sich die Knie auf.
Weil durchnässt, fror sie bitterlich. Eine hohe Welle peitschte gegen das Schiff, warf Lara an die Reling. Panisch krallte sie ihre Hände fest.
Kaum lag die Oberfläche gerade, löste sie den Griff. Eilig steuerte sie eine vielversprechende Tür an. Aufgrund erneuter Wellenbewegungen kippte der Kahn und schleuderte Lara abermals an den Rand. Mit dem Gesicht zum Wasser spuckte sie Galle. Ihr Kopf drehte sich. Das Schwindelgefühl entfachte bleierne Übelkeit.
„Bitte, lass das auch nur ein Traum sein“, würgte die junge Frau hervor. Ihr Kreislauf kapitulierte.
Der nächste Wellenangriff schunkelte die Independence of the Seas. Lara verlor endgültig das Gleichgewicht und stürzte kopfüber ins kühle Nass.
Am frühen Morgen, kurz vor der Côte d’Azur, ertrank die junge Lara Bishop im Mittelmeer.