Hanna – Erde
„Die Schönheit der Erde kann man nicht kaufen. Sie gehört dem, der sie entdeckt, der sie begreift und der es versteht, sie zu genießen.“
Henry Bordeaux
Einige Tage nach den Ereignissen auf Pura schlenderte eine junge Dame durch die Regale einer örtlichen Einkaufsmöglichkeit von San Marcos, Bundesstaat Guerrero, Mexiko. Die Stadt bot den 12.000 Einwohnern allerhand Restaurants, Supermärkte, Kaufhäuser, familieneigene Lebensmittelgeschäfte, eine Katholische Kirche, Apotheke, eine Handvoll Hotels sowie eine Tankstelle etwas außerhalb. Für Anwohner ein kleines, aber feines Städtchen.
Für sie war es das perfekte Versteckt.
Am gegenwärtigen Samstag rannten die Einwohner dem Supermarkt buchstäblich die Bude ein. Auf der Internetseite oder an Kassen erhielten sie Coupons, die den Leuten unterschiedlich hohe Rabatte auf spezielle Waren versprachen. Es hatte den Anschein, als herrsche weit und breit Waschmittelknappheit. Jung und Alt plünderten die Regale, raubten literweise billige und auch teure Waschmittelmarken. Den letzten Artikel des beliebten Bleichmittels für Weißwäsche, heute rabattiert, ergriff eine rüstige Oma.
Ihrem Blick nach zu urteilen, würde sie die bunte, viereckige Packung mit ihrem Leben verteidigen. Abgesehen von rauflustigen Großmüttern und dem beißenden Schweißgeruch der mit Stolz behaarten Männer, mochte Hanna den hektischen Trubel an Wochenenden. Der Grund hierfür war einfach. In einer Menschenmasse blieb sie unerkannt. Darum trug die 17-Jährige gern unauffällige Kleidungsstücke, stets angepasst an die Jahreszeit. Ende Juni stiegen die Temperaturen bis auf 30 Grad. Zwar nicht der niederschlagsreichste Monat, dennoch in der Regenzeit gelegen, machte die feuchte Luft einen Gang nach draußen zu einem unangenehmen Zeitvertreib. Aktuell trug sie ein weißes Sommerkleid mit grünem Blumenmuster, was den Eindruck von Normalität vermittelte. Hanna huschte zwischen den Schlangen hindurch. Sobald sie einen Menschen passierte, bevorzugt Männer, sich höflich für das bei Völle gewöhnliche Anrempeln entschuldigte, landeten diverse Gegenstände in ihrem Shopper, einer Art übergroßen Tasche. Darunter fanden sich allerhand Gebrauchsgüter, einige Geldbörsen, Uhren, ein silbernes Armband, sogar ein goldener Ring.
Hanna schüttelte den Kopf. In ihren Augen unvorstellbar. Die Anwohner strömten scharenweise bei schwül-heißem Wetter in das nicht klimatisierte Einkaufszentrum, um ein paar Pesos zu sparen, bemerkten aber nicht, dass ein Langfinger ihrer Wertsachen raubte!
An der Kasse diskutierte ein älterer Herr mit dem Kassierer. Offenbar lief sein Rabatt bereits ab, der Coupon besaß folglich keine Gültigkeit mehr.
Streit – für sie eine optimale Gelegenheit!
„Perdón! Verzeihung!“, redete Hanna den übergewichtigen Mann auf Spanisch, der Amtssprache Mexikos an.
Zunächst verärgert, musterte der eklige Kerl das junge Mädchen von oben bis unten. Glücklicherweise mit gutem Aussehen gesegnet, schenkte Hanna ihm ihr strahlendstes Lächeln. Ihre kinnlangen, schwarzbraunen Haare glänzten im Licht der Sonne, welche durch die schmutzigen Scheiben des Supermarktes schien. Lange Wimpern rahmten ebenso dunkle Augen ein. Ihr gebräunter Hautton bezeugte ihre Latina Herkunft. Prompt hatte sie seine volle Geistesgegenwart erlangt.
„Ich muss nur einen einzigen Artikel bezahlen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich vor Sie drängle?“
Zur Untermalung ihres Charmes zeigte sie ihre strahlend weißen Zähne.
„Tu dir keinen Zwang an, Fräulein. Bei mir dauert’s ohnehin noch eine Weile!“
Dabei blickte er den jungen Studenten hinter dem Laufband böse an. Hanna drapierte ihren roten Lippenstift darauf und übergab dem armen Kerlchen das geschuldete Geld. Zuckersüß bedankte sie sich bei dem Schmierlappen und verließ den Markt, das Gebrummel der anderen anstehenden Leute verfolgte sie.
Wie schön es war, eine hübsche Frau zu sein! In Windeseile wickelte sie Männer um den Finger.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartete ein armeegrüner Jeep auf sie, der vor Dreck stand. Hanna stieg hinten ein.
„Bekamst du das Notwendige?“, fragte der dunkelhaarige Fahrer.
„Du kennst mich, äh, wie lange?“, entgegnete Hanna.
Im Rückspiegel erhaschte sie einen Blick auf den Beifahrer. Er grinste amüsiert.
„Außer den Handelsgütern unseres täglichen Bedarfes, ersteigerte ich zwei Uhren, ein Damenarmband, Fingerring, vier Kreditkarten, fünf Girokonto-Karten und 9.250 Pesos“, zählte Hanna auf, nicht ohne eine sarkastische Bemerkung abzugeben, „puh, die Leute nehmen immer weniger Kohle zum Einkaufen mit. Liegt wohl an den verbreiteten Kartenzahlungssystemen. Das Bargeld stirbt aus. Schade!“
Der heitere Beifahrer mit fettem Schnauzbart warf nun einen Blick auf die Rückbank und zwinkerte.
„Hast du exzellent gemacht, Schwesterchen!“
Stolz lehnte sich Hanna zurück. Wenigstens der Antonio lobte sie.
Die beiden Menschen in diesem Auto, welche vorn saßen, waren ihr die wichtigsten auf der Welt. Ihre Brüder. Dass sie einer Familie angehörten, merkte man. Alle drei sahen einander ähnlich, trotz des großen Altersunterschieds.
Im zarten Alter von jungen 14 Jahren hatte ihre Mum José geboren. Er, inzwischen 38, war der Älteste der Bande. Das mittlere, mit 35 ebenfalls erwachsene Kind, Antonio, hatte die Frau drei Jahre später bekommen.
Exotin Hanna hatte erst viele Jahre später das Licht der Welt erblickt, als ein unerwarteter, nicht minder geliebter Unfall. Gottlob stammten sie alle vom gleichen Vater!
Früher hatte die Familie in Monterrey gewohnt. Drogendealer hatten Hannas Vater bei einer Schießerei ermordet. Das stimmte nicht ganz. Um es genau zu nehmen, war er bei der Schießerei zwischen Dealern und der Polizei ins Kreuzfeuer geraten. Der stolze Papa von bald drei wunderbaren Kindern hatte an jenem Tag lediglich Zigaretten besorgen wollen. Ein Klassiker. Auf dem Rückweg hatte ihn der Querschläger getroffen. Hannas Vater war gestorben, bevor die Ambulanz das Krankenhaus erreicht hatte. Traurig, aber wahr.
Niemand hatte sich um den Tod eines Latinos geschert. Die älteren Brüder hatten die trauernde, schwangere Witwe mit geistigem Beistand und physischem Geld versorgen müssen. Obwohl die Familienbande zusammengehalten hatte, hatte all die Liebe sie nicht abgehalten, mit dem Trinken anzufangen. Zum Glück, oder Dank Gottes Gnade, hatte ihr ungeborenes Baby die täglichen Saufgelage heil überstanden.
Selbst bei ihrer Geburt hatte Hannas Mutter alkoholisiert im Kreissaal gelegen. Kurze Zeit war sie drogenabhängig geworden, hatte sogar bei der Gruppe einkauft, die ihren Mann auf dem Gewissen hatte.
Und dadurch hatte sie dem Säugling ein angemessenes Umfeld verwehrt.
Eines Tages hatte José den jüngeren Antonio samt dem Baby geschnappt. Gemeinsam waren sie abgehauen.
Diverse Entzüge ihrer Mum waren seitdem gescheitert, außerdem saß sie wegen Prostitution und Drogenbesitzes im Knast.
Von einer Stadt Mexikos in die nächste waren die Geschwister gezogen. Nun, und Äpfel fielen bekanntlich nicht weit vom Stamm. Die einzige Möglichkeit des Überlebens von Sprösslingen aus ärmlichen Familienverhältnissen versprach der Einstieg in die Kriminalität. Häufig war es so. Anfänglich hatte Waffenschiebung ihrer Einkommensquelle gedient. In der Zeit hatte Hanna jeden Morgen und Abend zu Gott gebetet, dass ihre „Hermanos“ sicher des Nachts nach Hause kamen. Bisher hatte Dios ihre Gebete erhöht. Gleichwohl war ein ungutes Gefühl stets präsent geblieben. Im Zuge eines jeden Gebetes sinnierte Hanna darüber, wie lange der himmlische Vater ihre Bitten noch erfüllen würde. Schließlich war sie kein guter Mensch. Noch nie gewesen. In ihren Augen grenzte es beinahe an ein Wunder, dass Gott sie überhaupt anhörte und nicht verstieß. Gern wäre sie unschuldig und rein, doch die Umstände hatten ihr ein ehrliches Leben verwehrt, taten es weiterhin.
Hanna besaß keinerlei Schulbildung. Sicherlich hatte sie an jedem neuen Wohnort Schulen besucht, das Absitzen des Unterrichts diente jedoch der Tarnung.
Normalität. Nicht auffallen.
Junge Mädchen gingen zum Unterricht. Basta.
Ebenfalls ihre Brüder konnten weder Bildungsweg noch Ausbildung vorweisen.
Damals hatte die Devise gelautet: Arbeit suchen, Kohle verdienen, nicht erst jahrelang lernen.
Die Gelegenheitsjobs ihrer Brüder, meist auf dem Bau, oder einfache Handwerkstätigkeiten, hatten ihnen das Alibi einer gewöhnlichen Familiengemeinschaft verschafft.
Normalität. Nicht auffallen.
José lenkte den Wagen auf einen eingezäunten Parkplatz, angeschlossen an ein kleines, schäbiges Haus. Außen war die weiße Farbe verblichen, sie nahm einen Gelbstich an. Ein vertrockneter Rasen mit verwelkten Blumen eignete bestenfalls dazu, ungebetene Gäste abzuschrecken. Regelmäßige Umzüge vorheriger Besitzer hatten Spuren bei der Inneneinrichtung hinterlassen. Der Putz war von den Wänden abgebröckelt. Intime, liebevolle Noten, zum Beispiel durch Dekor, Planzen, Bilder, alternativ Fotos, fehlten. Die Räume des Hauses wirkten allenfalls praktisch.
Je weniger Hannas kleine Familie besaß, desto schneller konnten sie flüchten, desto weniger „Fußabdrücke“ verursachten sie. Von der örtlichen Justiz längst unter Beobachtung, vermieden die Brüder Konfrontationen mit Behörden bestmöglich. Oft schickten sie die bis dato unbefleckte Hanna für Dienstgänge mit gefälschten Papieren ins Rennen. Trotz ihrer sich ständig verändernden Identitäten hatten die erfolgreichen Waffengeschäfte mit kriminellen Verbänden José und Antonio polizeilich bekannt gemacht. Sämtliche Verbrecherorganisationen kannten ihre Gesichter. Hanna und ihre Brüder lebten gefährlich, mussten sich deshalb konsequent nach Verfolgern umschauen.
Ein Grund mehr, sich vorzubereiten.
Sobald die Schule endete, begann der eigentliche Unterricht.
Quer durch Mexiko hatten die Erwachsenen ihre kleine Schwester zu verschiedenen Selbstverteidigungskursen geschleppt. Hanna trainierte Boxen und Teakwondo, übte Angriffstechniken, hatte Schießen mit diversen Handfeuerwaffen gelernt. Ab dem Alter von 14 Jahren und dank eines gefälschten Passes fuhr Hanna bereits Auto. Aus Büchern, Computerkursen und „Learning by Doing“ hatte sie sich das Hacken verschiedener Computersysteme beigebracht und ihren kriminellen Vorbildern so manchen Zugriff auf Systeme der regionalen Polizei, der Post, dem Standesamt und Zeitungen gewährt. Das Trio war imstande, Einsatzplänen und Routen zu verfolgen, Verbrecherkarteien durchzustöbern, Papiere zu fälschen, Post und Paketsendungen abzufangen, Zeitungsartikel für ihre Recherche zu nutzen.
Aufgrund der gesammelten Informationen vereinbarten José und Antonio ihre Deals. Wo sie nur konnte, unterstützte Hanna ihre Hermanos. Denn sie liebte ihre Brüder!
Das langfristige Ziel bestand im Anschaffen genügenden Vermögens. Erreichten sie es, würden sie die kriminellen Machenschaften beenden und an einem schönen Ort ein neues, rechtschaffenes Leben beginnen. Spätestens dann erwog Hanna, eine vorbildliche Bürgerin zu sein. Ihr größter Traum bestand darin, ein eigenes Café zu gründen. Nichts brächte ihr mehr Freude, als Kaffeespezialitäten, leckere Heißgetränke, Sandwiches und eigens ausgedachte Kuchenkreationen zu servieren. Diese Vorstellung teilte die kleine Schwester mit ihren großen Brüdern. Zusammen hatten sie so manche Luftschlösser errichtet und Fantasien eines gemeinsamen Familienunternehmens entwickelt.
Glücklich schwelgte Hanna in diesen Gedanken. Sie trieben die junge Frau an.
An schlechten Tagen baute sie Stress am Schießstand ab. Zunächst für Verteidigungszwecke unabdingbar, war eine Leidenschaft für den Schießsport in Hanna herangereift. Sooft sie Zeit fand, verweilte das Mädchen dort, mit allerhand Schusswaffen. Inzwischen gab sie eine ausgezeichnete Schützin ab.
So war ihr Dasein verlaufen. Nach außen hin mimte sie das gewöhnliche Mädchen aus der Nachbarschaft. Im Inneren wäre sie das gern gewesen.
Hanna verstaute ihre geklauten Waren, den Weichspüler, diverse Kosmetika, Drogerieartikel und zahlreiche Lebensmittel in den dafür vorgesehenen Schränken. Je mehr sie wegpackte, desto heftiger erschrak sie. Heute übertraf sie sich selbst. Wie war sie bloß unbemerkt davongekommen? War der randvoll gefüllte Shopper denn gar keiner Seele aufgefallen?
Am Abend kochte Hanna. Früh hatte sie das ursprüngliche Frauenmetier kennen und zu meistern gelernt, ihre Brüder hatten grundsätzlich immer Hunger. Aus den Lebensmitteln zauberte sie Albóndigas, Fleischkugeln in Tomatensoße. Typisch, ganz nach Klischee, aß die Familie bevorzugt scharf.
Deshalb heizte Hanna ihrem Gericht mit kleinen, brandgefährlichen Jalapeños ordentlich ein. Jede gebotene Gelegenheit nutzten die Geschwister, um vereint am Tisch zu speisen. Abwechselnd sprachen sie ein Tischgebet, dankten für Speis und Trank, erfreuten sich an einem weiteren Abend im Kreis der Familie.
Am Sonntagmorgen erwachten Hanna, José und Antonio zeitig. Unabhängig von ihrer Art, Kohle zu scheffeln, waren sie gläubig aufgewachsen. Sonntags besuchten sie Messen in der katholischen Kirche. Stets achteten sie darauf, sämtliche Gemeindemitglieder, inklusive des Pfarrers, höflich zu begrüßen, aber sich niemals in ein tieferes Gespräch verwickeln zu lassen.
Ansonsten verlief auch dieses Wochenende harmonisch. Hanna bereitete ihr Lieblingsessen zu, Tacos mit Hähnchen und Bohnenfüllung. Im Anschluss feierten sie den Ruhetag mit Nichtstun.
Montag. Eine neue Woche begann.
Gelangweilt besuchte Hanna den öden Schulunterricht, während José und Antonio ihren Tätigkeiten nachgingen. Auf dem Programm stand heute Waffen ankaufen. Hannas Brüder nahmen die Straße nach La Estancia, einem winzigen Dorf mit ungefähr 157 Einwohnern. Abgeschieden von San Marcos und wenig befahren, eignete der Platz perfekt für einen Handel. Hier wollten sie den Anführer einer bekannten Gang treffen, wessen Namen sie ihrer kleinen Schwester selbst unter Bitten und Betteln nicht verrieten. Angeblich zu ihrem Schutz. Als ob das noch einen Unterschied machte!
Den gewinnbringenden Weiterverkauf plante das Gespann für den gleichen Abend. Ginge der Deal erst vollständig über die Bühne, würde die Familie einen großen Schritt Richtung Zukunft setzen. Die angesetzte Marge war ordentlich. Längst im Voraus hatte Hanna die Patrouillen der Policía Federal überprüft. Wieder und wieder. Die Transaktion am Morgen musste innerhalb von 10 Minuten abgeschlossen werden. Von San Marcos bis La Estancia benötigte Bleifuß José circa 15 Minuten, insgesamt eine halbe Stunde hin und zurück. Erschienen die Verhandlungspartner pünktlich 09:00 Uhr, sollten die Gangster, wenn alles glatt verliefe, laut Hannas Plan zu Hause bereits ihren Kaffee schlürfen, bevor die nächste Streife die Bundesstraße entlang patrouillierte.
Heimlich warf die Latina einen Blick auf die Uhr ihres unter einem Stapel vollgeschriebener Heftblätter verstecken Smartphones. Verbunden mit den Städtewechseln und Umzügen, schafften sich die Geschwister andauernd neue Handys an. Hinzukommend führten sie ein festes Girokonto, natürlich unter falschen Namen. José achtete darauf, das nötigste Guthaben einzuzahlen, damit Nebenkosten und notwendige Rechnungen von Zahlungspartnern, welche eine Kontonummer verlangten, beglichen wurden. Stromkosten fielen unter anderem darunter. Hier lautete die Devise ebenfalls: normal und unauffällig. Gute Bürger bezahlten ihre Rechnungen.
Aber ihr eigentliches Vermögen transportierten sie in Form von Bargeld von einem Ort zum nächsten. Erstens mussten bestimmte liquide Mittel für Geschäfte schnell zur Verfügung stehen. Ohne Rückfragen eines neugierigen Bankberaters. Außerdem meinte José, er könnte erholsamer schlafen, läge das Geld sicher verwahrt bei ihnen vor Ort. Unter ihren Kopfkissen.
Hanna schmunzelte wegen des Gedankens, oder eher aufgrund ihres Kopfkinos. Obwohl José das Gegenteil behauptete, war Hanna sicher, ihre Brüder versteckten auf einer ihr unbekannten Bank ein weiteres Konto, von dem sie bislang keine Kenntnis erlangt hatte. Ihr ältester Bruder ging immer auf Nummer sicher. Bargeld durch die Gegend schleifen barg Risiken, genauso, wie es unter dem Kopfkissen zu bunkern. Oder im Sparstrumpf.
Abermals lächelte sie. Witzige Vorstellung!
Aber deshalb glaubte sie an die Existenz eines Schließfachs, eines unbewegten Bankkontos oder sonstigen Vermögensanlagen. Wertpapierdepots zum Beispiel.
Der ungewöhnlich hohe Bargeldbestand erforderte eine umso detailliertere plus primär eine fehlerfreie Vorarbeit. Hielten Polizisten ihren Wagen auf dem Weg zu einer Übergabe je an, im Zuge einer zufälligen Kontrolle zum Beispiel, wären sie geliefert. Tausende US-Dollar, plus knapp zwei Millionen mexikanische Pesos, erklärten sich nicht so einfach.
Darum …
„Bitte, lieber Gott!“, betete sie im Geist.
Ihr Lehrer, ein strenger Mann mit Halbglatze, nach Fett stinkenden Klamotten, warf ihr einen grimmigen Blick zu. Er ertappte sie dabei, wie sie auf ihr Smartphone starrte. Mobiltelefone waren verboten. Glücklicherweise wusste Hanna mit ihm umzugehen. Flüchtig öffnete sie den obersten Knopf ihrer Bluse, einem Teil der verpflichtenden Schuluniform und gewährte ihm einen Blick auf ihr Dekolleté. Frappiert drehte sich der verheiratete Mann wieder zur Tafel. Hanna war froh, nächstes Jahr ihren 18. Geburtstag zu feiern. Das bedeutete, sie käme aus dem schulpflichtigen Alter raus. Keine Klassenzimmer mehr!
Der Uhrzeiger wechselte auf 09:26 Uhr und ihr Bildschirm leuchtete auf. Eine Mitteilung erschien. „Paket kam an. Inhalt passt. Keine Lieferschwierigkeiten.“
Erleichtert atmete Hanna aus. Vorsicht gebot das Schreiben digitaler Nachrichten. Ein nichts-sagender Text eignete sich am besten für den Fall, jemand finge ihre Botschaft ab. Befreit, weil offenkundig die Übergabe glattgelaufen war, widmete Hanna ihre Aufmerksamkeit der Geologie.
Den Weiterverkauf der Waffen planten die Geschwister für 20:30 Uhr in der Gegenrichtung, dem Dörfchen Las Vigas. Dunkelheit hatte sich stets als ihr treuster Begleiter herausgestellt.
Bis zum Ortsausgang der 4500 Einwohner Gemeinde benötigten sie 25 Minuten Fahrzeit. Daher aßen sie um 19:00 Uhr Abendbrot. Hanna sprach das Tischgebet. Als sie hinterher unter die Dusche glitt, breitete sich ein merkwürdiges Gefühl in ihrem Bauch aus.
Seltsam. Ihre innere Stimme, ihre weibliche Intuition, versuchte Hanna etwas mitzuteilen. Je mehr Zeit verstrich, desto stärker fühlte sie die negative Empfindung. Den Körper mit einem Handtuch umschlungen, stürmte Hanna in Antonios Schlafzimmer. Er ruhte neben einem Schrank voller in Eigengebrauch genutzter Handfeuerwaffen. Aktuell bereitete ihr Bruder seine Ausrüstung vor.
„Nehmt mich mit!“, bestimmte Hanna.
„Keine Chance, mi amor!“, verwarf José, der sich eben an ihr vorbei ins Zimmer quetschte, ihr Anliegen sofort.
Keinesfalls gab sie so schnell klein bei!
„Hermano, das war keine Bitte! Heute begleite ich euch!“ - „Von mir ebenso wenig, du wartest, wie immer!“, befahl José.
„Hör auf unseren furchtlosen Anführer!“, mischte sich Antonio ein „Zuhause bleiben garantiert für deine Sicherheit.“ - „Nicht, wenn ihr beim Deal draufgeht!“, intervenierte Hanna.
Die Männer lachten. Offenbar hielten sie sich für unbesiegbar!
„José, ich bin eine ausgezeichnete Schützin!“, erinnerte sie ihn.
Den älteren überzeugte sie mit dieser Argumentation wenig. Also änderte sie ihre Strategie.
„Leute, ob ich daheim ausharre, oder im Auto ist egal. Bin ich allerdings dabei, habt ihr notfalls größere Feuerkraft!“
Leiser fügte sie noch hinzu: „Wenn wir übrigens sterben, dann gemeinsam!“
Kummer lag in ihren Worten.
Zumindest Antonio blickte seine Schwester voller Stolz an, derweil blieb José stur.
„Heute stirbst du nicht!“ - „In dem Fall sterbt ihr auch nicht!“
Sturheit lag den Geschwistern in den Genen, eben die demonstrierte das Mädchen.
„Ich vertraue auf den Herrn!“, sprach sie, „wir sind una Familia! Er wird uns zusammen holen, oder gar nicht. Falls heute der Tag ist, dann für alle von uns!“
Plötzlich lachte José, Antonio stimmte ein.
„Wem verdankst du nur deinen störrischen Kopf?“
Zwinkernd erwiderte sie: „Nun, Hermano, ich lebe mit zwei mexikanischen Eseln zusammen!“
20:05 Uhr. Abfahrtszeit.
José bestand darauf, Hanna wenigstens in eine kugelsichere Weste zu stecken. Punktgenau erreichten sie Las Vigas. Ihr Wagen bog in eine schmale Straße, welche in einer Sackgasse endete. Männer in schwarzen Anzügen erwarteten das Trio. Natürlich bekam Hanna keine Namen genannt.
Letztlich spielte das für sie keine Rolle. Als Erster stieg José aus dem Wagen.
„Falls etwas schiefläuft, nimmst du den Jeep und haust ab!“, befahl Antonio seiner Schwester, die sich auf dem Rücksitz klein machte.
„Ich lasse euch sicherlich nicht im Stich!“, debattierte sie.
„Amor, das ist eine strikte Anweisung! Deinem Hermano da draußen versprach ich, dass du ihr Folge leistest! Sonst hätte er dich zurückgelassen, auch wenn er dir etwas anderes sagte!“
Ohne ihre weiteren Kommentare abzuwarten, folgte der Antonio José.
Gebannt beobachtete Hanna die nächsten Vorgänge. Solche Szenen kannte sie bisher nur aus Filmen oder den Erzählungen ihrer Brüder, welche fabelhaft authentische Gangster abgaben. Der Ältere verhandelte, er konnte pfiffig mit Worten umgehen. Antonio, der Mann fürs Grobe, besaß die stämmige Figur eines Wrestlers, der seine Gegenüber allein aufgrund seiner Optik einschüchterte. Beide trugen Jeans, Stiefel und schusssichere Westen über den schwarzen Hemden.
Gerade als die einzelnen Parteien das Geschäft besiegelten, Waffen für Geld tauschten, erfüllte sich Hannas schlechte Vorahnung. Sie hörte die rotierenden Propeller eines Hubschraubers zur selben Zeit, als ein Mann der gegnerischen Bande seine Waffe zückte und auf deren Anführer richtete.
„Maldita!“, fluchte Hanna, „ein Bulle!“
Da sie mit der Gruppe nichts zu schaffen, nebstdem die Prämie bereits kassiert hatten, rannten José und Antonio samt Geldtasche zum Auto.
Flugs sprang Hanna nach vorn, drehte den Schlüssel im Zündschloss und startete den Jeep. Sobald sie erkannt hatte, dass der verdeckte Ermittler mit dem Boss im Schwitzkasten auf ihre flüchtenden Brüder schießen wollte, löschte Hanna das Scheinwerferlicht. Dank dieser Reaktion fiel dem Kerl das Zielen schwer. Zwar feuerte er, traf aber glücklicherweise nur Antonios Körperschutz. Gleich darauf hielt der Cop die Pistole an den Schädel seines lebenden Schutzschildes. Ansonsten hätten ihn die anderen Schurken erwischt, oder er hätte ihnen die Möglichkeit gegen, Waffen zu zücken. Dem Umstand, dass der Bulle sein Ziel verlagert hatte, verdankten die Pérez Brüder ihre Flucht. Hastig stiegen sie in den Jeep, den Hanna geschmeidig gegenlenkte. Daraufhin drückte sie ordentlich auf das Gaspedal und raste die Sackgasse entlang zurück. Keinen Moment zu früh, wie sich herausstellte.
Schleunigst hasteten die Flüchtigen auf die befahrbare Querstraße. Eine Kolonne Polizeiautos raste auf sie zu, gefolgt von dem Helikopter.
Hanna nutzte den Überraschungsmoment und siebte durch die Reihen hindurch. Einige der Wagen drehten um und verfolgten sie. Die übrigen kehrten in die Sackgasse ein, um die Bande dingfest zu machen.
„Danke, Schwester! Du hast uns rausgeholt!“
Ausnahmsweise stammten die lobenden Worte aus dem Munde ihres ältesten Bruders José.
„Bedank dich nicht zu früh, noch kamen wir nicht davon!“, keuchte Hanna, die vor Anspannung fast nicht atmen konnte.
„Nimm das Lob an, Amor“, pflichtete Antonio bei „Ohne deine Reaktion, hätte die Kugel einen von uns vielleicht am getroffen! Außerdem hätten wir nicht schnell genug aus der Gasse flüchten können!“
Hanna nickte lächelnd, wenngleich es ihr Mühe bereitete, das Auto unter geordneter Kontrolle zu halten. Im Rückspiegel erkannte sie die Kavallerie anrücken. Schlagartig kam ihr eine Idee. Der Jeep taugte für Straßenrennen wenig, aber die Autos der Beamten versagten im Gelände. Aus der Stadt raus, führte Hanna ihren Allrad auf offenes Terrain. Kontinuierlich gab sie Gas, navigierte den SUV bestmöglich über den steinigen, naturbelassenen Grund.
Bald bemerkte sie, dass die Policía zurückfiel.
„Ja!“, brüllte José, „weiter, Kleine!“
An der Wirbelsäule lief Hanna der Schweiß runter. Perlen standen auf ihrer Stirn. Absichtlich passierte sie einen besonders tiefen Hügel samt matschigen Boden. Hanna entdeckte die Schlammgrube im Voraus, wich den aufgewühltesten Stellen aus. Als die Verfolger blindlings hineinfuhren, blieben sie in der vom Regen der letzten Tage aufgeweichten Erde stecken.
„Sensationell!“, riefen José und Antonio gleichzeitig. Sie klebten förmlich an den Scheiben.
Erleichtert atmete Hanna aus.
„Wir müssen die Nummernschilder wechseln!“, erklärte José, „wenn nur einer der Bullen Grips im Kopf hat, jagen die unser Kennzeichen durch die Datenbank.“ - „Das Kennzeichen lautet aber auf falsche Namen“, warf Hanna ein.
„Richtig“, erläuterte Antonio, „dennoch wird die Bundespolizei die Grenzen überwachen. Möglicherweise verfolgen die ihn auch zu unserem Haus zurück!“ - „Ist es nicht sinnvoller, einen neuen Wagen zu besorgen?“, fragte Hanna dazwischen.
„Möglicherweise“, überlegte José laut, „doch zum Kaufen fehlt uns die Zeit. „Ein geklautes Teil wird als vermisst gemeldet. Keine gute Idee! Darüberhinaus sollten wir das Haus so schnellstmöglich verlassen und abhauen!“
Nach Erreichen San Marcos schaltete Hanna das Licht des Jeeps aus. Zwei Straßen von ihrer Behausung entfernt parkten sie. Wahrlich hatten zahlreiche Engel die Familie beschützt. Im schlimmsten Fall hätte der Hubschrauber wenden können. Der Verfolgung aus der Luft wären sie nicht dermaßen leicht entgangen. Die gegnerische Gangsterbande schien für die Cops interessanter gewesen zu sein. Dachte Hanna zumindest.
Beim Haus angelangt, verloren die Geschwister keine Zeit.
Ihr nötigstes Hab und Gut sowie die Kohle packten sie in Minutenschnelle zusammen. Alle drei hetzten nach draußen. Ihr nächstes Ziel sah den Kurzschluss eines neuen fahrbaren Untersatzes vor. Auch wenn es nicht die grandioseste Idee war und Risiken einbrachte. Aber sie würden hinterher die weiteren Schritte planen.
Hätte, könnte, Pustekuchen.
Anstelle einer neuen Fluchtmöglichkeit wurde die Pérez Familie von einem Aufgebot Gesetzeshüter erwartet.
Schon eine Woche war vergangen und keiner der verbliebenen Steine hatte sich geregt. Shanti bemerkte Jessicas wachsende Unruhe. Die Hexe ähnelte einem Vulkan. Peu à peu speicherte sie Energie, bis die Eruption bevorstünde.
Gemessen an Jessis Laune kam diese eher früher als später. Trotzdem erachtete Shanti die zurückliegende Zeit für besonders schön. Ihr Zwilling Nica hatte so lange gebettelt, bis die Hexe nachgab und die Schattenelfe endlich ihren heiß begehrten Zumba Kurs besuchen durfte. Tanzen lag ihr wirklich im Blut. Täglich marschierte Nica ins Fitnesscenter der Shopping-Mall.
Mit von der Partie, Gute-Laune-Bringerin Maelle. Der Prinzessin taten es besonders die Laufbänder an. Nach anfänglichem Zögern und Zaudern, trieben die Mädchen gemeinsam Sport, selbst Yelina, die schüchterne Lichtelfe. Maelle, eine Frohnatur vor dem Herrn, begeisterte sie mit ihrem heiteren Gemüt. Selbst Jessica taute auf. Manchmal.
Auch Yelina versuchte Zumba beizuwohnen. Weil sie sich ungeschickt anstellte, unterstützte Naturtalent Nica sie bei den Schrittfolgen. Die beiden Elfen freundeten sich zunehmend an.
Was Shanti anging, so probierte die Waldelfe diverse Fitnesskurse, trainierte im Gerätebereich, wechselte gelegentlich von Hanteln zu Cardio.
Angrenzend an die Work-outs, genossen die jungen Frauen den Luxus des Four Season Hotels. Den Wellnessbereich wollten sie gar nicht mehr verlassen. Sogar Jessica entspannte. Manchmal.
Trotz des fabelhaft frischen Essens im Hotel, bevorzugten sowohl die Priesterinnen als auch die Elementkriegerin, McDonalds, oder ähnliche Erzeugnisse. Nicht immer schafften sie, Jessi zu überreden, da ihr Pommes und Burger buchstäblich aus dem Hals hingen, wie sie sagte. Oftmals ließ die Hexe sich aber umstimmen.
Maelle fand ihre neue Leibspeise in frittierten Kartoffelstäbchen mit undefinierbarem Fleisch zwischen matschigen Brötchenhälften.
Vielleicht lag das Unwohlsein der furchtlosen Anführerin darin begründet, dass sie am Montag vor einer Woche normalerweise längst hätte arbeiten gehen müssen. Sie erklärte den Mädchen, die meisten Menschen auf Erden gingen einem geregelten Job nach. Jessica hatte einen Aufschub erwirkt, indem sie spontan Urlaub einreichte. Heute begann offenbar eine neue Woche für Arbeitnehmer und Jessi erdachte als Ausrede für Ihre weitere Abwesenheit einen Notfall in der Familie. Mit den Nerven am Ende lag sie nun auf ihrem Bett. „Wie soll es nur weitergehen?“, brabbelte sie vor sich her.
Regelmässig versammelten sich die Kriegerinnen abends zum gemeinsamen Fernsehen in einem Zimmer. Im TV lief eine amerikanische Krimiserie.
Super spannend. Shanti kannte so etwas nicht. Gefesselt hing sie an der Mattscheibe. Derweil klebte Chuck an der Decke. Leider waren er und Pan sich gar nicht grün. Auf Shantis Schoß schlief der eingerollte Kater friedlich.
Käme Chuck auf den Boden, würde er die Raubkatze in ihm wecken. Daher, lieber nichts riskieren! „Auf die Hexe ist kein Verlass! Die liegt halb tot auf der Matratze! Ts!“, brabbelte er.
Auf einmal erwachte in Shanti ein bis dato unbekannter Instinkt. Ihr vierbeiniger Freund spürte ihren inneren Aufruhr. Er hob die Schnauze, sah sie wachsam an. Shanti wuchtete ihren pelzigen Kumpel auf den Boden und schritt zum runden Tisch. Ihre Härchen stellten sich auf. Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter.
Das Gefühl entsprach dem Yelinas vor einer Woche, dessen war sich Shanti sicher.
Ihre Kameradinnen beachteten sie zunächst nicht. Jessica begutachtete die Decke, Chuck den Boden.
Regungslos starrte Shanti den Smaragd ein Weilchen an.
Währenddessen diskutierten die restlichen Mädchen, wer als Täter des aktuellen Mordfalls infrage käme.
Der armen Jessi entwich ein leidendes Stöhnen.
Als Shanti genug vom Warten hatte, unbedingt die Serie verfolgen wollte, sie sich umdrehte, tauchte der Smaragd das Zimmer in leuchtendes Grün.
Rapide erwachte die Hexe aus ihrem Koma und fuhr hoch.
Die Kriegerinnen schauten neugierig.
Im selben Augenblick setzte Shantis Herzschlag aus. Im nächsten sauste der Smaragd durch die Fensterscheibe gegenüber dem Tisch.
Das war mal ein Abgang gewesen! Mit Stil!
Ermutigt hüpfte Jessi vom Bett, eine hervorragende Laune im Gepäck, und klopfte einer erstaunt gaffenden Shanti auf die Schulter.
„Also Indianerin“, sang die Hexe freudestrahlend, „fang an, Spuren zu lesen!“
Das geschah nicht wirklich? Hanna träumte doch! Nicht im Ernst umringte eine Schar Polizisten ihr Haus? Oder doch?
Hektisch sah sie sich in alle Richtungen um. In der Tat handelte es sich nicht um gewöhnlichen Straßenbullen der örtlichen Polizei, sondern vielmehr kreischten Beamte des FBI, die Brüder sollen sich gefälligst ergeben. Im Halbkreis verbarrikadierten sie die Liegenschaft, gekleidet in voller Kampfmontur, die automatischen Schusswaffen angelegt.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, panisch suchte Hanna eine Fluchtmöglichkeit. So wie sie es sah, war ein Entkommen unmöglich.
Ein bulliger Mittvierziger, scheinbar der ranghöchste Offizier, brüllte: „Das Gebäude ist umstellt. Legen Sie die Hände über den Kopf und keine Dummheiten!“
Hanna hoffte auf ein Wunder. José würde eine Lösung finden!
Oder auch nicht.
Anstelle einer Auflehnung ließ er sein Gepäck sinken. Seiner nach, tat es Antonio. Schlagartig blieb Hanna die Luft weg.
Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein!
Die Agenten des Federal Bureau of Investigation verloren keine Zeit. Mit entsicherten Waffen überbrückten sie die Distanz, rissen die Brüder zunächst zu Boden, durchsuchten sie anschließend nach gefährlichen Gegenständen, legten angrenzend Handschellen an, hoben sie unsanft wieder auf, stießen die Gefangenen schließlich grob Richtung Einsatzfahrzeuge. Daraufhin schlenderte der Chief auf Hanna zu.
Als er an José vorbeischlenderte, bat der älteste Bruder flehentlich: „Unsere Schwester ist fast noch ein Kind, ein braves Mädchen! Sie befolgte lediglich unsere Anweisungen! Sie weiß nichts, hat auch nie etwas Schlimmes getan! Bitte, lassen Sie die Kleine gehen!“ - „Das wird sich noch zeigen!“, erklärte der Chief bestimmt.
Egal, wie sehr José tobte, sich gegen seine Wärter wehrte, er wurde festgehalten. Todernst im Gesicht blieb der Bulle vor Hanna stehen, schaute ihr streng in die Augen. Tränen rannen über das schöne Latina Gesicht. Eiskalt und völlig berechnend redete der Mann Hanna an: „Bist du ein liebes oder ein böses Mädchen?“
Indes versuchte sich Antonio loszureißen.
„Hanna!“, schrie er, doch sie beachtete ihn nicht.
Entweder sie erfüllten gemeinsam ihren Traum, oder starben vereint. Sie waren doch eine Familie! Der liebe Gott würde sie zusammen holen, oder gar nicht.
Samt einer tonlosen Stimme erwiderte Hanna: „Er beschützt mich bloß. Mein Hermano weiß, dass ich gut sein möchte. Unbedingt. Aber ich bin es nicht. Noch nicht.“
Grinsend, weil er die Antwort kannte, sie jedoch nicht aus ihrem Munde vermutete, nickte der Agent.
„Abführen!“, befehligte er seinen Gefolgsleuten.
„Hanna, nein! Fasst sie nicht an!“, keiften ihre Brüder beide.
Hanna schloss die Augen. Im schlimmsten Moment ihrer gesamten Existenz stellte sie sich ihren schönsten Traum vor. Fernab der Realität badete sie in der Illusion eines eigenen Cafés. Vielleicht in den Staaten? Auf keinen Fall in Mexico! Sie träumte, wie José mit Geschäftspartnern über die Idee eines möglichen Franchise Unternehmens debattierte. Währenddessen mimte Antonio den Türsteher. Hanna würde die Gäste mit mexikanischen Spezialitäten und selbst ausgedachten Eigenkreationen bedienen. Der Duft frischen Kaffees lag in der Luft. Fast roch sie ihn. Nein, sie roch ihn wahrhaftig. So stark malte sie sich das Trugbild aus. So sehr wünschte sie es sich.
Abrupt schwenkte der Gedanke zu einer vergangenen Erinnerung. Darin steckte sie im Körper der sechsjährigen Hanna. Ihre Brüder und sie spazierten entlang eines Wanderweges, picknickten später auf einer Wiese. Das Mädchen roch den frischen Duft des vom letzten Regen feuchten Grases, pflückte bunte Feldblumen, schenkte ihren Hermanos je einen eigenen Strauß. Tief in ihrem Herzen wusste Hanna, dass José und Antonio ebenfalls das Bedürfnis nach einer ehrlichen Existenz verspürten.
Bitterlich schluchzte sie. Im Hier und Jetzt.
Die Festnahme bedeutete für die Erwachsenen eine Haftstrafe von mindestens lebenslänglich. Verging ihr Lebenstraum auf eine derart schändliche Weise? Der sengende Wunsch eines anständigen Lebens brannte sich in Hannas Geist.
Sie riss die Augen auf. Zwei uniformierte Männer packten Hanna grob an den Armen. Ihre Brüder tobten. In der Ferne erkannte Hanna ein grünes Licht.
Ein klitzekleiner grüner Meteorit flog auf Hanna zu, passierte im Sekundenbruchteil die Masse an Beamten. Wie eine Pistolenkugel schoss er durch Hannas Körper. Die Polizisten hielten inne.
Der Chief wandte sich an seine Kameraden. „Was ist los?“, fragte er.
„Äh“, antwortet einer der Männer zögerlich.
„Ich glaube, das Mädchen wurde gerade erschossen!“
Ungläubig runzelte der Boss die Stirn. Er diktierte weiterführende Anweisungen, inzwischen gelangten die Transporteure mit den Brüdern im Schlepptau bei den fahrbaren Untersätzen an. Der, der Hanna packte, hielt ihren Arm fortlaufend fest, machte Anstalten, sie abzuführen.
Sie hörte weder ihn noch seine Instruktionen. Dafür hallte eine seltsame Klangfarbe in ihrem Ohr. Woher stammten die Laute?
Ein Satz spukte ihr im Kopf herum. Kontinuierlich. Leider verstand sie seine Bedeutung nicht, obgleich sie spürte, dass er wichtig war.
Mit all ihrem Verlangen nach einer erfüllten Zukunft sprach sie die Worte, welche in ihrem Geist nach Aufmerksamkeit rangen: „La Potenza da Terra, ascoltami! Gewalt der Erde, wohne mir bei!“
Ranken schossen aus dem Erdboden. Echte, authentische Ranken.
Die Blattgeißeln ließen die Uniformierten taumeln, peitschten sie, bis sie am Boden aufschlugen. Der Beamten kurzzeitig entledigt, schlangen die dicken Gewächse ihre hölzernen Arme um Hanna, entledigten sich ihrer Kleidung, verbanden sich mit ihrem Körper und Geist. Hannas Haare wuchsen, nahmen die Farbe frischen Flieders an, ihre Augen die von Gras. Zierliche Äste bedeckten ihre Nacktheit, fragile Blätter und leuchtendes Moos verhüllten die Blöße. An ihrem linken Ohr trug sie eine Kreole, gebildet aus Smaragd. In dieser sternenklaren Nacht erwählte Element Erde seine Elementkriegerin.
Entsetzt starrten die Beamten das Wesen an.
„Ein Ungeheuer!“, schrie der vermutlich jüngste.
„Feuer! Schießt es nieder!“, brüllte der Anführer.
Einheitlich richtete seine Gefolgschaft die Sturmgewehre auf Hanna. Sekündlich eröffneten sie den Kugelhagel. José und Antonio zerrten an den Ketten. Wie auch die Behörde, erfassten sie nicht, was zum Geier geschah. Durch ein unsichtbares Band, das sie mit ihrer Schwester verknüpfte, fühlten sie dennoch, wer dieses Geschöpf hinter den ganzen Ästen und Blättern war.
Unermüdlich begehrten die Männer auf, ihre Peiniger hatten große Mühe sie festzuhalten. Gewehrkugeln sausten indessen Richtung Hanna. Beinahe andächtig hob sie die Hand. Plötzlich preschte der Boden in die Höhe, zumindest ein beachtliches Stück daraus, und formte eine Wand. In ihr blieben die Geschosse steckten. Gekonnt brach Hanna den Schutz auseinander und legte ihre Hand auf den Erdgrund. Direkt verschmolz ihr Herz mit der Erde.
„Terra, trema!“, bat sie.
Bevor umstehende, in Panik geratende und Schweiß ausbrechende Gesetzeshüter die nächste Munition verballern konnten, verursachte Hanna ein Beben.
Knattern. Schütteln. Rumoren.
Tiefe Risse durchzogen den Asphalt. Die Gegend um ihr Haus brach auf, Polizeiwägen versanken in der Tiefe. Beunruhigt betrachtete Hanna das Gebiet. Gut, sie erblickte keine Anwohner, die Eskorte hatte die Straße offenbar vorsorglich abgeriegelt. Sehr schön!
Nachdem alle Fahrzeuge verschwunden waren, erhielten Hannas Angreifer ihre Aufmerksamkeit.
„Piante, spuntate!“
Pflanzen wuchsen aus den Ritzen. Dicke, fette, Dornen übersäte Gewächse.
Hastig umklammerten die Schlingen sämtliche Männer, zwangen sie dazu, ihre Waffen fallen zu lassen. Als ob das nötig gewesen wäre. Anwesende des FBI machten sich fast ins Höschen, dermaßen Schiss hatten sie in der augenblicklichen Lage.
Einzig die Pérez Brüder blieben von den Schlingen verschont. Bewegungsunfähig steckte der Rest im festen Griff der Kletterpflanzen.
Elegant bewegte sich Hanna nun vorwärts, jede Regung entfachte einen leuchtenden Blütenwirbel ihres berauschenden Blätterkleides. Dank neu gewonnener Kräfte zerschmetterte sie die Handschellen ihrer Brüder mit einem Hieb.
„Geht!“, wies sie ihre Familie an.
„Hanna, das bist du, richtig?“, fragte Antonio.
„Ja. Ich halte das FBI auf, bis ihr fort seid“, erklärte seine Schwester.
„Niemand verschwindet hier!“, krähte der Chief zornig.
Wie auch immer, er schaffte, seine Fesseln zu lösen. Leicht angeschlagen, hob er eine fallen gelassene Waffe auf.
„Möglich, dass du kugelsicher bist, du Fotze, deine beiden Gangsterbrüder sind es allerdings nicht!“
Ohne zu zögern, steckte den Finger in den Hahn und betätigte den Abzug. Hannas Augen weiteten sich entsetzt, als die Gewehrgeschosse an ihr vorbeisausten. Sie spürte deren Windhauch, roch das Schießpulver.
Die Zeit stand still.
Ihre Mühe durfte doch nicht umsonst gewesen sein!
„Protego!“, hallte eine Stimme durch die Nacht.
Des Chiefs Projektile prallten an einem unsichtbaren Wall ab.
Erstaunt fuhr der Chief zur Ursache dieses – na wie nannte er das? – „Schutzfilms“ herum.
25 lange Jahre hatte er im Namen des Gesetzes gedient, unzählige Verbrecher eingebuchtet. Darunter die Schlimmsten der Schlimmsten. Standart langweilte ihn eben.
Darum hatte er einer Herausforderung im Stil der Pérez Geschwister erwartungsfreudig entgegengesehen. Etliche Behörden hatten sich an José und Antonio Pérez die Zähne ausgebissen. Niemand hatte sie bisher erwischt.
Arbeitsreiche Monate lagen hinter ihm, ein sich ewig ziehender Zeitraum sorgfältiger Planung und Vorbereitung. Schlussendlich stand er kurz vor seinem Ziel, einem weiteren Meilenstein in seiner vorbildlichen Karriere.
Bis diese kleine Schlampe einen auf menschlichen Baum machte!
Groteskes hatte er zur Genüge erlebt. Aber dieses Schmierentheater war an Absurdität durch nichts zu übertreffen!
In die ohnehin absurde Szenerie platzte ein (ach du Scheiße!) riesiger Wolf (gab es die in Mexiko überhaupt?), der eine Blondine und eine Schwarzhaarige auf dem Rücken trug. Erstere wirkte angepisst. Letztere schien direkt aus „Winnetou“ zu stammen.
Shanti hatte Jessica zum Ritt auf dem Wolf überredet. Bis dato hatte sie nicht einmal gewusst, dass Wölfe in Mexiko hausten. Offenbar schon!
Möglicherweise existierte auch nur ein lebendes Exemplar und Shanti musste es unbedingt finden!
Zutiefst bereute die Hexe, ihre Zustimmung zu dem unüblichen Transportmittel erteilt zu haben. Nach wenigen Minuten war ihr bereits übel geworden.
Noch in Manhattan hatte Jessi die Waldelfe in den naheliegenden Park geführt. Shanti kommunizierte auf Basis ihrer naturbasierten Magie durch die Bäume mit Mutter Natur.
Wie auch immer, Hauptsache sie kapierte, was sie da tat!
Die Geister der Erde hatten ihr von einem durch Menschenhand erzeugten Beben erzählt, in …
„Mexiko?“ Jessica klatschte die Hände über ihrem Kopf zusammen.
Für die Buchung eines Flugs war keine Zeit geblieben, also hatte Jessica mal wieder auf den Raumschlüssel zurückgegriffen. Inständig hoffte sie, seine Batterie würde eine Weile halten. Ansonsten wären sie aufgeschmissen, oder umgangssprachlich im Arsch.
Auf dem fremden Kontinent angekommen, hatte Shanti sofort die Spur ihres verbündeten Elements erfasst. Kein Wunder, selbst Jessi hatte eine gewaltige Aura gespürt!
Pfeifend hatte die Waldelfe ihren neuen tierischen Begleiter angelockt, der sie wohlwollend auf seinen Rücken genommen und in sagenhafter Geschwindigkeit zum Zielort transportiert hatte.
Der Rest, hauptsächlich Jessis Seekrankheit, war Geschichte.
Wenigstens kamen sie zum richtigen Zeitpunkt an.
Langsam beruhigte sich Hannas Herzschlag. Diesen Fremden sei Dank, standen ihre Hermanos weiterhin lebendig vor ihr. Unglücklicherweise gab ihr Gegner so schnell nicht auf. Eins musste Hanna ihm lassen, er besaß einen eisernen Willen. Trotz ihrer Erscheinung und Macht, den Fremden, welche augenscheinlich über magische Kräfte verfügten, einem Zähne fletschenden Wolf und zwei befreiten Ganoven behielt der Kerl seinen Antrieb. Die ihm verliehene Führungsposition hatte er zu Recht verdient.
Genug der Höflichkeiten!
Der Chief entfernte sein leeres Magazin, lud schnell ein neues.
Einem inneren Gefühl folgend, hob Hanna umgehend die Hand, blickte eine der Ranken an.
„Frusta Spina!”
Die Schlinge bewegte sich in die Hand der Kriegerin.
Cool!
Ihre neue Waffe wirbelte Hanna sogleich durch die Luft, veränderte indes ihre Form. Als sie den Arm sinken ließ, hielt die Kriegerin keine Pflanze mehr, sondern eine Peitsche, von spitzen Dornen übersät. Ehe er reagieren konnte, sauste die Geißel voran, entriss sie dem Chief das Gewehr. Nunmehr in die Ecke gedrängt, sank der Mann verzweifelt auf die Knie.
„Halleluja!“, stieß die Blondine aus.
Flugs raste sie zum Boss der Polizeieinheit und legte ihn … schlafen?
„Shanti“, brüllte sie.
Oh, offenbar war sie ein Boss!
„Ich muss hier einige Minuten aus Unmengen an Gedächtnissen löschen!“
Sie zeigte auf die sich in den Ranken nach wie vor windenden FBI Agenten.
„Sonst wird der Magische Rat nicht erfreut sein! Hilf mir mal diese Jammerlappen, die sich Männer nennen, ruhigzustellen!“
Hannas Erwachen erstarb. Die Kletterpflanzen versanken im Boden, der Grund wuchs zusammen, lediglich kleine Risse verblieben.
Shanti stellte sich und Jessica vor, erläuterte daraufhin in kürzester Zeit, was mit Hanna geschehen war. Die Latina verstand. Möglicherweise lag ihr entgegengebrachtes Verständnis an der hinzugewonnenen Magie. Der Smaragd schmückte ihr Ohr.
Antonio übergab ihr sein übergroßes Hemd, damit sie ihren nackten Körper bedecken konnte. Der Wolf kehrte zu seinem Rudel zurück. Jessica setzte mit diversen Zaubern jedweden FBI Agent schachmatt und entfernte die Erinnerung an die letzten Minuten sowie das übernatürliche Wesen. Sobald sie aufwachten, würde ihnen ausschließlich der Fluchtversuch der Pérez Geschwister und ein anschließendes Erdbeben im Gedächtnis bleiben.
Die zurückgebliebenen Furchen dienten als Zeugen der seismischen Eruption. Allein dem natürlichen Unglück geschuldet, war den Verbrechern die Flucht gelungen.
Natürlich hatten José und Antonio die Tragweite von Hannas unumstößlicher Verpflichtung nicht erfasst, versuchten deshalb, ihre Schwester zum Aufbruch zu bewegen. Sie ihrerseits fühlte, dass sie mit den Frauen zu gehen hatte.
Die Kriegerin blickte die Hexe inbrünstig an. „Wenn du erlaubst?“, erwartete Jessica die endgültige Weisung.
Hanna nickte.
Liebevoll umarmte sie erst José, dann Antonio. Jene letzte zärtliche Geste stellte ihren Abschied dar. Respektvoll hielten Shanti und Jessica Abstand, gewährten ihr das intime Lebewohl. Hanna befreite sich aus den Umarmungen, gleich darauf war Jessi an der Reihe.
Bevor die Männer wussten, wie ihnen gleich geschehen würde, umkreiste ein Zirkel sie beide.
Die Hexe zauberte: „Accaduto, dimenticate!“
Gänzlich getilgt, konnten Erinnerungen nicht werden, sollten sie auch nicht.
José und Antonio Pérez erinnerten sich an den Hinterhalt der Polizei, ein plötzliches Erdbeben, ihr gelungenes Durchbrechen und Zurücklassen der liebsten Schwester in San Marcos. In ihren Erinnerungen lebte Hanna unentdeckt und in Sicherheit. Beruhigt setzten die Brüder ihren Weg fort, ohne die Schwester. In ihrem Delirium hatten sie ein Auto gestohlen und waren eiligst davongebraust, begleitet vom Schein der aufgehenden Sonne.
Hanna hatte dem Wagen hinterhergeschaut, bis er am Horizont verschwunden war. Dann schickte sie ein Gebet in den Himmel.
„Dios, bitte wache über meine Familie! José, Antonio, wenn ich meine Bestimmung erfüllt habe, sehen wir uns wieder! Ich komme ganz bestimmt in euer Leben zurück! Als ein guter Mensch! Dann, meine Hermanos, errichten wir unsere Zukunft. Gemeinsam!“