Maelle – Luft

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Hermann Hesse

Pura Regna – Pura

Fragte man kleine Mädchen, was sie später einmal werden wollten, antworteten die meisten von ihnen: Prinzessin!
Denn in gewisser Weise träumte nahezu jedes weibliche Wesen davon, einmal Prinzessin zu sein. Am liebsten in rosa Kleidchen, mit ordentlich Glitzer darauf. Und Krönchen!
Ja, das Krönchen durfte nicht fehlen!
Zumindest eine fast erwachsene Frau durfte sich wahrhaftig Prinzessin schimpfen. Sie war Thronerbin und …
… sie hasste das ihr auferlegte Geburtsrecht!
Tagein, tagaus, Benimm-Unterricht für Adlige. Kurse in gerade sitzen, aufrechte Haltung praktizieren, elegant schreiten, vornehm sprechen, politisch korrekt diskutieren, speisen gemäß Etikette, dazu Tanzstunden, Allgemeinbildung, langweilige Sitzungen mit Mitgliedern sämtlicher Feen-, Kobold- und Trollfamilien. Bedienstete folgten ihr den lieben langen Tag. Mal ehrlich, sie hatte langsam mehr als genug von dem Affentheater! 17 Jahre lang hatten die Angestellten der Königsvilla Maelle hofiert, weil sie, die Älteste (und ihrer eigenen Ansicht nach der Pechvogel) der drei Töchter Apricos, die Rangfolge anführte, somit automatisch den Thron eines Tages erben würde. Würg!
Mit absoluter Gewissheit stellte sich auch ihre Mutter jemand anderes für das Amt vor. Maelle taugte ganz und gar nicht zur Königin. Das wussten sowohl sie als auch ihre die Königin Puras. Leider bestanden die Purianer auf Einhaltung aller Regeln, zum Wohle der von der Allgemeinheit erwünschten Ordnungen. Auf Geheiß ihrer Eltern, die dem Druck des Volkes unterlagen, folgte Maelle ihrem nichtsnutzenden Tagesablauf. Der war so was für den Arsch!
Na ja, eigentlich war vielmehr sie für den Arsch. Während des Unterrichts hockte sie entspannt auf ihrem Allerwertesten, statt mit einem Stock im Arsch stramm zu sitzen. Meistens stand sie mit den Händen in den Taschen ihrer furchtbar anzuschauenden purianischen Garderobe und mit hängenden Schultern da. Sie stolzierte wie ein Kerl und plapperte mit dem Herzen auf der Zunge. Insgesamt wirkte sie verwahrlost, verglichen mit den restlichen Obrigkeiten. Beim Tanzen trampelte sie auf den Füßen ihres Partners herum. Auf Sitzungen fehlte sie komplett. Kein Purianer, ob vom kleinen Volk, der Königsfamilie oder ehemaligen Kriegern, geschweige denn die Lichtelfen, mochte sie.
Maelle repräsentierte das stolze Gegenteil eines jeden gepflegten Einwohners Pura.
Vielleicht war sie bei ihrer Geburt vertauscht worden? Abgesehen vom Benehmen glich ihre Erscheinung der ihrer Eltern in keiner Hinsicht.
Als eine Angehörige der Lichtelfen schimmerte das Haar ihrer Mutter Aprico silbrig. Ihr menschlicher Vater Mario verfügte über glattes, braunes Haar, welches er seinen Töchtern Shelly und Reina vererbt hatte. Zudem besaßen die drei seine dunklen Augen.
Maelles lange rote Mähne bildete einen Kontrast zu ihrer hellen Haut. Ihre grünen Augen mit einem leicht türkisfarbenen Schimmer strotzten vor Heiterkeit, ihr Gemüt stand in Konkurrenz zur Ernsthaftigkeit der restlichen Sippschaft.
So gerne sie glauben wollte, nicht Teil der Königsfamilie sein, bei Hausgeburten schien die Chance auf einen Vertausch doch recht ausgeschlossen.
Am Morgen erwachte Maelle in ihrem viel zu üppigen Bett. Ein riesiges Ding wie das ihre benötigte kein Schwein. Was für eine Verschwendung an Platz und Ressourcen! Trotz der Tatsache, nach wie vor in ihrem goldenen Käfig gefangen zu sein, startete sie schwungvoll in den Tag. Auch wenn die kommenden Unterrichtsstunden sie bereits jetzt schon nervten.
Frühstück nahm die Familie prinzipiell gemeinsam ein. Ihre Schwestern aßen äußerst vornehm und ordentlich, ihre Eltern gaben wunderbare Vorbilder ab.
Maelle gähnte. Äußert langweilig.
Daraufhin versuchten diese Snobs von gebildeten Lehrern ihr in den Privatgemächern der Villa Prinzessinnenkrams beizubringen. Doppelt öde!
Das Mittagessen verlief analog zum Frühstück. Dreifach Schnarch!
Einziger der Nachmittag erübrigte ihr einen Lichtblick. Pünktlich um 15:00 Uhr endete Maelles Lehrgang, ihre Eltern wohnten gerade einer der vielen sinnlosen Zusammenkünften bei. Tagesordnungspunkt: Bau einer Brücke zwischen See- und Bergvolk.
Trolle sowie Kobolde beklagten, mühevoll vom Dorf des großen Sees in das Berggebiet, ihren Arbeitsort, zu gelangen. Feen, welche dort nicht täglich zu schuften hatten, flogen einfach darüber hinweg. Die zu beklagenden Kerlchen mussten laufen und diese Tatsache empfanden sie für ungerecht. Abhilfe sollte eine neue Brücke schaffen. Die Feen waren dagegen. Eine in ihren Augen zu gewaltige Menge Grün mitsamt Blumen würde weichen.
Was für ein Unsinn. Warum bauten die Wichtel das Ding nicht einfach? Aber, nein. Die Regeln besagten, Änderungen an Flora und Fauna mussten abgestimmt werden. Im Sinne der Feen und in dem Fall ein hervorragender Punkt.
Genau deshalb drückten die Adligen der Königsfamilie stundenlang ihre Allerwertesten breit. Kobolde diskutierten unheimlich gerne …
Auch wegen einer Holzbrücke im Umfang von etwa 10 Metern Länge …
Ähnliche Treffen – ihrer Meinung nach verschenkte Lebenszeit – hatte Maelle bislang erfolgreich geschwänzt. Ohnehin erwartete keine Sau ihre Anwesenheit.
Kaum hatte die Diskussion der Anwesenden angefangen, schlich der Rotschopf aus den Gemächern, den riesigen marmorierten Flur entlang, legte kurz darauf einen Zwischenstopp in der Küche ein.
Niemand anwesend. Wohl umschwirrten die Küchenhilfen die Gäste der Tafelrunde. Gastfreundschaft stand an oberster Stelle.
Heimlich warf Maelle einen Blick in den Kühlschrank, fand direkt die von ihr heiß begehrten Objekte – frisch gebackene Windbeutel. Nichts auf der Welt naschte sie lieber.
„Erwischt!“, erschreckte plötzlich jemand von hinten sie und packte ihre Taille. Besser gesagt, pikste sie in die Ritze zwischen Taille und Hüfte.
Kreischend fuhr Maelle herum, atmete dann erleichtert aus.
„Luis!“, quietschte sie vergnügt, „lass mein Speck in Ruhe!“
Der Küchenchef und Sternekoch zerzauste mit der Hand ihre wilde, abstehende Mähne.
„Du weisst ganz genau, Prinzessin, die sollst du nicht essen! Die Windbeutel sind für unsere Gäste“, mahnte Luis, „außerdem wünscht Eure Hoheit, deine Mutter, dass ihre Kinder sich gesund ernähren. Sag, hast du zugenommen?“
Ein schelmisches Grinsen legte sich auf seine Lippen. Frech lachte Maelle ihm ins Gesicht, entgegnete kokett: „Nö! Hab eine grandiose Verbrennung. Und dir ist vollkommen klar, deine Windbeutel sind die besten von allen!“
Das Kompliment war ernst gemeint und es brachte Luis zum Strahlen.
Unmittelbar darauf fügte sie hinzu: „Außerdem, mein lieber Freund, backst du grundsätzlich welche extra. Nur für mich! Bäh!“ Sie streckte ihm die Zunge heraus.
Grölen seitens Luis. Lange streng blieb der untersetze Menschenmann nie. Glucksend zuckte er die Achseln.
„Tja, du hast mich erwischt! Einem Koch bereitet eben große Freude, wenn seine Speisen Anklang finden. An dir habe ich den besten Kunden!“ Zwinkernd bat er: „Aber das nächste Mal, Prinzessin, frag mich vorher. Der Rest ist abgezählt. Du weißt, Feen achten ganz genau auf solche Sachen. Nachher bekommt deine Mama Schwierigkeiten.“
Genau genommen, hörte Maelle auf nichts und niemanden. Zum Beweis schnappte sie ein paar der „abgezählten“ Windbeutel und suchte schleunigst das Weite. Zumindest war sie kurz davor, sich aus dem Staub zu machen. Bevor sie aus der Küche verschwinden konnte, rief Luis ihr hinterher: „Schwänzt du heute wieder?“ - „Würde ich nie tun!“, gab sie zurück.
„Ach so. In dem Fall“, bemerkte Luis, „findest du Kai draußen. Auf dem Rasen. Wie immer!“
Tatsächlich hatte Kai bereits ohne sie losgelegt.
Dass keiner sie lieb hatte, stimmte nicht. Zwei Freunde besaß sie. Einem davon war sie in der Küche begegnet, der andere erwartete sie. Allen Zwängen, denen ihre Eltern Maelle innerhalb der Palastmauern aussetzten, entfloh sie hier draußen für ein oder zwei Stunden. Zusammen mit ihrem besten Freund. Kai, ein Jahr älter als sie, war Luis’ Sohn, somit ein Mensch. Seit ihr Vater Mario König geworden war, gab es keine Debatten über menschliche Bewohner des Palastes, die das Volk vorher ausschließlich in den äußeren Liegenschaften Pura Regnas, als pensionierte Krieger der Königin duldete. Trotzdem, die Anzahl menschlicher Bewohner hielt sich nach wie vor in Grenzen.
Grünfläche, so weit das Auge reichte, umgab die königliche Residenz. Gepflegte Gartenanlagen mit frischen Blumen, geteerte Wanderwege, Dekorationsfiguren aus Stein, kleine Teiche, in welchen Vögel badeten, vermittelten insgesamt den Eindruck friedfertiger Harmonie. Im Innenhof der gigantischen Villa befand sich ebenfalls ein palasteigener Garten. Aprico schmiss gerne Partys für allerhand Geschöpfe des winzigen Planeten. Die Feiern erfreuten sich großer Beliebtheit, der Königin Ansehen stieg stetig.
Eure Majestäten, die Prinzessinnen Shelly und Reina trumpften jedes Mal mit vortrefflichem Benehmen, Maelle glänzte dagegen mit Abwesenheit. Neben zahlreicher Feste spielten Mario und seine Rentner Kumpels Polo.
An jedem Nachmittag, bis in die Abendstunden hinein, vertrieben sich das Königspaar samt Kinder – abgesehen von Maelle – die Zeit in ihrem privaten Gartenbereich.
Menschliche Neuzugänge, die nun vorwiegend in der Küche arbeiteten, hatten den Schmuggel eines Gerätes namens Fernseher verantwortet. Integriert in ihren Arbeitsbereich. Das Ganze lag über ein Jahrzehnt zurück. Angeblich entsprach das Fernsehgerät einem der wichtigsten Habschaften auf Erden. In den großen Städten des Planeten Pulse Magia hatten Magier und Genies einst die Technik der Erdlinge kopiert und verfeinert. Zwei der drei magischen Planeten empfingen seitdem die Programme des Menschenvolks. Auf Ecliso existierten derartige Geräte nicht. Was wenig überraschend erschien. Die Küchenhilfen des Menschenvolks waren ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie das Gerät funktionstauglich angebracht hatten, was Maelle zunächst überhaupt nicht hatte verstehen können. Vor knapp 10 Jahren war die siebenjährige Maelle mitten in die Küche geplatzt (um Windbeutel abzustauben), als einer dieser TV-Sender die sogenannten Olympischen Spiele übertragen hatte. Hin und weg von den flackernden Bildern hatte das junge Mädchen Sportler und Disziplinen verfolgt. Buchstäblich waren ihre Nase und Stirn an der Fernsehscheibe geklebt. Stundenlang, tagelang, hatte sie den Apparat bestaunt, eines Vormittags dabei Gesellschaft erhalten. Von Küchenjunge Kai. An dem Tag hatten die Spiele beide Kinder zu Freunden verbunden. Luis war inzwischen eine Art Onkel für das Mädchen geworden, hatte seinerzeit ebenfalls mitgefiebert.
In dieser Phase war Maelles Liebe zur Leichtathletik erwacht. Der brennende Drang nach eigener körperlicher Ertüchtigung hatten sie und Kai nach draußen geführt. Der überdimensionale, von allen nutzbare Allgemeingarten hatte sich im Laufe der Zeit zum provisorischen Trainingslager entwickelt.
Gemäß den Vorlagen aus Film, Fernsehen und Dokumentationen übten die Freunde Sprints, Laufen mittlerer bis langer Strecken, Hoch- sowie Weitsprung, Kugelstoßen und Diskuswurf. Die kilometerweit angelegten Wege erwiesen sich als ideale Routen zum Joggen. Gerätschaften für Hochsprung aufzutreiben, hatte sich knifflig gestaltet. Aus nicht mehr im Königshaus verwendeten Möbelstücken bauten die Freunde Ständer und Latten. Weggeworfene Kissen und Matratzen dienten ihnen zur Fallunterlage. Nicht selten waren beim Werfen diverse Pflanzen, Steinstatuen oder Gartenzwerge kaputtgegangen.
Maelle und Kai ließen die Überreste regelmäßig verschwinden. Weil die Gartenarbeiter ihre Dekorationsartikel nicht wiederfinden konnten, dachten sie, im Garten würde es spuken.
Deswegen verrichteten die Angestellten die Gartenarbeit morgens, nachmittags führten sie ihr Werk in der Villa fort. Perfekt für die Leistungssportler in spe. Keiner der Ansässigen hatte von den heimlichen Trainingseinheiten je Kenntnis genommen. Ausschließlich Luis wusste davon. Maelles Eltern würden ihr die körperliche Anstrengung sofort verbieten. Auf Pura musste alles gepflegt zugehen. Wildheit, Zügellosigkeit, Eifer, Meinungsfreiheit, Andersartigkeit, allesamt Begriffe, die nicht in den Wortschatz eines Purianers gehörten.
„Ich hörte, du fingst ohne mich an!“, erwischte Maelle ihren Freund auf frischer Tat.
Seltsam, an seiner Seite fühlte sich die Thronerbin schlicht und ergreifend frei. Kai sah und behandelte sie nicht wie die Prinzessin, die sie war. Sondern einfach, wie Maelle.
Grinsend trabte er ihr entgegen.
„Blödsinn!“, dementierte er, „ich baute die Pfeiler für den Hochsprung auf. Da wir gestern Weitsprung übten, dachte ich, wir wechseln heute.“
Leider mussten sie ihre Bauten täglich auf- und wieder abrüsten, um unentdeckt zu bleiben.
Spitzbübisch lächelte Kai Maelle an.
„Ach, jetzt verstehe ich, warum du spät dran bist! Die Creme um deinen Mund verrät alles!“
Mist, er hatte ihr Geheimnis entdeckt! Leugnen brachte nichts. Notgedrungen stimmte Maelle in das Gelächter ein. Sie hob ihre Hand, reichte ihm ein zermatschtes Gebäckstück.
„Hier! Hab dir sogar einen mitgebracht!“ - „Wie großzügig. Einen!“, neckte er sie.
Maelle klopfte auf ihren Bauch, ein Zeichen, dass die weiteren darin entschwunden waren.
„Hab dir Klamotten hingelegt.“ Kai deutete auf einen Stapel Wäsche. „Wenn du so weiter futterst, passt du eines Tages nicht mehr rein!“
Training in ihren royalen Zirkuskleidern – undenkbar! Glücklicherweise hatten die Menschen alternative Kleidung mit auf diesen spießigen Planeten gebracht. Natürlich unterstand die Kleiderordnung speziellen Regeln, deshalb kleideten sich die kleinen Rebellen unter ihnen zwar, wie es ihnen gefiel, jedoch ausnahmslos im Verborgenen. Oberkörperfrei, nur in Shorts, betete Kai die Sonne an. Die jahrelangen, sportlichen Aktivitäten hatten einen athletischen Körper geformt. Seine Augen und Haare schimmerten schokoladenbraun. Er trug eine Frisur, deren Schnitt er aktuell von einem Schauspieler aus dem Fernsehen kopierte, oben etwas länger, an den Seiten rasiert. Hieß der Schnitt nicht „Undercut“? Oder so ähnlich.
Ungeniert zog sich Maelle vor ihm um. Beide hatten keinerlei Berührungsängste. Schüchternheit blieb für sie ein Fremdwort.
Ihre langen Haare band sie mit einem Haargummi zusammen, ein Sport-BH (so nannten Frauen der Erde besagtes Kleidungsstück offenbar) bedeckte ihre Brust. Männershorts verliehen ihrem Äußeren eine draufgängerische Note.
Wenn ihre Eltern sie jetzt sehen würden …
Maelle liebte Neonfarben, hauptsächlich Lila, Pink und Geld. Daneben genoss sie es, bauchfrei herumzulaufen. Verstecken brauchte Maelle ihre vom Training gestählte Figur keineswegs. Umgezogen und bereit starteten Maelle und Kai ihr selbst gebasteltes Trainingsprogramm, beginnend mit Hochsprung. Die Distanz zum arrangierten Gerät überbrückten die Freunde mit einem erfrischenden Sprint.
Am Abend duschte Maelle ausgiebig vor dem Essen. Die heutige Einheit hatte alles von ihr abgefordert, nicht zuletzt, da sie und Kai aus jeder Disziplin einen freundschaftlichen Konkurrenzkampf machten, um stetig bessere Leistungen abzurufen. Neben der Leichtathletik übten sie sich in Judo und Teakwondo. Auch der Kampfsport hatte die Freunde fasziniert.
Wie bei allem anderen hatten sie sich die Bewegungsabläufe im TV abgeschaut und sich Details eingeprägt. Schläge, Tritte und Griffe setzten sie, so gut es eben ohne Trainer oder Anleitung ging, um. Nicht selten landeten sie auf dem Rasen, troffen hinterher vor Dreck.
Ständig predigte Maelles Mutter, Pura entspräche dem sichersten Ort des Universums. Angriffs- oder Verteidigungstechniken zu beherrschen, war nicht notwendig. Sagte sie. Selbst die Lichtelfen erachteten Fertigkeiten der Selbstverteidigung für sinnlos, sie beschränkten sich darauf, die Kriegerrassen anderer Planeten zu heilen. Und Krieger der Königin im Ruhestand zog es gerade der Ruhe wegen nach Pura. Gleichwohl erschien es Maelle sinnvoll, im Kampf ein wenig geübt zu sein. Hiesige Wachposten eigneten sich mehr zur Zierde als für ein Gefecht. Abgesehen davon liebte Maelle Bewegung. In sämtlichen Formen und Varianten. Stillstand dagegen hasste sie. Ungern wollte sie nur ihren Geist schulen, ebenso ihr Körper musste wachsen.
Dank des Sports entwickelte sie sich konstant weiter. Ihre Ansicht vertrat Kai im gleichen Maße. Wahrscheinlich verstanden sie sich deshalb so gut. Unter anderem.
Frisch gewaschen, aus der übertriebenen Marmorbadewanne gestiegen – aufgrund der Größendimension eher ein Pool – schlüpfte sie in die purianische, für die Königsfamilie standardisierte Kleidung. Die blauen Flecken bedeckt, gesellte Maelle sich zu ihren Familienmitgliedern. Heute Abend wies das Buffet allerhand frisches Gemüse auf.
Wie immer. Sie rollte die Augen.
Gesund? Ja. Ein Geschmackserlebnis? Wohl kaum!
„Maelle, Liebling“, ergriff ihrer Mutter das Wort, ihre silbergrauen seidenen Haare glänzten im Lichterschein der unzähligen Kerzen, „möchtest du die Inhalte unserer Versammlung erfahren, auf welcher du unglücklicherweise fehltest?“
„Unglücklicherweise“. Maelle räusperte sich, öffnete leicht den Mund. Am liebsten würde sie die Frage verneinen. Im selben Augenblick erblickte sie Kai am Türspalt des Haupteingangs, der ihr zuwinkte.
Aufgrund seines eindeutigen Zeichens, einem Winken, entfuhr ihr: „Nö, eigentlich nicht.“
Schockiert starrten ihre Eltern und Geschwister sie an. Kurzum fügte sie hinzu: „Aber ich bin sicher, Shelly und Reina brennen darauf, die Einzelheiten anzuhören! Entschuldigt mich für einen Moment!“
Damit hopste sie vom Stuhl, begab sich eilig aus dem Raum. Während die Erwachsenen und die jüngste der Geschwister sich nicht wunderten, schaute die mittlere, Shelly, ihrer großen Schwester kritisch hinterher.
Kai zog Maelle in die Küche. Luis erwartete die beiden bereits. Zunächst stellte er ein Tablett mit frischen Windbeuteln vor ihre Nase. Sofort glänzten ihre Augen.
„Du errätst nicht, was passiert ist!“, baute Kai Spannung auf, indes sie die duftenden Backwaren verspeisten.
„Schieß los!“, forderte sie ihren Freund schmatzend auf.
„Haben dir deine Lehrer für Etikette nicht beigebracht, dass mit vollem Mund sprechen unfein ist?“, lachte Luis.
Schelm Maelle grinste. „Bestimmt. Garantiert habe ich während der Stunde gepennt!“
Weiterer Teig landete zwischen ihren Zähnen. Kai schluckte seinen letzten Bissen und fing an zu berichten: „Stell dir vor, ein Schwarzmagier infiltrierte Lichthallen! Erst bemerkten die Lichtelfen sein Endringen nicht. Gestern soll er dann beinahe die Hohepriesterin getötet haben! Offenbar hat sie ihm mit ihrer entfesselten Macht den Gar ausgemacht.“
Na, das waren mal Neuigkeiten für das verschlafene Nest, genannt Pura!
„Wo schnapptest du den Unfug auf?“, fragte sein Vater streng.
Kai schnappte Maelle ein besonders fettes Gebäckstück samt viel Sahne vor der Nase weg.
„Christos, der Dicke, beliefert doch die Wachposten in Lichthallen zur Mittagszeit?“, erklärte er, verteidigte nebenbei seinen Windbeutel vor Maelle, die ihn ihm zu entreißen gedachte. Schwupp. Schnell stopfte Kai das Törtchen in den Mund. Der von Maelle stand empört offen.
„Einer dieser Männer, die Essen bei Christos kaufen“, fuhr Kai geräuschvoll kauend fort, „ein alter Freund von Cosmo, dem Vater der Priesterin, entglitt die Information.“ - „Soviel zum Thema, Pura sei der sicherste Ort des Universums“, entwich Maelle, die sich auf einen Hocker bequemte, die Hände auf den Küchentresen legte und den Kopf darauf stützte. Aktuell trauerte sie dem Windbeutel nach.
„Macht euch keine Gedanken deswegen! Ich bin sicher, es droht keinerlei Gefahr“, versicherte Luis.
Maelle und Kai warfen einander Blicke zu.
Sie mussten nicht sprechen, um einander verstehen zu können. Ihr Kumpel dachte dasselbe wie sie. Die Verteidigung Puras bestand aus ungeübten und minder fähigen Wachleuten. Lichtelfen dienten der Heilung, die Gefolgschaft Pura Regnas lediglich der Unterhaltung ihrer Familie. Fähig für den Kampf erschienen maximal die ehemaligen Krieger der Königin. Falls ihnen ihre Alters-Wehwehchen nicht dazwischenfunkten.
„Hoffen wir, du behältst recht, Onkelchen!“, gähnte Maelle, auf einmal todmüde.
Der Sport forderte seinen Tribut.
30 Minuten und eine angeregte Plauderei später, verabschiedete sich Maelle von ihren liebsten Freunden, huschte zur Küche hinaus und wurde prompt erwischt. Breitbeinig, die dünnen Ärmchen vor dem für ihr Alter üppigen Brustkorb verschränkt blockierte Shelly den Gang.
„Ich habe dich beobachtet, Schwester!“, begann sie.
„Uh! Ich zittere vor Angst! Und wobei?“, entgegnete die ältere, bohrte in ihrem Ohr.
Tatsächlich hielt die mittlere eine Überraschung bereit.
„Bei deinen regelmäßigen Sporteinheiten, zusammen mit dem Küchenjungen! Deine Freizeitgestaltung wird Mama und Papa sicherlich interessieren. Dann verstehen sie endlich, warum du andauernd bei jedem erdenklichen Anlass mit Abwesenheit glänzt.“
Ertappt! Maelle sackte das Herz in die Hose. Sie spürte Hitze den Kopf hochsteigen. Hundertpro war sie rot angelaufen. Gleichauf spielte sie den schwarzen Peter zurück.
„Warum spionierst du mir hinterher? Hast du nichts Besseres zu schaffen? Dich deiner Maniküre widmen, zum Beispiel? Vielleicht interessiert Mama, dass du herumstreunerst und zu einer Voyeurin wurdest?“
Boshaft grinste Shelly.
„Wem denkst du, hören unsere Eltern eher zu? Wem denkst du, gewähren sie eher einen Fehltritt? Dir, dem schwarzen Schaf? Oder mir, der Musterschülerin?“
Erwartungsvoll reckte sie ihren Hals, blickte ihrer Schwester fordernd ins Gesicht. Maelle roch ihr Lieblingsparfüm – Orange und einen Hauch Mandel.
Verdammt, sie saß in der Falle! Das Argument konnte sie nicht schlagen.
Ohne eine Wahl zu haben, hinterfragte sie: „Okay, was willst du?“ - „Nett, dass du das ansprichst!“, quakte Shelly, ihre Stimme hatte etwas Hinterlistiges, „gewiss wünsche ich mir den Thron, zuvörderst, weil du ihn weder begehrst noch verdienst!“
O. K., Maelle hatte nichts Neues erfahren. Dass Shelly ihren Rangplatz begehrte, wusste sie.
Bevor sie etwas zu erwidern imstande war, übernahm die jüngere die Moderation erneut: „Aber ich werde das dir vergönnte Privileg nicht erlangen. Niemals. Aufgrund unserer bescheuerten Regeln!“
Und das aus dem Munde der Artigkeit in Person, hört, hört! Hätte Maelle die Möglichkeit gehabt, hätte sie Shelly das Amt längst abgetreten.
„Deshalb liebe Schwester, sollst du spüren, wie es mir 16 Jahre lang erging in deinem Schatten zu stehen und das nur, da ich 12 Monate jünger bin!“
Maelle seufzte. Wieso erduldete sie das Gelaber überhaupt? Ihre pflegeleichte, jüngste Schwester Reina genoss ihr Leben als Prinzessin Pura Regnas in vollen Zügen. Mit allen Annehmlichkeiten. Shelly, die mittlere, haderte aus Eifersucht und Groll. Neidisch blickte sie auf Maelle herab.
Als die Thronfolgerin keine Anstanden einer Reaktion auf den seltsamen Schwachsinn zeigte, hakte ihre Schwester nach: „Willst du nicht wissen, was ich stattdessen fordere?“
Wenn es die Konversation verkürzte …!
Gelangweilt konterte Maelle: „Shelly, du nennst mir deine Forderung ohnehin. Dazu muss ich dich nicht auffordern.“
Gereizt wegen Maelles Belanglosigkeit fauchte Shelly: „Wie du mir die Krone, nehme ich mir deinen Freund!“
Maelle starrte Shelly an.
„Kai?“ - „Allerdings!“, bestätigte die Schwester prompt.
Entgeistert schüttelte die junge Frau ihren Kopf, die roten Wellen tanzten um ihr Gesicht.
„Sorry, ich verstehe dein Ansinnen nicht“, gab Maelle zu, sichtlich verwirrt, „Kai entscheidet selbst, mit wem er befreundet sein möchte.“
Lauthals lachte Shelly auf, rollte die haselnussbraunen Augen. „Seit Monaten bemühe ich mich um seine Aufmerksamkeit!“, offenbarte sie, hob streng den Finger und fing an, im Kreis herumzuspazieren. „Obwohl er als niederer Küchenjunge tätig ist, weckte er mein Interesse. Ja, dies schockierte mich selbst!“
Und Maelle schockierte die gesamte Unterhaltung. Sie war schlicht absurd.
„Er sieht wahnsinnig gut aus!“, schmachtete Shelly.
Wenigstens hierbei gestand ihr Maelle recht zu.
Theatralisch verharrte die Dramaqueen inmitten ihrer Bewegung. „Ich, das schönste Mädchen im ganzen Reich Pura …“
Angestrengt unterdrückte Maelle ein Grunzen.
Von wem hatte Shelly bloß ihre Arroganz geerbt?
„… Dachte, es wäre ein Leichtes, seine Gunst zu gewinnen! Doch ich irrte! Er hat ausnahmslos Augen für dich!“
Auf einmal redete sich Shelly in Rage, ihre Worte sprühten vor Zorn. „Du darfst nicht beides haben, den Thron und den holden Prinzen!“
Prinzen? Äh, ja. Das verwöhnte Gör sollte weniger Lektüre konsumieren. „Genug, Schwester!“, unterbrach Maelle den Bockmist. Sie hob eine Hand, machte das Zeichen für „Stopp“. „Erstens, Kai und ich sind beste Freunde! Zweitens, halte ihn aus deinen neidzerfressenen Gedanken raus! Wage nicht, ihn in einem deiner Machtspielchen einzubinden! Sei’s drum! Petzte doch bei Mami und Papi, wenn du dich besser fühlst! Und such dir gefälligst jemand anderen, den du erpressen kannst!“
Maelle stampfte an Shelly vorbei, rempelte ihre jüngere Schwester im Gehen an. „Mich“, beendete sie die Konversation, „kannst du maximal kreuzweise!“
Damit ließ sie eine zutiefst beleidigte, weil entblößte Shelly im Flur stehen.
Fassungslos und unendlich frustriert, stürmte Maelle in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett. Tränen liefen über ihre Wangen. Leider schien es unvermeidbar, dass Shelly sie und ihre aktive Freizeitgestaltung just in diesem Moment bei ihren Eltern anschwärzte. Morgen würde sie nicht mehr zur Tür heraus dürfen. Vielleicht durfte sie auch Kai nie wieder sehen?
Der Küchenjunge und die Prinzessin – nein – Thronerbin? Was für einen Skandal hätte das gegeben?
Erschöpft vom vielen Weinen, schlief der besorgte Rotschopf ein.
Maelle träumte. Sie träumte seltsames. In ihrem Traum erschien ein Edelstein, leuchtend in Lila und Gelb. Maelle folgte dem gelb-lila Schein, langte unentwegt nach dem Stein, griff aber ins Leere. Plötzlich stand sie im Dunkeln. In der Ferne erkannte sie Schatten. Unheilvolle Schemen, die über Seen, Berge, Wiesen huschten, entlang ihr bekannter Pfade schlängelten, durch den schönend Garten kamen und die Türe öffneten zu …
… ihrem Schlafzimmer!
Geräusche drangen zu ihr vor, ließen Maelle hochfahren. Eiligst sprang sie vom Bett, hastete aus dem Raum in den breiten Gang. Aufregung herrschte unter den Bediensteten. Panisch aufgrund vieler wuselnder Beine suchte sie ihre Familienmitglieder, fand aber keinen. Von ihrer Vision stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Jäh packte sie eine kalte Hand an der Schulter.
Erschrocken fuhr Maelle herum, ihr Herz erlitt einen Stillstand. Beinahe.
Kaum blinzelte sie, zerrte Kai sie schon Richtung Küche.
„Was ist los?“, hechelte Maelle atemlos.
„Am Himmel erschien ein Portal. Dämonen gelangten hierher. Offenbar marschierten sie an Lichthallen vorbei. Wächter der Tore meldeten die Entdeckung dem König. Ich brachte gerade den von deinen Eltern angeforderten Tee, bekam die Details brühwarm mit.“ - „Oh mein Gott, du glaubst doch nicht, Pura Regna wird angegriffen?“, stotterte sie.
Kai schüttelte den Kopf. Traurig beteuerte er: „Da bin ich überfragt. König Mario gab unseren Wachen Befehle. Sie und die pensionierten Krieger rüsten zur Verteidigung. Seltsam, oder? Kürzlich sprachen wir noch über das Thema.“
Gänsehaut bedeckte Maelles ganzen Körper.
Jüngst entpuppte sich ihr Traum als eine Vorahnung.
„Ich sollte meine Familie suchen!“, entschied sie.
Kai hielt ihren Arm fest. Sorgenfalten durchzogen seine Stirn.
„Lass mich bitte los!“, bat sie.
Er konnte sie kaum ansehen.
„Erachte mich bitte nicht für verrückt“, flüsterte er, „mein Instinkt sagt mir, die Eindringlinge kommen deinetwegen. Wieso, das weiß ich nicht. Ich kann es dir nicht erklären.“
Ihren Freund seit Kindertagen hatte sie nie derart ernst erlebt. Schüchtern, bekümmert.
„Wieso?“, wisperte sie, als hätte sie seine letzten Worte nicht gehört.
„Ich weiß es nicht“, meinte Kai erneut, blickte endlich auf, „doch mein Gefühl trügt mich selten.“
Was hatte sie getan?
Nicht in der Lage sich zu rühren, verweilte Shelly vor dem großen Fenster ihres Schlafzimmers und starrte hinaus in die taghelle Nacht. Gedanken kreisten in ihrem hübschen Köpfchen, ihre ansehnliche Stirn war von Sorgenfalten durchzogen.
Vor ein paar Tagen hatte sie einem jungen Lichtelfenwachmann Eintritt zu den Gräbern der Verstorbenen gewährt, welche ihre Vorfahren beherbergten. Schlüssel hierfür besaßen ausschließlich Mitglieder der Königsfamilie.
Seine Bitte hatte zunächst abstrus geklungen. Wer wollte schon die Totenstätte von erblassten Monarchen erkunden? Dann hatte er in ihre Seele geschaut, wie immer er etwas derartigen vollbringen konnte, und hatte neben abgründiger Zwietracht ihre tiefsten Sehsüchte aufgedeckt. Shellys innigster Wunsch bezog sich auf den Thron.
Zugegeben, das herauszufinden, galt keiner Meisterleistung. Shelly war damit gewissermaßen hausieren gegangen. Ein klein wenig musste sie über die Ironie schmunzeln.
Für einen klitzekleinen Moment hatte sie daran gedacht, Maelles Platz ersetzen zu können, falls die älteste Schwester verschwinden würde. Offenbar hatte er ihre Gedanken gelesen. Oder jemandem nur aufmerksam zugehört, der einen von Shellys zahlreichen Wutausbrüchen mitbekommen hatte. Wie es gewesen war, der hübsch anzuschauende Knabe hatte ihr einen Gefallen versprochen. Im Gegenzug hierfür hatte er die Leichname und Gebeine der Toten gefordert.
Shelly fuhr definitiv besser. Aus ihrer Sicht.
Zögerlich und dennoch voller Vorfreude hatte sie sich auf den Handel eingelassen.
Kurze Zeit später hatte er die letzte Ruhestätte leer geräumt.
Damals hatte sie nicht interessiert, wozu er leblose Körper benötigte. Inständig hatte sie gehofft, er würde seinen Teil der Abmachung halten. Jetzt, in dieser Sekunde, erkannte sie die Kehrseite ihres Pakts. Einkehrende Dämonen würden ihre Schwester umbringen! Natürlich. Daraufhin würde Shelly automatisch den Thron erhalten.
Ein grausames Schicksal wie dieses hatte sie sich nicht für Maelle gewünscht.
Keineswegs imstande, ihren Eltern unter die Augen zu treten, suchte Shelly nun klopfenden Herzens nach der Hauptperson des Handels. Sie ahnte, wo sie die Älteste finden konnte.
Ihrer Vermutung entsprechend, versteckte der hübsche Junge ihre Schwester in der Küche.
„Maelle!“, keuchte Shelly.
Verärgert verstieß die Älteste ihre Erpresserin.
„Du schon wieder? Das ist nicht der richtige Zeitpunkt …“ – „Ich muss dir etwas gestehen!“, grätschte die Jüngere ein. Flehend schaute sie Kai an. Wie üblich ignorierte er Shelly.
Gerne sähe sie ihn an ihrer Seite. Wahrhaftig. Sie beide hätten ein ansehnliches künftiges Königspaar abgegeben.
„Lässt du uns allein?“, beorderte Maelle den Küchenjungen.
Grinsend schüttelte er den Kopf. „Bestimmt nicht!“
Sie lächelten einander an, teilten einen intimen Moment. Shelly spürte einen Stich in ihrer Brust, unterdrückte rasch ihre aufkeimenden, negativen Gefühle. Unmittelbar platzte aus ihr heraus: „Für das Eindringen der Dämonen bin ich verantwortlich!“
Stille.
Außerhalb der Küche herrschte Chaos. Von jeder Richtung klapperte es, Personen rannten wild durcheinander. Fluchen und weinen überall.
Relativ gefasst hinterfragte Maelle: „Wie kommst du darauf?“
Unter Tränen gestand Shelly ihrer Schwester das Vergangene. Ihr Körper zitterte, ihre Stimme bebte, sie hörte nicht auf zu weinen.
Kai schlussfolgerte: „Das muss der Schwarzmagier gewesen sein, der Lichthallen infiltrierte. Bestimmt war das kein Lichtelf!“
Maelle nickte.
„Falls ich dich richtig verstehe, bestand der Deal darin, dass der Kerl die Gräber plündert und du dafür den Thron erhältst.“
Nüchtern betrachtet, nagte die Absurdität ihres naiven Handels schwer an Shelly.
„Ja“, piepste sie.
„Und vermutlich erfüllt dieser Schwarzmagier, welchen die Priesterin angeblich besiegte, aber augenscheinlich doch nicht, putzmunter seinen Part, indem er mich töten lässt, damit du die Rangfolge anführst.“
Shelly schniefte zustimmend. Oh, verfluchte Kacke!
Manche Momente im Leben dienen dazu, einen Charakter zu formen, bestimmten fortan seinen weiteren Weg. Gelegentlich erfordern schwierige Entscheidungen ein Quäntchen Mut.
Für die kurze Strecke von Lichthallen nach Pura Regna benötigte man wenig Zeit. Daher fällte Maelle einen Entschluss. Sie schritt auf die Jüngere zu. Erschrocken zuckte diese zusammen, in Erwartung eines Donnerwetters.
Solches blieb aus. Stattdessen umarmte die große ihre kleine Schwester. Nicht darauf eingestellt, blickte Shelly verwirrt drein.
„Pass auf Reina und unsere Eltern auf“, flüsterte Maelle ihr ins Ohr.
„Was hast du vor?“, stotterte Shelly.
Ohne auf die Frage einzugehen, wandte sich Maelle an Kai: „Danke, für deine Freundschaft. Ich liebe dich.“
Nicht darüber nachdenkend, küsste sie ihn auf den Mund, spurtete anschließend eifrig davon.
Der stehen gelassene, perplexe junge Mann zögerte einen Moment, eilte dann sofort hinterher. Das Schicksal wollte es, dass eine Schar Wachleute ihn ausbremste. Bis er sich versah, war Maelle verschwunden.
Sie bahnte sich einen Weg durch den Palast, wich quer durcheinander wuselnden Personen aus. Bis sie den Ausgang erreicht hatte, schaute sie niemanden an, begegnete niemandes Blick. Draußen angelangt schlug ihr ihnen eine seltsame Wärme sowie diverse fremde Gerüche entgegen. Den Duft konnte sie keiner bekannten Note zuordnen. Sie hätte ihn schlicht abartig bezeichnen wollen. Unheilvoll. Ein Hauch von Tod.
Flugs passierte sie die Gartenanlage. Ein speziell angelegter Pfad führte sie schlussendlich aus Pura Regna hinaus. Auch als Maelle die goldenen Tore des Königsgebietes hinter sich gelassen hatte, stoppte sie nicht. Kontinuierlich folgte sie den Straßen, vorbei an sämtlichen Behausungen pensionierte Krieger. Von Pura Regna begab sie sich gerade rechtzeitig weg. Am Horizont erkannte Maelle die im Traum erschienenen Schatten. Instinktiv spürte die Prinzessin, dass sie heute Nacht sterben würde. Doch lieber ging sie allein von dieser Welt, anstatt zahlreiche Unschuldige mit in ihr Unglück zu ziehen.
Trotz der späten Stunde schien die Sonne warm am Himmel, denn in Pura dauerte der Tag die ganze Nacht. Obwohl die Temperatur normal erschien, schwängerte eine eklige Schwüle die Luft. Ihr Gesicht dem Feuerball entgegen reckend, genoss Maelle ihre womöglich letzten Minuten, empfand dabei Frieden, wohlige Stille und ihr sonst nie vergönnte Freiheit. In der Tat hatte sie ihre Schwester nicht mit schlechtem Gewissen zurücklassen wollen. Sie betete sogar, Shellys Wunsch möge in Erfüllung gehen. Zudem hoffte sie, dass ihre Familie künftig in Sicherheit lebte, wenn sie ging.
Maelle genoss die Ruhe, sog das Parfüm der Blumen ein. Sie öffnete in dem Moment die Augen, als der erste Dämon seine Zähne in sie schlug.
Schmerz.
Spitzer, heißer Schmerz jagte ihr durch Mark und Gebein. Zutiefst gequält heulte Maelle auf.
Trotz geistiger Vorbereitung spürte sie das peinvolle Zerreißen ihrer Haut und Knochen wie einen Dampfhammer. Doch bei einem blieb es nicht, weitere Ungetüme stürzten auf sie. Klauen verletzten ihren Bauch, ihre Schultern, ihre Beine. Kräftige Hiebe schleuderten Maelle in die Luft. Kaum auf den Boden aufgeschlagen, traten Füße unnachgiebig gegen ihr Haupt. Blut floss aus Nase und Mund.
Sie wehrte sich nicht. Wozu auch? Gegenwehr führte zu keinem anderen Ergebnis.
Demnach verharrte sie ruhig, wartete auf ihr Ende. Lediglich eines hoffte sie. Würde Gevatter Tod sie doch schnell erlösen.
Aus den Augenwinkeln erkannte die junge Frau, das Vorbeiziehen einiger Bestien. Wo zum Henker wollten die hin?
Dann dämmerte ihr, dass die Kreaturen in selbige Richtung hasteten, aus der sie gekommen war. Somit ergab ihr Ziel …?
Pura Regna?
„Unmöglich!“, röchelte die Thronerbin.
Mühselig stemmte sie die Arme in die Erde, rappelte sich mehr oder weniger auf. Über ihren erfolgreichen Kraftakt freute sie sich zu früh, ein besonders bösartiges Exemplar warf sie gleich wieder zu Boden. Nebstdem verhinderte der Dämon fortwährende Bemühungen ihrerseits mit seinem Körper.
Er saß auf sie, schlug ununterbrochen überallhin. Um ihr Gesicht für seine Hiebe stillzuhalten, krallte er seine Klauen in ihre lange Lockenmähne hinein. Mittlerweile atmete sie heftig, ansonsten bekäme sie keinen Sauerstoff. Sie hörte ihr eigenes Blut in den Ohren summen. Ununterbrochen stürmten Feinde an ihr vorbei.
Maelles Peiniger rollte von ihr herunter. Unvorhergesehen hart, stieß er die Krallen in ihren Brustkorb, schlitzte ihn senkrecht auf. Blutlachen breiten sich unter ihrem Körper aus, Hecheln entrang ihrer Kehle.
Mit dem letzten bisschen Kraft schnaubte sie: „Warum … meine Heimat? Der Handel … bloß ich?“
Die Fratze des Mistkerls formte ein bösartiges … was auch immer das war. Er neigte sein abscheuliches Gesicht und zischte relativ unverständlich: „Du tot, ja, Pakt. Angreifen weiter, weil Spaß. Andere Opfer, Bonus. Nur einmal, Pura. Säubern Pura, von Licht. Hinterlassen wollen, Tod!“
Zutiefst erschüttert über die Tragweite von Shellys Handel, aufgrund ihrer bloßen Existenz, richtete Maelle den Blick gen Himmel.
Sie sah Wolken. Wolken zogen auf.
Verrückt. Pura erlebte eine Premiere.
Ebenfalls Maelle. Nie zuvor hatte sie die weißen Türmchen am Firmament sehen dürfen. Schön sahen sie aus. So frei, wie sie da schwebten.
Unvermittelt stoppte das Herz der Thronerbin.
Manche Momente im Leben formen einen Charakter, bestimmen fortan seinen weiteren Weg.
Im Augenblick, als ihr Lebensatem versiegte, bildeten ihre Gedanken einen allerletzten Satz: „Ich bin noch nicht bereit zu gehen!“
Aus dem Himmel brach ein gelb-lila Geschoss heraus, sauste auf die regungslose Maelle hernieder und fuhr mitten in ihr Sein. Die gewaltige Explosion war für die Anwohnerschaft Pura Regnas und sogar Lichthallens sichtbar.
Im Folgenden tobte ein Sturm knapp außerhalb des Königsgebietes. Reihenweise drückten Menschen, Elfen und Krieger ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, wohnten dem Naturschauspiel staunend bei.
Maelles Innerstes barst. Einen Augenblick lang stand die Zeit still und Maelle lauschte einer Stimme, die sie nicht kannte. Die Stimme wollte, dass sie ihr vertraute. So herrlich angenehm klang sie, Maelle hörte berauscht zu. Im nächsten Augenblick riss die Thronerbin ihre Augen auf und schrie mit der Kraft eines freien Geistes: „La Potenza d‘Aria, ascoltami! Gewalt der Luft wohne mir bei!“
Sie erhörte Maelles Flehen direkt. Magie rauschte durch ihre blaublütigen Adern. Leichte, weiche, freie Magie. Eine weitere Entladung unbekannten Ausmaßes folgte, die jegliche Dämonen um Umkreis hinweg katapultierte. Der Rest hielt inne und begaffte den Wirbelsturm.
Die Zauberformel veränderte Maelles Körper, ihr Äußeres wandelte seine Erscheinung. Ihre Haare nahmen die silbrig weiße Farbe der Lichtelfen an, ihre Kleidung zerriss, verschwand vollständig. In ihren sturmgrauen Augen tobte ein Orkan. Von jetzt auf gleich entsprach ihr nackter Körper dem eines Astralwesens, durchscheinend und luftig leicht, eingefasst in einen gelben Farbton. Magiestein Ametrin glühte. Der rechteckige Edelstein lag auf einem Ring an ihrem linken Finger. Element Luft hatte Maelle zu seiner Elementkriegerin gewählt.
Der Dämon (ja, genau der, welcher sie vor wenigen Minuten umgebracht hatte) schaute etwa 200 Meter weiter vom Boden auf und ziemlich doof aus der Wäsche. Maelle fühlte ihre neue Macht und – oh, mein Gott – wusste sie einzusetzen!
Die gelbglühende Kriegerin, mit den weißen, vom Winde zerzausten Haaren, stieß sich vom Boden ab. Leichtfüßig schwebte sie inmitten der Atmosphäre. Die Höhe verschaffte ihr einen Überblick über die Anzahl an Gegenspielern.
Verdammter Mist! Gerade waren ein paar im Begriff, die Tür des Palastes zu erreichen, andere rückten sekündlich auf. Instinktiv streckte Maelle ihren rechten Arm aus und beschwor ein – ihr – individuelles, magisches Kriegswerkzeug.
„Bumerang!“
In einem überdimensionalen Größenverhältnis erschien eine monströse Wurfwaffe. Schwungvoll, übermenschliche Stärke inbegriffen, warf Maelle ihr neustes Werkzeug. Der Bumerang schnellte mit beeindruckender Geschwindigkeit auf den Palast zu. Vor dem Palasttor hob er die ankommenden Dämonen entzwei.
Fein, nun erhielt sie die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der verbliebenen Gefolgschaft. Blutunterlaufene Augenpaare waren auf Maelle gerichtet. Erneut schickte sie ihre Waffe auf den Weg, die nächste Reihe zerschmetterte. In der Tour pfefferte sie einen Wurf nach dem anderen, der Bumerang siebte hunderte Monster mittendurch.
Plötzlich erschien die Pforte zur Hölle.
Okay, zugegebenermaßen handelte es sich um das Tor nach Ecliso.
Nach wohin auch immer es ausgerichtet war, das Teil spuckte Massen an neuen Dämonen aus. Wieso, zum Kuckuck, gab es davon so viele? Wie sollte sie einem derartigen Ansturm standhalten?
Die Antwort wurde Maelle wenige Sekunden später serviert. In Form von zwei Passagieren. Zwei Fremden.
Inmitten der Dämonenschar nahm sie die Ankunft einer blonden Frau plus einer Lichtelfe wahr. Ihrerseits bemerkten die Unbekannten das außergewöhnliche Geschöpf und im gleichen Atemzug das Portal samt seinen Ungetümen.
Maelle rief zu ihnen hinunter: „Egal, auf welchem Wege ihr herkamt, oder warum ihr hier seid, verschwindet! Dämonen brechen in diese Welt ein! Fallt diesen Bestien nicht zum Opfer!“
Nachdem sie die Warnung ausgesprochen hatte, griffen die ersten Bestien an. Sofort bereitete Maelle ihren Bumerang zum Wurf vor.
Allerdings erwiesen sich die wehrlosen Damen in Wahrheit als alles andere, aber keinesfalls unbedarft …
Wie viele Dämonen beherbergte das beschissene Ecliso eigentlich? Diese Frage beschäftigte Jessica Adams, Hexe, Auserwählte wider Willen, Arschloch für alles, welche prüfend das den Himmel spaltende Tor betrachtete.
Auf der Erde hatten die Mädchen besprochen, dass Jessi und Yelina allein nach Pura reisten. Die Lichtelfe aus Lichthallen hatte die Funktion als Priesterin des Windes geerbt, war damit die Verbündete des Elements Luft. Wie sie unschwer erkannten, hatte der Elementstein Ametrin seinen Träger gewählt. Über ihren Köpfen flatterte ein sagenhaftes Geschöpf, ohne Flügel. Seine durchscheinende Gestalt erinnerte an einen Geist. An einem der Finger band ein Ring, den Ametrin in rechteckiger Form darin eingeschlossen.
„Die Kriegerin erwachte. Zutun unsererseits war wohl nicht nötig“, resümierte Jessica das Gesehene.
Lichtelfe Yelina nickte stumm.
Die Frist zum Plaudern lief ab, Dämonen kraxelten auf sie zu.
Die Elementkriegerin setzte zum Einsatz ihres tödlich aussehenden Bumerangs an.
Hexe und Lichtelfe beschworen ihre eigene Magie. In voller Montur machten sie sich kampfbereit.
Maelle staunte nicht schlecht.
Die Fremden verfügten über magische Kräfte und wandelten ihre Gestalt! Cool!
Auf einmal bedeckten komische Kreise bereichsweise den Boden, gerufen von der Blondine, welche ihren Zauberstab dazu nutzte, Dämonen meterweit durch die Gegend zu schleudern. Megacool!
Zack! Blitzschnell sauste die gepanzerte Lichtelfe an Maelle vorbei. Hatte sie etwa echte Flügel? Erstklassig!
Mitsamt ihrer Hellebarde verarbeitete das Mädchen ihre Gegner zu Dämonen am Spieß.
Bald verunstaltete deren Asche den saftigen, grasgrünen Erdboden.
„Mädel!“, schrie die Hexe zu Maelle hinauf, „träumst du? Wie wär’s, wenn du uns mal hilfst?“
Recht hatte sie! Schmunzelnd schleuderte Maelle ihren Bumerang. Selbstredend traf ihr Wurfgeschoss. Zahlreiche Trainingseinheiten hatten geholfen, ihre Wurftechnik zu perfektionieren. Dennoch. Nach jedem Angriff kam sich Maelle verlorener vor. Riesige Macht durchdrang sie. Aber warum? Welcher Sinn stand dahinter? Was geschah, sobald ihre sie tragende Energie verflog?
„Aktuell haderst du mit dir, weisst nicht, wer oder was du bist. Liege ich richtig?“, rief die Frau, katapultierte nebenher einen Dämon hinfort.
Hatte sie Maelles Zweifel gespürt? War sie dermaßen emphatisch?
Ihr wiederkehrendes Wurfgeschoss fing die Prinzessin problemlos ein, war im Gegensatz jedoch unfähig, die gestellte Frage zu beantworten.
Die Menschenfrau lächelte sie an. Wärme lag in ihrer Miene, ihrer Gestik.
„Keine Bange, ich habe ‚Psychologie für Dummies‘ gelesen. Abgesehen davon steht dir dein Hadern ins fast unsichtbare Gesicht geschrieben. Du bist eine Elementkriegerin, auserwählt von der Quintessenz Luft“, erklärte sie, „Die Königin von Licht und Magie benötigt deine Unterstützung, Mädchen! Komm in die Puschen!“
Die Worte hörte Maelle zum ersten Mal. Obgleich sie die Fremde nicht kannte, vertraute sie ihrer Aussage. In ihrer Ausstrahlung lag eine Dominanz, wie wahrhaftige Anführer sie besaßen.
Nein, das stimmte nicht zu 100 %. Maelle vertraute auf ihren Bauch. Er wies ihr den richtigen Weg. Und er sagte, die Blondine sprach die Wahrheit.
Schlagartig erfüllte Stolz ihren Geist. Hey, die Mutter aller Magie forderte ihre Hilfe! Der Wahnsinn! Um alles in der Welt wollte Maelle ihr Königreich beschützen. Sieg oder Versagen bestimmten, ob sie eine würdige Thronerbin sein und Pura regieren konnte. Mehr noch. Maelle dachte an Kai, an Luis. Allein ihretwegen lohnte sich ein Kampf. Glückliche Gefühle von Freundschaft und Freiheit erfüllten ihr Herz. Sie war also Luft? Na dann verhielt sie sich besser mal so!
Den Bumerang über ihren Kopf erhoben, rotierte Maelle im Kreis, sang währenddessen: „Aria, turbina!“
Wie sollte man beschreiben, was dann geschah? Ein „Wirbelwind“ hätte der Untertreibung des Jahres entsprochen.
Hunderte Windhosen entsprangen dem Himmel und endeten auf der Erde.
Sie zirkulierten, umwirbelten die Landschaft, erfassten weder Stücke des heimischen Bereiches noch die beiden Mitkämpferinnen. Stattdessen verschlangen sie alle Kreaturen, welche nicht dieser Welt angehörten und es wagten, Pura anzugreifen. Als jedweder Dämon gefangen, in Maelles Tornado, entfesselte sie den vernichtenden Schlag.
„Tempesta, infuria!“
Der unendlich wütende Sturm, entsprungen aus Maelles freiem Geist, zerbarst alles Böse in Stücke. Daraufhin klang die Windböe ab, ein laues Lüftchen wehte.
Maelle war so was von erledigt nach der Magienentladung! Zurückverwandelt, stürzte sie in die Tiefe.
„Sorvola!“, hörte sie die Hexe rufen.
Einzig deren Zauber hielt sie ab, als Fettfleck auf dem Grund zu enden. Sanft, obendrein nackt, landete Maelle im Gras. Die jungen Frauen, offenbar ihre neuen Mitstreiterinnen, kamen angetrabt, halfen ihr auf die Beine.
„Gut gemacht!“, lobte die Blondine, „ich schlage vor, wir kehren auf die Erde zurück und ziehen dir etwas an. Dann erkläre ich dir den Sinn hinter deiner Aufgabe ausführlich.“ - „Äh, habe ich da ein Wörtchen mitzureden?“
Eine Augenbraue erhoben, machte es Blondie kurz. „Nein!“ - „Bleibt mir eine andere Wahl?“ -„Nein!“
Dem netten Lächeln der sympathischen, wenn auch streng aussehenden Zauberin, vermochte Maelle nicht zu widerstehen. Widerworte hätte sie nicht geduldet, so viel stand fest.
Maelle – Erwählte der Königin (eher des Elements Luft) – hörte auf ihren Bauch.
„Äh“, warf sie nach einer geschlagenen Minute ein, „prinzipiell habe ich nichts dagegen, aus dem öden Nest zu flattern und mitzukommen. Wird eine Erfahrung. Bestimmt. Womöglich hält mich meine Familie ohnehin für tot.“ - „Aber?“ Stampfen auf dem Boden vonseiten der Hexe. Ups, Blondie demonstrierte ihre Ungeduld!
„Darf ich dich“, fragte Maelle vorsichtig, „vorher um einen Gefallen bitten?“
Nervös lief Kai in der ausgestorbenen Küche auf und ab. Er fühlte sich, wie ein Tier im Käfig.
Kaum hatte Maelle die Palastvilla verlassen, hatten die Wachleute Türen und Schlösser verbarrikadiert. Darum war ihm Chance geblieben, nach draußen zu gelangen.
„Scheiße!“, fluchte er zum tausendsten Mal.
Ihm war nach Heulen zumute. Die gewaltige Explosion vorhin hatte ihn das schlimmste befürchten lassen. Tränen stiegen ihm in die Augen.
„Sie wird doch nicht …“
Aus dem Nichts tauchte eine Frau auf, Kai fuhr erschrocken zusammen.
„Hi!“, sprach die Fremde, strich zunächst ihr blonden Haare zurück und klopfte den Staub von ihren Klamotten.
Woher zur Hölle war sie gekommen?
Ihre Kleidung erinnerte ihn an die Stücke, die seine Kollegen von der Erde hierher gebracht hatten. Prüfend musterte sie ihn. Unter ihrem strengen Blick fühlte er sich klein und unbedeutend. Sie verängstigte ihn.
„Ich gehe davon aus, du bist Kain?“ - „Äh, Kai?“, entgegnete er.
Sie legte den Kopf schief. „War das eine Frage oder die Antwort?“ Kritisch hob sie eine Augenbraue.
„Die Antwort?“, fragte Kai verwirrt.
„Mhm“, äußerte sie, wenig überzeugt.
Vorneweg fünf Minuten starrten sie einander an. Schlussendlich rückte die Blondine mit der Sprache raus. „Ich habe eine Mitteilung für dich.“
Seine Verwunderung stieg. Jetzt lächelte die Fremde, was ihn noch konfuser machte.
„Maelle geht’s gut“, offenbarte sie ihm. Erleichtert um eine Million Steine, die von seinem Herzen purzelten, sank Kai auf einen Küchenstuhl. Schlagartig fiel seine Anspannung ab und der Wortschwall blubberte aus ihm heraus.
„Wer bist du, woher kommst du und vor allem, woher kennst du Maelle?“
Seufzend zog sie einen Stuhl her, auf welchem sie Platz nahm.
„Jessica, eine Kriegerin der Königin, stammend von der Erde“, stellte sie sich vor. „Mit einem Schlüssel vom Wächter des kosmischen Raumes gelangte ich hierher“, erläuterte sie ferner, „Maelle lernte ich kürzlich kennen.“ - „Demnach überlebte sie diese gigantische Eruption unversehrt?“, hoffte Kai.
„Schätzchen“, schnurrte die Erdbewohnerin grinsend, „dieser gigantische Ausbruch war sie!“
Was auch immer das heissen sollte.
„Ich verstehe die Bedeutung deiner Aussage zwar nicht, aber das ist nicht wichtig“, wisperte Kai, den pure Erleichterung erfasste. „Kommt sie zurück?“ - „Zunächst nicht. Sie muss eine wichtige Aufgabe erfüllen. Eine bedeutungsvolle. Für das Universum, Schätzchen. Nähere Details wird sie dir, ich zitiere, bei der nächstmöglichen Joggingrunde erläutern.“
Die Frau zwinkerte. Kai nickte.
„Danke für deine Nachricht!“, seufzte er.
Quietschendes Rattern des Stuhles bezeugte das Aufstehen der Fremden, die den besagten Schlüssel zückte.
„Gern geschehen!“, gab sie zurück, fluchte daraufhin und sprach: „So, hoffen wir, das Ding hat ausreichend Stoff für den Rückweg!“ - „Warte!“, hielt der Küchenjunge sie auf, „richtest du Maelle auch etwas von mir aus?“
Jessica hatte Yelina und Maelle auf der Erde abgesetzt, ehe sie den Schlüssel erneut für einen Abstecher nach Pura missbrauchte.
Shanti und Nica begrüßten den Neuzugang in Jessis Hotelzimmer, Chuck und Pan musterten das nackte Mädchen neugierig.
Sobald ihr provisorische Kleider überreicht worden waren, brachten drei Priesterinnen die erste Elemetkriegerin auf den aktuellen Stand der Dinge.
Für den gewaltigen Schlamassel, in dem Maelle momentan steckte, existierte ausschließlich ein Ausruf: „Gewaltige Scheiße!“
Im kleinen Bad dieser überschaubaren Residenz betrachtete Maelle ihr Spiegelbild.
Sie dachte daran, dass ihre Schwester das ersehnte Ziel nun erreichen würde, wenn vielleicht auch nur temporär. Wer wusste das zum jetzigen Zeitpunkt schon?
Ihre Eltern vermissten ihre älteste Tochter sicherlich nicht. Gewiss hielt der Abend für alle Beteiligen das beste Ende bereit.
Vor dem Gang ins Badezimmer hatte sich Maelle das beachtliche Jägermesser der Waldelfe ausgeborgt. Sie umfasste ihre dicken, langen Zottelhaare und fuhr mit der Klinge hindurch. Rote Strähnen fielen zu Boden. Der Bob reichte Maelle augenblicklich noch bis zum Kinn.
„Nie wieder“, richtete sie das Wort an sich selbst im Spiegel, „hält mich ein Feind am Schopf fest!“
Unmittelbar nachdem Maelle zu den anderen gestoßen, erschien Jessi.
„Wow, hübsche Frisur!“, lobte die Hexe, drehte sich im Kreis, verkündete den Anwesenden: „Morgen fahren wir zur Mall und kaufen dir passende Klamotten. Shanti, keine weiteren Tiere, damit das klar ist!“
Aha. Vielleicht klärte sie vorher jemand auf, was eine „Mall“ war. Und weshalb die Hexe gerade die Waldelfe beschimpfte.
Maelles Magen knurrte.
Jessica grinste und bot an: „Ich kontaktiere den Zimmerservice. Vielleicht ist uns das Glück hold und die bringen noch Essen! Teuer genug ist der Schuppen ja!“
Nica schritt ein: „Warte, Jessi!“
Die Schattenelfe legte ihren Arm um Maelles Schulter und grinste spitzbübisch.
„Weißt du Prinzessin, die Leute hier auf der Erde haben eine geniale Erfindung, genannt McDonalds! Lust, die auszuprobieren?“
Waldelfe Shanti und Lichtelfe Yelina bekamen glänzende Augen, dem komischen Reptil, das Chuck hieß, lief das Wasser im Mund zusammen. Wohl war Maelle in eine sehr heitere Runde geraten. Sie dachte an Kai. Der würde sich zu Hause fühlen. Luis auch.
„Von mir aus“, stöhnte Jessica, klatschte die Handfläche gegen ihre Stirn.
Kaum erledigt, schien ihr etwas einzufallen.„Maelle, dir darf ich vorher eine Antwort überbringen. Menschenskind, aber ich bin keine Telefongesellschaft! Legt euch künftig WhatsApp zu!“
Maelles Herz setzte kurz aus. Sie wusste, von wem die Nachricht stammte.
Jessica rückte nahe an sie heran, die Mitteilung war ausschließlich für ihre Ohren bestimmt.
„Ich soll dir sagen“, flüsterte sie der Prinzessin ins Ohr, „‚ich dich auch!‘“