Der Beginn eines neuen Tages

„Wenn sich einmal die Wege gekreuzt haben, vergisst man das nie. Es kann nur sein, dass man sich nicht daran erinnert.“
Chihiros Reise ins Zauberland

Manhattan, New York – Erde 

Sie hatte ein Déjà-vu.
Am Morgen erwachte Jessica in ihrem Bett, unfähig zu begreifen, ob sie träumte, oder tatsächlich die letzten Monate erlebte.
Ihr Kalender zeigte den 17.12.2018.
Unsicher krabbelte die Hexe aus den Federn und eilte zum Kühlschrank.
Wichtige Notizen pinnte sie altertümlich an die Kühlschranktür.
Tatsächlich! Ihr Krankenschein endete heute!
Oh, das bedeutete, sie musste zur Arbeit! Gerade einmal zehn Minuten verblieben zum Styling. Gut, dass Jessica darauf nie großen Wert legte!
Sie schnupperte an sich. Ginge noch, duschen konnte sie heute Abend.
Flugs schlüpfte sie in alltagstaugliche Klamotten.
Im hektischen vorbeistürmen, bemerkte sie den Mammut-Weihnachtsbaum in ihrem Wohnzimmer. Wieso um Himmels willen hatte sie bloß dieses riesige Ungetüm aufgestellt?
Draußen spickte Jessi in die Garage. Enttäuschenderweise kein GMC oder Dodge.
Auf dem Arbeitsweg, für welchen sie ein Taxi rief, blätterte Jessica durch die Kontakte ihres Smartphones, die erhofften Namen erschienen jedoch nicht.
Sie spähte aus dem hinteren Beifahrerfenster, erblickte allerdings im frühmorgendlichen Trubel keine bekannten Gesichter.
Massige Mengen an Arbeit warteten auf ihrem Schreibtisch. Viele Asylsuchende hatten sich entschieden, auszuwandern, suchten Obdach auf der Erde.
Wer verübelte es den armen Kreaturen, Ecliso glich einem Dreckloch!
Wobei, war sie dessen sicher? Hatte sie den schlechtgeredeten Planeten persönlich besucht oder bildete sie sich ihre Meinung ein?
Herrschaftszeiten, ihr Gedächtnis entsprach einem Sieb!
Die Woche verlief ähnlich dem Montag. Angesäuert aufgrund ihrer langen Abwesenheit sprachen ihre Kollegen nur wenig mit Jessica.
Ansonsten deuteten keinerlei Hinweise auf die erst kürzlich verhinderte Zombieapokalypse hin. War sie überhaupt je bevorgestanden?
Abgesehen davon. Von zehn außergewöhnlichen Mädchen fehlte jegliche Spur. Hatte Jessi sie real kennengelernt?
Jessicas Eltern luden die Hexe für Heiligabend ein. Sie konnte in ihrem Elternhaus übernachten und Weihnachten dort feiern. Das freute sie außerordentlich, so musste sie die Festtage schon nicht allein verbringen.
Apropos, wo war ihr Freund verblieben? Hatten sie Schluss gemacht? Hatte er sie ernsthaft betrogen?
Darum würde sie sich im neuen Jahr kümmern! Immerhin musste sie am Heiligen Abend vormittags zur Arbeit erscheinen. Gewissermaßen eine Art Strafe für ihre lange Abwesenheit.
War sie krank gewesen? Depressiv? Kurz vor dem Burn-Out?
Demotiviert stand Jessica am 24.12. um 06:00 Uhr morgens auf, duschte heiß, zog sich bequeme Kleidung an, startete ihre Kaffeemaschine.
Die ganze Zeit über trödelte sie. Dann fiel ihr etwas ein.
Hektisch suchte sie ihr Handy, wusste nicht mehr, wo sie es hatte liegen lassen.
Im Wohnzimmer blickte sie umher, in Erwartung einer plötzlichen Eingebung.
Ihre Augen blieben am Weihnachtsbaum hängen.
Warum in aller Welt hatte sie das dämliche Ding gekauft? Und wo?
Unter der mordsmäßigen Tanne lugte Geschenkpapier hervor.
Jessica kniete nieder, entdeckte zwei eingepackte Geschenke.
Wie lange lagen sie dort? Wichtiger, wer hatte sie deponiert?
Die Maschine piepte, ihr Kaffee blubberte. Köstlicher Duft veranlasste sie, in die Küche zu wandern und ihre gefüllte Tasse zu holen.
Obwohl sie spät dran war, gönnte sie sich noch diese eine Minute, ihre Geschenke auszupacken.
Ja, ja. Kindern durften Geschenke erst am 25.12. auspacken, schon klar!
Mit der einen Hand riss sie die umständlichen Verpackungen auf, die andere hielt den starken Kaffee fest.
Als sie den Inhalt offenbarte, fiel ihr der Becher aus der Hand. Die schwarzbraune Brühe tränkte den weißen Teppich.
Jessica japste nach Luft, Tränen stiegen ihr in die Augen.
Ein selbst gestaltetes Gemälde und ein aufgenommener Schnappschuss zeigten ihre Mädchen, plus Jessica selbst.
Die Hexe heulte Freudentränen. Jegliche Erinnerungen waren keine Einbildungen, sondern Realität!
Yelina hatte eines ihrer größten Meisterstücke in China angefertigt. Die Reisfelder Yunnans hatten ihr als Kulisse gedient, sämtliche Kriegerinnen waren beim Picknick gewesen.
Erstaunt prüfte Jessica das Bild. Faszinierend, wie die Lichtelfe mit ihren Farben umging!
Ebenso eindrucksvoll wirkte Laras Foto, die ihren letzten Besuch auf dem Weihnachtsmarkt für ihr Motiv gewählt hatte.
Natürlich! An diesem Abend hatte jede von ihnen pures Glück gefühlt.
Unglaublich, dass dieses Selfie so gut gelungen war! Kopf an Kopf quetschten sich die unterschiedlichen Charaktere aneinander, reihum lächelten sie.
Sogleich suchte Jessi einen passenden Platz. Jäh hielt sie inne.
Wie hatte sie das die ganze Woche nicht bemerken können? Auf ihrem Wohnzimmerschrank stand eine lebensechte Statue – in Form einer Eidechse.
Pardon, Bartagame!
Benommen wankte Jessi hin und fuhr mit den Fingerspitzen über den kühlen Stein.
„Mein Freund! Scheinbar ist unsere Aufgabe erfüllt. Dennoch schaffst du es nicht, mich allein zu lassen! Du nervtötender Sack!“
Unten auf der Plattform entdeckte Jessi eine Gravur.
„Chuck, the No Duck“.
Das erste Mal seit sieben Tagen lachte sie aus tiefster Seele.
Der Gongschlag holte sie in den Alltag zurück.
„Pulire Pulito!“, zauberte sie hastig.
Ihr Spruch reinigte den Teppich mitsamt der Kaffeetasse.
Ihre wertvollen Geschenke würde sie später versorgen, genauer gesagt, einen geeigneten Platz dafür finden.
Vor dem Gehen fiel ihr noch eine Sache ein. Geschwind schlüpfte Jessi ins Badezimmer und öffnete ihren kleinen Schrank. Im darin verstauten Schmuckkästchen hatte sie ihn die ganze Zeit über verwahrt. Ihren Mondstein!
Eifrig legte sie die Kette an. Währenddem erblickte Jessi ihr Spiegelbild. Sie lächelte.
Erfahrungen und Erlebnisse prägten den Menschen. Nicht länger war sie dieselbe Person, sondern eine gereifte Version und heute Morgen sah sie fabelhaft aus!
Jessica packte ihren Mantel mitsamt Handtasche, verließ die Wohnung allerdings nicht ohne Chuck auf Wiedersehen zu sagen.
Plötzlich schoss eine Antwort durch ihren Kopf.
„Wir sehen uns wieder, verlass dich darauf, Hexe!“
Sie drehte sich um.
„Oh, darauf freue ich mich, Chuck, mein Freund!“
Was für ein schöner Tag!
Jessica schlenderte die Straße entlang. Die winterlich kalte, klare Luft empfand sie als überaus angenehm. Ausnahmsweise nahm sie kein Taxi, genoss lieber den erfrischenden Spaziergang. Ob sie ein paar Minuten später erschien, scherte sie zweitrangig.
Ihre Intuition sagte ihr, die Mädchen waren wohlauf!
Sicherlich hatte Anna dafür gesorgt!
Jessica betete, sie mochten sich ihre Träume erfüllen!
In Kürze würde sie ihr Büro erreichen.
Schlagartig raste ein Junge an Jessi vorbei, der einen Ball vor sich her dribbelte.
Er kickte ihn einige Meter voraus, das runde Gummi prallte ungeschickt gegen einen Zeitungsständer und rollte angrenzend auf die belebte Fahrbahn.
„Ach du Scheiße!“, fluchte Jessica, als der Knabe plötzlich hinterher spurtete.
In akuter Gefahr veränderte sich die Ausstrahlung des Buben.
Unzweifelhaft, ein Dämonenkind!
„Verflixt!“
Nicht umsonst wählte die Königin Jessica.
Ihr reines Herz veranlasste sie jedwedem Wesen zu helfen, egal welcher Spezies. Sekundenschnell reagierte die Hexe.
Sie bannte einen Zauber, welcher die anbrausenden Autos kurzzeitig langsamer fahren ließ: „Adagio!“
Geschwind hechtete sie via Dämon, der eben seinen Ball aufhob, griff das Kind und zog den Lausbuben rechtzeitig zurück.
Millimeter fehlten, dass die Pkws beide überrollten.
„Verdammt, du Bengel! Niemals darfst du ungesichert auf die Straße rennen, verstanden? Begleitet dich denn kein Erwachsener?“- „Doch ich“, erfolgte eine prompte Antwort.
Erschrocken fuhr Jessica herum. Ein ziemlich gut aussehender Mann stand vor ihr.
Okay, er sah nicht gut aus, er war atemberaubend!
Große, männliche Statur, schwarze Haare und Augen, markantes Gesicht.
Ach, obendrein ein Dämon!
„Danke für die Rettung meines Neffen!“, sagte er charmant, seine Zähne ebenso perfekt wie seine Wangenknochen, „ich kaufte gerade einen Bagel und Kaffee, da kam er mir abhanden.“
„Abhandenkommen“ konnte man das auch nennen!
„Ist ja glücklicherweise nichts passiert“, gluckste Jessica schüchtern.
„Um Himmels willen, reiß dich zusammen!“, dachte sie.
„Ach, wissen Sie“, fuhr der scharfe Onkel gut gelaunt fort, die Tatsache des Beinahe-Unfalls großzügig ignorierend, „meine Schwägerin ist eine Gebärmaschine. Aktuell laufen drei weitere Flegel herum, um die sich mein Bruder aktuell kümmert. Wenn einer davon kaputtgeht, machen ihn die Ehegatten einfach wieder neu.“ - „Das ist ein Scherz?“, entfuhr Jessica empört.
Dämonen besaßen wirklich einen komischen Humor!
Unbekümmert zuckte ihr Gesprächspartner die Achseln, schenkte Jessi gleichzeitig ein bezauberndes Lächeln, wie er den Satansbraten packte, welcher augenblicklich erneut abhandenkommen wollte.
„Oh Jessi, der Typ ist gefährlich für dich!“, mahnte ihr Verstand.
„Ihnen fehlt nichts?“, interessierte ihn. Jessica kapierte die Frage nicht.
Er bemerkte ihre Verwirrung offensichtlich, fügte sogleich hinzu: „Ich bin Arzt. Sie machten einen Hechtsprung auf die Straße.“
Auch das noch, ein gebildeter Kerl! Diese Dämonen schlichen sich echt überall ein, es gab schon Ärzte unter ihnen!
„Nein, alles in Ordnung. Danke! Ihnen und ihren vollständigen Neffen ein schönes Fest!“
Schnurstracks in Eiltempo lief Jessica davon.
„Warten Sie!“, forderte der scharfe Doktor, „ich gebe Ihnen meine Karte. Sollten Symptome auftreten, kontaktieren Sie mich jederzeit gerne!“
Kritisch beäugte Jessi das Visitenkärtchen, das er ihr entgegenstreckte.
Chirurg, nett!
„Der Krankenhauskaffee ist übrigens gar nicht so schlecht!“, erwähnte er im Nebensatz.
Jessica schaute ihn an. Er grinste.
Hm. Möglicherweise kam sie darauf zurück.
Sie nickte, schenkte ihm ihrerseits ein strahlendes Lächeln.
„Frohe Weihnachten!“, wünschte sie.
Dann ging sie endgültig fort von ihm. Nun ja, vorerst zumindest.
Ihre fröhliche Stimmung nahm kein Ende.
Jessicas Mama tippte eine WhatsApp Nachricht. Die enthielt das Menü für den Abend. Neben Zimtschnecken zum Nachtisch, welche Jessi vergötterte, tischte die leidenschaftliche Köchin deftigen Braten auf.
Fein, allerdings sah Jessica dem Dessert entgegen!
Am heutigen Vormittag erwartete sie ausschließlich eine Kundin. Scheinbart eine Ausreißerin von Ecliso.
Summend bereitete Jessi die Papiere vor, stellvertretend für einen krank gewordenen Kollegen. Immer wieder huschten ihre Gedanken zum scharfen Doktor.
Jemand klopfte an der Tür ihres kargen Büros. Das musste die Flüchtige sein.
„Herein!“, bat Jessi.
Sie sortierte den Papierstapel und blickte auf.
Wäre sie eine Zeichentrickfigur gewesen, wäre sie hundertprozentig vom Stuhl gefallen!
Eine attraktive Frau betrat das Zimmer, deren Haare ihr bis zum Gesäß reichten. Vollständig gekleidet in Leder, samt hohen Hacken, vermittelte sie kriegerische Gefahr. Ungewöhnlich an ihr, im Vergleich zu Normalsterblichen, erschienen die lila Haarsträhnen und die fliederfarbenen Augen.
Eine Armkette zierte ihr rechtes Handgelenk.
„Hallo!“, stammelte Jessica, die unvermittelt in Schweiß ausbrach.
„’Tschuldigung, wen muss ich ficken, um eine Aufenthaltserlaubnis auf der Erde zu kriegen?“
Eindeutig und zweifelsfrei. Nica!
Jessica grölte, erntete deshalb einen verwirrten Blick.
„Glaub mir, Mädchen, die Männer hier sind nicht so der Hit! Lass uns lieber deine Alternativen prüfen.“
Nica hatte offenbar ihr Erinnerungsvermögen verloren, oder die Magie hatte es ihr geraubt. Falls diese Tatsache auf die anderen Mädchen zutraf, wunderte sich Jessica nicht mehr, dass keine von ihnen Kontakt aufgenommen hatte.
„Aha und jetzt?“
Prüfend beäugte die Schattenelfe Jessi.
„Nimm erst einmal Platz, Mädchen, ich helfe dir! Dein Edelstein gefällt mir übrigens sehr! Ein Hämatit?“ - „Ja! Kennen Sie sich aus?“
Jessi nickte.
Einige Minuten hielten die Frauen Small Talk. Die Hexe verfügte über einen entscheidenden Vorteil: Sie kannte Nica und deren Vorlieben. Hauptsächlich für Essen!
Geringfügig fasste die Schattenelfe Vertrauen und vertraute sich ihrer einstigen Freundin an. Leicht druckste sie herum.
„Äh, ich habe noch einen Kumpel mitgebracht, ist das ein Problem?“
Mühevoll verkniff sich Jessica ein Lachen.
Im Prinzip kannte sie die Antwort, trotzdem hakte sie nach: „Es wird schwieriger, zwei Geflüchtete unterzubringen. Aber wir kriegen das hin! Wo ist er und wie lautet sein Name?“ - „Cool!“
Über beide Ohren strahlte Nica.
„Draußen sitzt er, ich hole ihn mal! Übrigens, er heißt Horst!“