Chuck, the No Duck
„Manchmal nehmen die kleinsten Dinge den größten Platz in unserem Herzen ein.“
Winnie Puuh
Genau 0 passierte in den nächsten Tagen.
Am Morgen nach der Begegnung erwachte Jessica in ihrem Bett putzmunter und erfrischt.
Keinerlei Spuren oder Hinweise deuteten auf das vermeintliche Treffen mit der Königin von Licht und Magie hin, außer eine verblasste Erinnerung.
Ebenso gut könnte sie ein Traum gewesen sein.
Darüber war sich Jessica mit jeder verstrichenen Stunde sogar sicherer, ihr Leben verlief mit täglicher Routine einfach weiter.
Eine unspektakuläre Arbeitswoche neigte sich gen Ende.
Am Freitagabend holte Jessica das Diner bei ihren Eltern nach. Die Absage am Montag schob sie auf eine leichte Depression, ausgelöst durch ihre sie nicht auslastende Arbeit und Beziehungsflaute. Für ihre Mutter zählten Ausreden einer angeblichen depressiven Phase nicht. Eigentlich ließ sie schlechte Launen infolge von Auslösern jeglicher Art niemals gelten. Knapp zwei Stunden, im Verlauf derer Jessica appetitlos ihr Hühnchen mit Bohnen hinunterwürgte, erklärte die Mutter ihrer Tochter, wie dankbar jeder Mensch für Arbeit und das von Gott gegebene Leben sein sollte. Heutzutage seien Jobs ja nicht selbstverständlich. Indem er seine Ehefrau in ihren Ansichten bedingungslos bestärkte, brachte sich Jessicas Vater in das Gespräch ein.
Für die Beziehungsprobleme ihrer Tochter zeigten sie wenig Verständnis. Kein Wunder, ihre Ehe hielt bereits seit über 20 Jahren. Das Essen im Familienkreis entwickelte sich letzten Endes zu einem Besuch beim Psychologen.
Ausnahmsweise klingelte ihr Wecker am folgenden Samstag nicht, somit schlief Jessica aus. Nach dem gestrigen Fiasko gönnte sie sich ein bisschen Entspannung. Indessen sie die Augen aufschlug und den neben dem Bett stehenden Nachttisch nach einem Taschentuch mittels ihrer Hand absuchte, ertastete sie ein kleines, quadratisches Ding. Leicht verwundert nahm sie es vom Tisch, hielt es ins Licht, betrachtete es von allen Seiten.
Ein Schmuckkästchen? Plötzlich hellwach, setze sie sich auf.
„Du kannst nur von Alejandro stammen!“, murmelte Jessica.
Aufgeregt öffnete sie das kleine Behältnis.
„Oh wow!“, keuchte sie.
Völlig unerwartet kam eine fragile Silberhalskette zum Vorschein, ergänzt um einen runden Anhänger. Eingehend inspizierte Jessica den Schmuck, mit dem Ergebnis, keinen gewöhnlichen Modeschmuck in Händen zu halten.
War es denn möglich? Ein echter Mondstein? Schlagartig hüpfte Jessica von ihrer weichen Matratze, stolperte beim Aufkommen beinahe über ihren Bettvorleger.
Flugs raste sie ins Badezimmer, sprang unter die Dusche, rasierte sich gründlich, kämmte anschließend ihre schulterlangen, hellblonden Haare, trug abschließend Mascara auf.
Prüfend betrachtete Jessica ihr Spiegelbild. „Okay, ganz so schlimm siehst du gar nicht aus“, äußerte sie zufrieden.
Wahrlich würde sie jeder Asiate um ihre helle Haut beneiden!
Hellblaue Augen zierten ein zartes Gesicht.
Fertig mit Körperpflege, legte Jessica die Kette an.
Unglaublich schön glitzerte der gräuliche Mondstein, fast so als ob er tatsächlich Mondlicht im Innern einfasste. Geschwind schlüpfte Jessica in Jeans, kombinierte ein schlicht weißes T-Shirt dazu. Obwohl Alejandro und sie erst gegen Mittag verabredet waren, gedachte sie ihn zu überraschen und zum Frühstück einzuladen. Jessica wohnte in der 83 Street, Upper West Side, Alejandro in der 76 Street, Upper East Side, ihre Wanduhr zeigte 09:30 Uhr.
Erwischte sie direkt ein Taxi, sollte sie rechtzeitig bei ihm sein, bevor er zum Fitnessstudio aufbrach. Alejandro arbeitetet meistens bis tief in die Nacht. Daher schlief er am Wochenende gerne aus. Glücklicherweise gabelte ein Cab Jessica tatsächlich keine fünf Minuten später auf.
Während der Fahrt streichelte Jessica ihren Mondstein. Dabei erinnerte sie sich an ihr Kennenlernen. Alejandros Eltern waren von Spanien nach Amerika ausgewandert, in der Hoffnung, den amerikanischen Traum leben zu können.
Aktuell wohnten sie in Napa und bewirtschafteten ein Weingut. Manchmal feierten sie Feste zusammen, ansonsten sah Jessica die netten Älteren kaum.
Das letzte Treffen war an Thanksgiving gewesen, überlegte sie. Ihr Sohn, noch in Spanien geboren, war in den USA aufgewachsen. Im Anschluss an die Highschool arbeitete er seither bei einer Baufirma, deren Aufgabe die Sanierung alter oder historischer Gebäude war. Früher als „das Mädchen für alles“ bekannt, hatte es Alejandro inzwischen bis zum stellvertretenden Bauleiter gebracht. Die anspruchsvolle Beschäftigung schob er als Grund vor, wenn er sie mal wieder vertröstete. Das erste Mal war sie ihm im Alter von 18 Jahren begegnet. Zeitgleich hatte sie ihre Lehre beim Magischen Rat absolviert. Damals hatte sie ihren Ausbilder auf eine Hausbesichtigung begleitet. Der Rat hatte die angebotene Wohnung zur dauerhaften Bleibe für neu angekommene Asylsuchende von Ecliso umfunktionieren wollen. Alejandros Firma hatte das Mehrfamilienhaus, inclusive dem Apartment, modernisiert. Im Treppenhaus war Jessi dem gut aussehenden Arbeiter begegnet. Während ihr Mentor mit dem Makler verhandelt hatte, hatten die beiden Telefonnummern ausgetauscht.
Fünf Jahre lag das Ereignis nun zurück. Er, drei Jahre älter als Jessica, immer noch ihre erste und einzige große Liebe, nannte sie „Corazon“. Sein Herz.
Kurz überlegte sie, auf welche Weise er den Schmuck bei ihr deponiert, ohne, dass sie etwas bemerkt hatte. Vermutlich hatte er sich mit seinem Ersatzschlüssel für ihr Zuhause nachts in ihr Schlafzimmer geschlichen.
Ja. So musste es gewesen sein.
Am Zielort angelangt nahm Jessi zwei Treppenstufen auf einmal.
Analog Alejandro hatte auch sie einen Schlüssel zu seiner Wohnung.
Leise öffnete sie die Tür. Falls er noch schliefe, wollte sie ihn nicht erschrecken. Direkt nachdem sie eingetreten war, hörte sie Geräusche aus seinem Schlafzimmer. Verdutz hielt Jessica einen Moment inne.
Stöhnen? Abgesehen davon hing ein seltsamer, ihr nicht vertrauter Geruch in der Nase.
„Das passiert nicht?“, hauchte Jessi, „bitte, lass es anders kommen, als ich vermute!“
Wohin Jessi ihr Gebet auch schickte, eine Antwort erhielt sie nicht.
Vor der entsprechenden Zimmertür angelangt, drang das offensive Gestöhne laut und deutlich an ihr Ohr. Abrupt setzte ihr Herz für einen Moment aus, Tränen stiegen in ihre Augen. Bereitwillig schluckte Jessica den Kloß in ihrem Hals, rüstete sich geistig, riss die Tür auf und schritt ins Schlafzimmer.
Eindeutiger konnte die Situation wirklich nicht sein!
Entsetzt stellte Jessica fest, dass eine splitternackte, fremde Frau momentan auf ihrem Freund Rodeo spielte. Offensichtlich genoss er die kreisenden Hüftbewegungen seiner Reiterin in vollen Zügen.
Die weitere Person im Raum ignorierten die Liebenden im Rausch ihrer Ekstase geflissentlich. Nunmehr blieben Jessica zwei Möglichkeiten.
Erstens – verschwinden, heulen, ihren Kummer in Schokolade und Rotwein ertränken.
Ganz gleich, wie verlockend Schokoladeneis klang, sie entschied sich für Option zwei.
„Cade giù!“, raunte Jessica.
Trotz geringer Lautstärke ihrer Stimme entfaltete, kaum ausgesprochen, der Zauberspruch seine verheerende Wirkung. Die Reiterin flog in hohem Bogen von ihrem Ross. Gemäß ihrer anschließend ausgestoßenen Flüche, landete sie scheinbar sehr unsanft auf dem rauen Parkett.
Mit der nicht mehr vollbusigen Rothaarigen auf seinen Lenden blickte Alejandro direkt ins wutentbrannte Gesicht seiner betrogenen Freundin.
„Corazon!“, presste er aufgelöst hervor.
Rothaar blickte ebenfalls überrascht vom Teppich auf.
„Wer ist das, Amado?“, fragte das Miststück doch wahrhaftig.
Bevor Alejandro überhaupt den Mund aufmachen konnte, brüllte Jessica: „Amado? Geliebter? Dein Ernst? Wie lange fickst du diese Silikonschlampe denn schon?“
In der Regel legte Jessica Wert auf eine gepflegte Sprache. Beim Anblick ihres Kerls, dessen olivfarbene Haut durch den Sex mit einer anderen schweißnass glänzte, vergaß sie ihre gute Kinderstube.
Alejandro stolperte aus dem Bett, Strähnen seiner schwarzen Schmalztolle klebten an Gesicht und Hals.
„Corazon, das ist nicht so …“ – „… Wie es aussieht?“, beendete Jessica seinen Satz, verschränkte neugierig die Arme vor der Brust, gespannt darauf, wie er sich herausreden wollte.
„Hey, meine Brüste sind vollkommen naturbelassen!“, kommentierte die Vollbusige aberwitzig, zog jedes Wort dabei in die Länge. Slang eben.
„Wenn das dein einziges Problem ist, du Schlampe, nimm deine beiden natürlich chirurgischen Totschläger und verschwinde!“ - „Du nennst mich Schlampe, willst mich obendrein hinauswerfen?“, brüllte Rothaar, gestikulierte wild und leidenschaftlich mit den Händen, sodass Jessi ihre krallenartigen, pink lackierten Fingernägel beachten musste. „Frag doch mal deinen Freund, wer von uns gehen soll oder in wem er lieber drinsteckt!“
Das war’s! Aus den Augenwinkeln erkannte Jessie Alejandro, der noch eine beschwichtigende Geste machte. Aber, zum Teufel! Jessi sah rot.
„Ich sagte, Schlampe, RAUS HIER! HAU AB!“
Entfacht durch ihren Zorn, drang Zauberkraft an die Oberfläche, prickelte auf Jessicas Haut.
Begründet ihrer Rage ließ Jessi die Energie unbewusst frei, eine Welle an Magie entkam ihrem Körper, sprengte Fenster, Tür, Kleiderschrank und sämtliche Regale des Zimmers. Zusammen mit der Sprengung ging lautstarkes Getöse einher. Deckung suchend, kauerten ihr Freund sowie die fremde Frau auf dem Fußboden.
Entsetzt fragte Alejandro die immer noch am gleichen Platz stehende Jessica: „Was war das? Hast du das verursacht?“ - „Sei froh, dass du die Antwort nicht kennst und bete darum, sie nie zu erfahren!“
Auf dem Absatz kehrt machend, flüchtete Jessica aus der Liebeshöhle.
„Corazon!“, rief ihr Alejandro hinterher.
Jessi blieb einen Moment stehen.
„Deine Kette bekommst du zurück! Du kannst sie deiner Amante mit Naturtitten schenken!“
Beim Wort Naturtitten, hob Jessica eine Augenbraue.
Allein diese Geste führte zum Aufspringen der Eingangstüre.
Alejandro und seine Amante zuckten zusammen.
„Corazon, welche Kette meinst du?“, wimmerte er, beide Arme zum Schutz vor dem Gesicht verschränkt.
Was für ein Weichei! Warum war ihr das nicht vorher aufgefallen?
„Welche Kette?“, dachte Jessica, ohne ihre Gedanken laut auszusprechen, „er weiß von keiner Kette? Von wem …?“
Letztmalig umwendend drohte Jessi: „Ich will dich nie wieder sehen! Wag es nicht, noch einmal meine Nähe zu suchen!“
Anschließend verschwand die Betrogene aus der Wohnung des Betrügers, er selbst blieb mit seiner nackten Geliebten und einem völlig zerstörten Schlafzimmer zurück.
Auf dem Heimweg, nachdem Wut und Adrenalin weitestgehend verrauchten, liefen die Tränen.
Gerne mochte sich Jessica trotz der frühen Uhrzeit betrinken und mit Schokolade vollstopfen.
Scheinbar gönnte ihr das Schicksal selbst diese Kleinigkeit nicht.
Jessi, aktuell zu Fuß unterwegs, um einen klaren Kopf zu bekommen, bemerkte unter den vielen Menschen, die am Samstag vergnüglich durch die Straßen schlenderten, ein Pärchen. Die hübsche, gut gekleidete Frau bemerkte wohl nicht, dass ihr Begleiter ein Dämon war. Wie sollte eine Normalsterbliche auch? Wobei die Aura des Dämons – betrachtet mit Jessicas Augen – dunkel strahlte und über die Maßen böse wirkte. Alle Alarmglocken schrillten, Jessis Nackenhaare standen stramm.
Grundsätzlich sollte sie den Rat kontaktieren. Die vierte Abteilung bestand aus Zauberern, die pauschal gesagt Polizei ähnliche Funktionen ausübten.
Doch was sagte Jessica ihnen? Noch passierte ja nichts, Dämon und Frau spazierten verliebt die Madison Ave entlang.
Zögerlich folgte die Hexe dem Pärchen.
Klasse, jetzt benahm sie sich schon wie eine Voyeurin!
Das Handy für den Notfall gezückt, beobachtete Jessica sämtliche Bewegungen des dunklen Wesens.
Manche dämonische Arten raubten die Lebenskraft von Menschen. Anschließend fügten sie diese ihrer eigene hinzu, erhöhten ihre Stärke und Lebensspanne. In Flirtlaune säuselte der Dämon seiner Begleiterin süßliche Dinge ins Ohr. Lächelnd streichelte sie daraufhin seinen Arm. Unvermittelt kam Jessica das Kotzen!
Generell wirkte die Szene schon widerlich, bedachte man seine Abstammung. Doch heute passte ihr die Szene darüberhinaus nicht!
Kichernd verschwand das Paar in einer Gasse. Der schmale Weg grenzte an weitere und endete schließlich in einem Hinterhof.
Geschützt verharrte Jessica hinter der Mauer, außer Sichtweite.
Als sie um die Ecke lugte, fand Spionin Jessi ihre Ziele knutschend vor, die Frau lehnte gegen die innere Hofmauer. Vielleicht täuschten sie ihre Sinne und der Kerl beabsichtige gar nichts Böses. In einen Porno platzte sie vorhin bereits, ein zusätzlicher Akt musste wirklich nicht sein!
Gerade als Jessi ihr Handy einpacken und davongehen wollte, riss der Dämon sich von der Frau los, die weiterhin an der Hofwand stand.
Würde Jessica ihn direkt ansehen, erlebte sie die unmittelbare Transformation seiner vormals menschlichen Pupillen in tiefes Schwarz. Zudem ersetzten scharfe Krallen die Hände.
Seine Aura vibrierte förmlich!
„Also doch!“, stöhnte Jessica.
Sekündlich blieb ihr keine Zeit mehr, den Rat zu kontaktieren – sie musste handeln!
Eilig sprang sie aus ihrem Versteck, ehe der Dämon über seine menschliche Nahrung herfiel und ihr Leben raubte.
Wohl spürte er Jessis Bewegung, postwendend wandte er ihr sein Gesicht zu.
„Uh! Hätte das Mädel vorher gewusst, was für ein hässliches Teil du bist, steckte sie dir die Zunge bestimmt nicht in den Hals!“, frotzelte Jessica.
Selbstbewusstsein, die halbe Miete in einem Augenblick wie diesem!
Das Biest lächelte.
Wenn man die Verzerrung seiner Fratze so nennen konnte!
„Nun“, zischte es „Wenn ich mit der da fertig bin, stecke ich dir als Zugabe die Zunge in den Rachen! Und vielleicht noch was anderes!“
Er lachte dreckig.
Pfui Teufel!
Flink wie ein Windhund bewegte er sich auf einmal auf Jessica zu.
„Circolo della Strega!“, rief Jessica unvermittelt und beschwor dadurch einen Hexenzirkel.
Ein Kreis, dessen Rand verschnörkelte Runen schmückten, umfasste sie und den Dämon. Innerhalb des gewonnenen Wirkbereichs sprach Jessica ihren ersten Zauber aus: „Protego!“
Kurz bevor sie das Ding mit der Monsterfratze ansprang, errichtete Jessi einen Schutzwall, der den Dämon nicht nur aufhielt, sondern ihn ordentlich zurückwarf.
Händewedelnd segelte er durch die Luft.
Wütend attackierte er erneut, nur um abermals zurückgeschleudert zu werden.
„Du Fotze!“, zischte Fratzengesicht.
Dämonen drückten sich immer so vulgär aus.
„O. K., Jessica, denk nach! Welcher Zauber hält ihn auf?“
Unglücklicherweise durchschaute der Dämonenabschaum ihre Gedanken.
Mit einem Grinsen im Gesicht, welches Jessica das Blut in den Adern gefror, drehte sich der Teufel zur Menschenfrau, die starr vor Angst in der Ecke des Innenhofes kauerte.
„Mag sein, dass ich dich im Moment nicht zerfetzen kann, Hexe. Die da aber schon!“
Unverhohlen sprang er auf die Sterbliche.
„Nein!“, brüllten Jessica und die Frau gleichzeitig.
Ohne mögliche Auswirkungen zu beachten, löste Jessi ihren Schutz, verlagerte den Wall selbstlos auf die Frau. Das Monster wartete nur darauf.
Voller Kalkül kehrte er um. Keineswegs imstande für eine nächste Aktion, taumelte Jessi rückwärts. Ungeschickt versuchte sie dem Angriff auszuweichen, duckte sich folglich. Allerdings vermutete der Dämon ihre Absicht. Mittels Klauen schlitzte er Jessica das T-Shirt auf, jagte seine Zähne in ihre Schulter. Obwohl Jessi diejenige war, welche verletzt wurde, hörte sie die Menschenfrau schreien. Selbst, nicht in der Lage einen Ton abzugeben, sackte sie auf den Boden. Im Geiste zerfleischte sie sich selbst.
„Was für eine armselige Hexe bist du eigentlich? Gibst eine tolle Superheldin ab! Niemals würde die Königin einen Schwächling wie dich erwählen!“
Indessen Blut ihren Körper hinuntertropfte, der Dämon zum nächsten Angriff ansetzte, kamen Jessica die Worte einer TV-Psychologin in den Kopf.
„Liebe Zuschauer, bedenkt stets, jedes Individuum bestimmt sein Schicksal selbst, indem es sich durch seine eigenen Gedanken positiv oder negativ beeinflussen lässt. Danach verläuft sein ganzes Leben!“
Wer behauptete, Fernsehen würde nicht bilden?
Solange Jessica noch stehen konnte, würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, zumindest eine Unschuldige zu beschützen!
„Circolo della Strega“, krächzte sie schmerzerfüllt.
Die vermutliche Augenbraue des Dämons schoss in die Höhe.
„Oh! Die Hexe wehrt sich! Süß!“ - „Fahr zur Hölle!“, konterte Jessi.
Doofes Lachen.
„Süße, was glaubst du, wo ich herkomme?“
Der Dämon packte sie, seine Klauen fuhren über ihre Oberschenkel, derweil blutete ihre linke Schulter stark.
Wegen neuerlicher Verletzungen an den Beinen knickte Jessica ein.
„Jetzt, Miststück, reiße ich dir den Kopf ab!“, versprach der Abschaum.
„Nicht aufgeben! Steh auf!“
Jessica mobilisierte ihre verbliebenen Kräfte.
Leider standen ihr keine mehr zur Verfügung!
Im Gegenteil, ihre Beine fühlten sich taub an, während der Rest ihres Körpers vor Schmerz zuckte. Panisch blickte zur Menschenfrau.
„Verdammt, steh auf, du blöde Kuh! Ansonsten ist sie verloren!“
Krallen fuhren auf Jessica herab, ihr Blut pulsierte.
Ihr Herz schrie: „STEH AUF!“
Fließende Magie schloss durch ihre Adern.
Jessica stieß mit der flachen Hand ihren Angreifer zurück.
Begleitet durch einen Schwall magischer Energie, flog er rückwärts.
Selbst erstaunt über ihr Schaffen, benötigte Jessi einen Moment zum Sammeln.
Dabei bemerkte sie, dass ihr Mondstein vibrierte. Er leuchtete hell, Wärme durchströmte Jessicas Körper.
„Welch angenehmes Gefühl!“, dachte sie, vollkommen eins mit dem warmen Gefühl in ihrem Bauch.
Stopp! Diesen Impuls kannte die Hexe, erlebte ihn bereits mehrere Male!
„Mondlicht!“
Beinhaltete ihr Stein ernsthaft reines Mondlicht? Wie war das möglich?
„Hey, Hexe“, blökte der Dämon, rappelte sich erholt von seinem Schock wieder auf „Kein Plan, was du da eben fabriziert hast, aber das war gerade deine letzte Gelegenheit!“
Jessica hörte ihn nicht, nahm seine Worte nicht wahr.
Die einzigen Sätze, denen sie lauschte, entstammten einer anderen Person.
„Ich erwählte dich!“
Fest entschlossen blickte Jessica ihrem Feind ins Gesicht.
Ähnlich einer Schlange renkte der seinen Kiefer aus.
Oh Mann! Etwas Ekelhafterem wohnte sie bisher nicht bei!
Die Sterbliche augenscheinlich auch nicht, denn sie übergab sich, völlig grün im Gesicht.
Beim Ausrenken blieb es keineswegs!
Spitze, scharfe Zähne schossen aus seinem übergroßen Maul, das die Augen des Monsters verdeckte.
Kein Wunder, der Mund erreichte just die Größe eines Fußballs!
„Heilige Scheisse!“, entfuhr Jessica.
Sie blickte zur Frau, die in Schockstarre glitt.
Gut, wenigstens mischte sie sich nicht ein, oder stand im Weg!
Eine Hand legte Jessi auf den Mondstein. Intuitiv wiederholte sie den Zauber, den ihr Herz ihr sagte: „Luna, mi senti! Mond erhöre mich!“
Selbst in einem Moment wie diesem lächelte die Hexe, dachte dabei an ihre Lieblings-Kinderserie.
Unverzüglich gab ihr Anhänger Mondlicht ab. Jessica nahm die energetischen Wellen dankbar auf. Zauberkraft floss durch ihre Adern, mehr und mehr, bis ihre Haut glühte, all ihre Nerven spannten. Die magische Reizüberflutung geschah im Bruchteil eines Moments, im nächsten trabte der Dämon bereits auf sie zu. Na ja, eigentlich bewegte sich das abartig gespenstige Maul, aber das war letztlich nur eine Kleinigkeit.
Im Gegensatz zum letzten Angriff erfasste Jessica jeden Schritt ihres Gegenübers, seine Bewegungen deutete sie klar und deutlich.
Zu allen bereit beschwor die Hexe ihren Zirkel: „Circoli delle Strege!“
Weniger einen, Jessica rief gleich mehrere herbei!
Viele Kreise verschlangen ineinander, vergleichbar eines Mandalas. „Proteggerla!“ Jessica deutete mit ihrem linken Zeigefinger auf die Sterbliche, ein Schutzzauber erschien.
„Muro invisibilie!“ Die rechte Hand malte einen unsichtbaren Bogen in die Luft und erzeugte einen durchsichtigen Wall, ähnlich dem des Magischen Rats, damit kein anderer Mensch zufällig in das Geschehnis geriet.
Inzwischen bei ihr angekommen, roch Jessica den fauligen Atem des Dämons.
Ganz deutlich sah sie, wie das Böse zum letzen Biss ansetzte.
Ruhig im Geiste hob Jessi ihren rechten Zeigefinger, deutete in den Rachen des Monsters und zauberte: „Alle guten Hexen, gebt mir Kraft. Königin, gestehe mir deiner Krieger Macht. Mondlicht leih mir deine Energie. Helft mir, das Böse zu bekriegen und für das Gute zu siegen! Sancto!“
Der Mondstein erstrahlte, sendete unvorstellbares Licht durch ihren Körper.
Nie erlebte Macht flutete ihr Blut, entlud sich an der Spitze ihres Fingers und fuhr in den Schlund des Monsters. Geplagt von unsäglichen Qualen, jaulte der Dämon auf. Das Maul bildete sich zurück, er nahm seine vorige Menschengestalt an. Rückwärts taumelnd rieb er sich mit seinen gebliebenen Klauen Gesicht und Hals. Dass er sich die Haut aufschlitzte, registrierte er kaum. Plötzlich fing er an zu schmelzen. Igitt, würg! Röchelnd kauerte der Klumpen Hackfleisch auf dem Boden. Mit einem letzten Todesschrei verendete die Hackmasse namens Dämon, die Asche seiner Gestalt verwehte mit dem Wind.
Jessica blickte zur Menschenfrau, die immer noch reglos an der Mauer neben ihrem Erbrochenen lehnte. Ausnahmslos wenige Hexen verfügten über die Fähigkeit der Gedächtnismanipulation. Sie war keine davon. Doch immerhin konnte Jessi der Frau die letzten Minuten vergesslich machen. Neben sie kniend, legte Jessica ihr die Hand auf die Stirn. Schockiert, nicht imstande für eine Reaktion, ließ die Frau das Folgende geschehen.
„Dimentica“, bat Jessica.
„Vergiss, was du hier gesehen hast, lebe dein Leben weiter! Habe ein glückliches und erfülltes Dasein! Nun, schlaf! Dormi!“
Sobald der Zauber gewirkt hatte, schlenderte Jessica aus der Gasse, rief unterwegs den Notruf und vermeldete den Zusammenbruch einer jungen Dame in einem Innenhof. Regen fiel. Körperlich und geistig erschöpft, fing Jessi an zu lachen.
„Bin ich in einem beschissenen Film? Warum regnet es jedes Mal, wenn so etwas passiert?“
Super, ihre Jimmy Choos standen unter Wasser! Déjà-vu!
Zu den harten Fakten: Die Königin von Licht und Magie hatte Jessica also tatsächlich zur Kriegerin auserkoren. Eine Superhexe mit einer magischen Halskette. Zudem hatte ihr Freund sie betrogen. Wie viele Male, das stand in den Sternen geschrieben. Offenbar vertrugen Jessis Sandalen keine Feuchtigkeit, obendrein hatte sie eben einen Dämon vernichtet und hinkte jetzt durch die Stadt. Überall an ihren Klamotten klebte Blut, gegessen hatte sie noch keinen Happen. Ein gewöhnlicher Samstag.
Schön, ihr Sinn für Sarkasmus funktionierte einwandfrei.
Was sahen ihre nächsten Schritte vor? Kaffe. Viel Kaffe!
Kaum, dass sie im Coffeeshop um die Ecke ihres Apartments einen großen Latte macchiato bestellt, nebstdem für eine entsetzte Stimmung unter Gästen sowie Personal gesorgt hatte, erreichte sie ihr Zuhause durchnässt und ausgelaugt. Ein Kaffeevollautomat stand zwar in ihrer Küche bereit, doch die Latte wollte sie sich nach diesem Vormittag gönnen. Erschöpft, mit dem Pappbecher in der Hand, sank Jessica auf ihre Couch. Am schönsten war es doch Zuhause! Zwar maß ihre Wohnung bloß 55 Quadratmeter, bestand aus Schlaf- und Wohnzimmer, Bad, Einbauküche, doch ihr genügte der Raum.
Bei den Preisen in Manhattan und schlicht, weil finanziell nicht machbar, bewohnte sie kein größeres Apartment.
„Eine Dusche wäre jetzt eine optimale Idee!“, brabbelte sie vor sich hin, trank einen Schluck heißen Kaffee.
Dann: „Große Königin! Einen Dämon besiegt und schon liegt die Alte halb tot auf der Couch!“
Vor Schreck spuckte Jessi den Kaffee in hohem Bogen aus.
„Wer hat das gesagt?“, fuhr sie den imaginären Eindringling an.
Antwort: „Hatte die Königin mein Auftauchen nicht angekündigt?“
Oh! Die angebliche Unterstützung war eingetrudelt. Aber wo? Blinzelnd durchforstete Jessi den Raum. Niemand anwesend.
„Hier bin ich.“
Woher kam das?
„An der Wand hinter deiner Couch!“
Abrupt fuhr Jessica herum. Und wiederholt an dem beschissenen Tag stockte ihr der Atem. Über ihrer schönen hellgrauen Couch klebte eine …
Eine?
„EIDECHSE!“, schrie Jessi das grüne Teil an.
„Brüll hier nicht herum, meine Ohren sind sensibel!“, erwiderte es „Außerdem, Bartagame, nicht Eidechse!“
Als wäre es das Normalste auf der Welt, erklärte die „Bartagame“: „Chuck, freut mich, Hexe. Auch, wenn mich deine Kondition entsetzt!“ - „Chuck?“, versicherte sich Jessi, richtig verstanden zu haben.
„Ja, sage ich doch! Schwerhörig bist du ebenfalls?“, unterstellte er – es – ihr.
Jessica prustete los.
Eine übergroße Echse mit dem Namen Chuck, das war zu viel!
Verwirrt über ihren Lachanfall, kletterte Chuck die Wand nach unten.
Auf dem Boden angekommen, stand er auf zwei Beinen. Vollkommen selbstverständlich.
„Jetzt glotz mich nicht so beeindruckt an, ich weiß schon, dass ich toll bin!“
An Selbstbewusstsein mangelte es ihm keinesfalls!
Hatte sie ihr anfängliches Unbehagen überwunden, redete Jessica den seltsamen Gast an: „Du bist meine Hilfe?“ - „Eher errette ich dich aus deiner Verzweiflung!“, blökte er und verschränkte die dünnen Ärmchen.
Er verschränkte die Arme!
Diese Unterhaltung, nein die komplette Szenerie, war dermaßen schräg!
„Wieso schickt mir die Königin eine Eidechse?“, überlegte Jessica laut.
Genervt dementierte Chuck: „Bartagame! Zwischen unsereins gibt’s Unterschiede!“
Jessica verdrehte die Augen.
Um ihn zu ärgern, gleichsam ihrem Unmut Luft zu machen, stellte sie dieselbe Frage erneut: „Wieso schickt mir die Königin zur Unterstützung und als Wegweiser ein Reptil?“ Das Wort Reptil betonte sie extraprovokant.
„Hexe, noch kann ich dich leiden!“, entgegnete das kleine Tierchen, beließ seine verschränkten Arme im diesbezüglichen Zustand. Zum Unterstreichen der Dramaturgie stolzierte Chuck in Jessis Wohnung umher.
Stolzierte … umher …
„Eure Majestät persönlich erschuf meine Wenigkeit, Jahrhunderte zurück. Ob du es glaubst oder nicht, ich verfüge über großes Wissen und reichlich Kampferfahrung“ – „Und ich bin Batman“, entfuhr Jessica sarkastisch.
Die Bartagame kapierte den Scherz nicht. Stattdessen glotzte das Tier Jessi blöde an.
Beinah glubschten die Augen aus den Höhlen.
Jessica beschloss ihn im Unwissenden zu lassen, wechselte daher das Thema.
„Nun, Chuck, Feuer frei! Wie geht’s weiter?“ Nach einer divenhaft untermalten Pause, erklärte die Bartagame: „Hexe, raff deinen Besen! Wir brechen Richtung Pura auf!“
„Pura?“, wiederholte sie, ging sicher, sich nicht verhört zu haben.
„Korrekt, Schätzchen! Pura!“
Wieso ausgerechnet Pura? Kein Erdling wagte es, einen der drei magischen Planeten zu betreten. Gewöhnlich beehrten Magier, Dämonen und allerhand Kreaturen die Erde mit ihrer Präsenz. Andersherum nicht von den dort lebenden Rassen toleriert, durften Erdbewohner die Reiche des Tribunals unter keinen Umständen besuchen. Nachdenklich sank Jessica zurück auf ihre Couch. Chuck beobachtete sie interessiert mit seinen Glupschaugen.
„Hör mal, äh, Chuck, für mich ist alles Neuland. Erst vor ein paar Tagen erfuhr ich, die Auserwählte der Königin zu sein. Heute erwischte ich meinen langjährigen Freund in flagranti. Zu allem Überfluss wollte mir ein Dämon den Kopf abreißen! Er biss mich in die Schulter und …“
Jessica stockte. Gerade fiel ihr auf, dass ihre Bisswunde an der Schulter und die Schürfwunden an den Oberschenkeln aufhörten zu bluten.
Perplex fuhr sie mit ihren Fingern über die offensichtlich geschlossenen Stellen.
„Wie ist das möglich?“, keuchte sie.
„Anscheinend begreifst du wirklich nicht, Hexe“, mahnte Chuck „Du bist eine Kriegerin der Königin! Deine Kampfverletzungen heilen deutlich schneller als bei gewöhnlichen Magiern.“
Widerworte erstickten im Keim. So fühlte sich also ein Superheld?
Doof aus der Wäsche schauend, fragte Jessi: „Bin ich unsterblich?“ - „Nein! Niemand ist unsterblich!“, lachte Chuck, bis die Tränen liefen, „sagen wir, du besitzt eine erweiterte Lebensspanne.“ - „Bleibt meine Jugend erhalten?“, scherzte Jessi.
Offenbar kannte Chuck keine Witze, erklärte völlig ernst: „Hast du jemals eine Oma kämpfen sehen? Solange du Kriegerin bist, stehst du auf jeden Fall in der Blüte deiner Jugend!“
Verblüffend!
„Schenkte mir die Königin den Mondstein?“
Augen rollend, erwiderte der Ärmchen verschränkende, herumstolzierende Chuck: „Wer hat dich denn rekrutiert, huh? Fein, Mäuschen, du sollst nicht dumm sterben. Ich fange von vorn an!“ - „Nenn mich noch einmal Mäuschen und du stirbst, Reptil!“
Anscheinend glaubte er Jessicas Drohung, denn Chuck sollte sie nie wieder auf diese Art betiteln.
Geschwind räusperte er sich. „Zumindest erlangte ich deine Aufmerksamkeit!“ - „Du bist eine auf zwei Beinen stehende, sprechende Echse, Bartagame, wie auch immer! Auch ohne bescheuerten Kosenamen hättest du sie bekommen!“, behauptete Jessica grantig.
Chuck kletterte auf ihren Couchtisch. Super, den durfte sie später desinfizieren.
In erhobener Statur, mit seinen 50 cm Körperlänge und leidenschaftlichem Ausdruck im Gesicht, erstattete Chuck Bericht: „Um sicherzugehen, dass wir das uns bedrohende Böse in Form der Nekromantin schlagen, dürfen wir uns nicht ausschließlich auf die Garde der Königin verlassen. Zusätzliche Schlagkraft scheint unabdingbar. Vor Jahrhunderten entwickelte unsere Königin einen Notfallplan für einen Augenblick wie diesen. Der sieht vor, die Macht der vier Elemente an gute Geschöpfe zu verleihen. Jene Seelen von starkem Charakter und unbeugsamen Glauben an das Gute.“ - „Aber es existieren unzählige Magier, die Elementarmagie nutzen“, wandte Jessica ein.
Chuck erklärte, einen Finger belehrend erhoben (einen Finger erhoben!) : „Wir reden von den Quintessenzen der jeweiligen Elemente. Ihrem Kern sozusagen. Ist dir die Tragweite der Entscheidung bewusst?“
Unverständig warf Jessica Chuck einen Blick zu. Das Reptil seufzte.
„Schöpft ein Wesen das volle Potenzial seines Elements, beschwört es eine Macht, die du dir nicht ansatzweise vorstellen kannst!“ - „Warum griff die Königin dann nie zuvor auf diese Macht zurück?“, wandte Jessie ein, überkreuzte ihrerseits die Arme, schlug nebenbei die Beine übereinander.
„Gute Frage“, gab Chuck zu, „dafür musst du zunächst begreifen, dass die vier Elemente weder dem Guten noch dem Bösen angehören. Ausschlaggebend für den Frieden des Universums, der magischen Welt, ist eine Balance zwischen den Mächten. Harmonie von Licht und Dunkelheit. Keiner der Urgewalten darf die Waage auf einer Seite erschweren und das Gleichgewicht beeinflussen. Die Elemente wurden durch das Göttliche geschaffen, die Magie entstammt den Träumen der Menschen. Mit Geburt der Königin entstand Elementarmagie – also Magie aus den ursprünglichsten, natürlichen Existenzen des Universums. Keine andere Magie ist vergleichbar. Weil sie unverzichtbar für das Leben sind, blieben die vier existenziellsten Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer neutral. Ausschließlich ihr Nutzer entscheidet, ob sie für gutes oder schlechtes eingesetzt werden. Die Quintessenzen jedes Elements schloss die Königin in sie bindende Edelsteine, ähnlich jenem, den du besitzt. Der Unterschied besteht darin, deiner umfasst reines Mondlicht. Du bekamst ihn von der Königin, da du Energie aus dem Licht des Erdmonds beziehst und für Zauber nutzt.“
Kaum sprach Chuck die Bekundung aus, langte Jessica automatisch an den konstant pulsierenden Anhänger.
Er fühlte sich warm an.
„Zurück zu den Elementsteinen“, fuhr Chuck, auf ihrem Couchtisch hin und her wandernd, die lehrreiche Geschichtsstunde fort, „nie sollten einzelne Geschöpfe die elementaren Kräfte in ihrer Vollkommenheit verliehen bekommen, lediglich einen Bruchteil davon nutzen. Geringe Elementarmagie, solche, die du vorhin ansprachst, entspricht normalem Gebrauch. Wird das ganze Potenzial einem einzelnen Individuum übertragen, schließt dasjenige sich der falschen Seite an, könnten die vorher neutralen Elemente im schlimmsten Fall auf die Seite des Bösen wechseln.“
Auf einmal stellte Jessica sich das Worst-Case-Szenario vor. Feuer würde alle Welten niederbrennen, Wasser sämtliche Städte überfluten, Hurrikans ganze Wälder abholzen, Erdbeben Städte im Boden versenken. Allumfassendes Chaos. Und das global.
„Heilige Scheiße!“, entfuhr ihr.
Chuck blieb recht ungerührt.
„Scheiße ist noch untertrieben, aber scheinbar erkennst du den Ernst der Lage, Hexe. Jedenfalls ist das der Grund, warum die Königin nie Elementkrieger erschuf, ferner in den Kampf schickte. Bislang bestand auch keinerlei Notwendigkeit.“ - „Diese Nekromantin muss ja eine furchtbare Aura haben?“, mutmaßte Jessica, fuhr sich mit den Händen durch die angetrockneten Haare.
„Das ist das Problem. Die Königin kann die Gefahr nicht einhundertprozentig einschätzen. Offensichtlich ist die Bedrohung aber groß genug, sodass er die Königin zum Einsatz des Notfallplans zwingt.“
Mit einem Mal stand Jessica auf. Lust ihren Kaffee zu trinken verging ihr.
Zögerlich schritt sie zum Wohnzimmerfenster. Draußen färbten dichte Wolken den Himmel grau, kein Sonnenstrahl fiel durch die Wolkendecke.
Seufzend drehte sie sich zu Chuck, der immer noch ihren Couchtisch einnahm.
„Weißt du, Echse, schade, dass du keine Ente bist.“
Verblüfft aufgrund des Themenwechsels, angesichts dieser Situation, hakte er nach: „Verstehe ich nicht, wie meinst du das?“ - „Na ja, wärst du 'ne Ente, könnte ich dich Chuck, the Duck nennen.“
Ehe Chuck, the No Duck einen Schlaganfall erlitt, wechselte Jessica zurück zum eigentlichen Gesprächsthema: „Also, Chuck, no Duck.“
Jessica grinste, Chuck nicht.
„Wer erwählt die Elementkrieger, wo finde ich sie, was hat Pura damit zu tun?“
„Öh“, überlegte Chuck, the No Duck, räusperte sich dann.
„Die Steine vertraute unsere Königin unterschiedlichen Spezies verschiedener Welten an. Seit Generationen bilden die Obersten dieser Rassen Priester aus, welche die Quintessenzen bewachen. Der Priester beschützt den Stein nicht nur, seine eigene Magie ist auch an ihn gebunden. Sprich, die Elementkrieger werden durch die zugehörigen Priester erweckt. Ohne Hohepriester – keine Elementkrieger.“
Sicher, warum einfach, wenn es kompliziert ginge? Langsam platzte Jessica der Kopf.
„Dann gehe ich richtig in der Annahme, dass der erste Priester mitsamt Stein auf Pura hockt“, murmelte Jessi, während sie ihre Schläfen rieb.
Chuck, the No Duck blickte sie verschwörerisch an.
„Korrekt, Hexe. Auf nach Lichthallen.“
Obwohl die Bartagame auf einen zeitigen Aufbruch drängte (niemand wusste, wie viel Zeit dem Universum bleibt, bis das Böse erschien, bla bla bla …), bestand Jessi auf eine Dusche und Essen.
Das Wort Essen überzeugte die Echse und so teilte Jessica mit Chuck, the No Duck einen Teller Spaghetti mit fertiger Soße aus dem Supermarkt.
Frisch umgezogen, vorbereitet auf jede Wetterlage (Jeans, Sneaker, T-Shirt und Pulli), sauber und gesättigt, schloss Jessica ihre Wohnung ab.
Chuck machte es sich auf ihren rechten, unverletzten Schulterseite bequem.
Wie sonst, sollte sie das Vieh bis zum sogenannten interdimensionalen Tor bringen. Besser, man hielt sie auf der Straße für eine durchgeknallte Irre mit Bartagame über der viel zu warm für diese Jahreszeit eingepackten Schulter, als für eine Reisende zwischen den magischen Welten.
„Äh, Hexe, wohin genau läufst du?“, fragte Chuck.
„Ich rufe ein Taxi. Das fährt uns zum Grand Central Terminal. Wir steigen bei der Brooklyn Bridge aus. Das Tor befindet sich gleich unterhalb der Brücke. Wir müssen überlegen, wie wir es öffnen. Igitt!“, schrie Jessica, als Chuck mit seiner Reptilienzunge ihr Ohr ableckte.
„Was soll das?“, frage sie angewidert.
„Frag mich doch!“, blökte er „Ich sage dir dann, dass wir kein umständliches Tor benutzen, sondern den Schlüssel vom Wächter des kosmischen Raumes persönlich. Nämlich zur direkten Passage!“ - „Im Ernst?“ Jessi staunte.
Den Wächter des Raumes rief der Rat bei verirrten oder nicht kontrollierbaren Flüchtlingen. Er begleitete die Ausreißer auf ihre Heimatplaneten zurück, in der Regel Ecliso. Schell durch die Dimensionen, sprang er mithilfe seiner sagenumwobenen Raumschlüssel. Begeistert von der Vorstellung, hüpfte Jessica über die Straße, erweckte den Anschein eines Kleinkindes. „Unglaublich! Wir haben tatsächlich einen echten Raumschlüssel bekommen?“ - „Verdammt, wo rennst du denn jetzt hin?“, wunderte sich ihr Begleiter.
Jessi hielt ihm mit der Hand das Maul zu.
„Rede nicht in der Öffentlichkeit!“, flüsterte sie, „ich laufe zur schmalen Straßengasse. Mitten auf der Straße können wir nicht einfach ein Raumportal schaffen!“
Das sah sogar die sprechende Bartagame ein. Angekommen blinzelte Chuck zweimal. Der goldene Schlüssel erschien und fiel Jessica in die Hand.
Magie, was sollte man groß dazu sagen?
„Also Chuck, schauen wir mal, wie das Wetter auf Pura so ist! Etwas, das ich vorab wissen sollte?“, griff Jessica vor.
Chuck klammerte seine Echsenärmchen in Jessicas gelben Pulli, während er laut überlegte: „Deine Erweckung war kein Zufall. Nahezu jeder Mensch dieser Welt trägt zumindest ein kleines bisschen Bosheit im Herzen. Neid, Zwietracht, Trauer, Zorn, vieles kann Anlass geben. Die Königin wählte dich, da du die Ausnahme darstellst. Deine Seele besteht nur aus Güte, ohne ein Fünkchen Verdorbenheit. Dienlich, damit die Elementarkrieger ein richtiges Vorbild bekommen.“
Weshalb spuckte er das ausgerechnet jetzt aus?
„Die Selektion hatte wohl stattgefunden, bevor ich das Schlafzimmer meines Ex-Freundes zerlegte“, witzelte Jessica, „sonst noch ne nützliche Information?“
Chuck, the No Duck grinste schelmisch.
„Die Erste, die du suchst, lebt in Lichthallen, dem Reich der Lichtelfen. Ihr Name ist Yelina, sie ist die Priesterin des Windes."