Freundinnen

„… Komm, zeigen wir der ganzen Welt, dass wir Freunde sind. Gemeinsam ziehen wir in den Kampf, das beste Team gewinnt! …“
Pokémon-Thema

Diverse schöne Fleckchen auf der Erde

Der Weckservice holte Jessica am nächsten Morgen aus einem wunderschönen Traum in die Realität. Gähnend stand sie auf, zog einen hellblauen Jogginganzug an. Unmotiviert schlurfte sie ins Bad. Gleich wollte sie ihre Mädchen zum Training beordern. Wenigstens die sollten sich anstrengen! Mit der Zahnbürste im Mund betrachtete die Hexe ihr Spiegelbild. Beim ersten Angriff waren sie heil davongekommen, dank der Königstochter. Umso härter mussten sie jetzt arbeiten.
Jessi besaß die Chipkarten für sämtliche Zimmer. Erstaunlicherweise fand sie die Schlafräume verlassen vor. Offensichtlich waren die Vögel ausgeflogen. Aber wieso? Ihre Mädchen liebten es, bis in die Puppen zu pennen.
Wächterin Sonja spurtete Jessica auf dem Gang entgegen.
„Morgen!“, quiekte sie atemlos.
„Ich bin verwirrt“, grüßte Jessi, „Frühstücken die faulen Säcke? Essen ist doch der einzige Grund, der sie aus dem Bett lockt!“
Sichtlich überrascht von ihrer Unwissenheit, schüttelte Sonja den Kopf.
„Ne, die joggen alle! Ich bin leider spät dran, da ich Artemisia über die letzten Vorkommnisse unterrichtete. Sie leitet die Informationen an Königin Celestia weiter. Rick wird sofortiger Wirkung das Wächteramt entzogen. Sie debattieren später, wie sie an seine Schlüssel kommen.“ - „Gut! Das klingt nach positiven Neuigkeiten, obgleich ich bezweifle, dass sie ihn erwischen. Immerhin bemerkten die Oberen weder seinen Verrat noch schnappten die Krieger die geflohenen Schwarzmagier. Drücken wir dennoch unsere Daumen!“, setzte Jessica die Unterhaltung fort, während sie Richtung Fahrstuhl liefen.
Artemisia unterhielt den Titel der Wächterin der Zeit, soviel Jessica wusste. Eine Magierin, die das Manipulieren der Zeitströme durch Dritte verhinderte. Schlagartig sackte ein anderes Detail in Jessis Hirnwinkel.
„Äh, Sonja“, hüstelte sie, als sich der Lift nach unten bewegte, „warum genau joggen die Mädchen? Freiwillig!“
Sonja zuckte die Achseln.
„Anna inspiriert sie anscheinend.“
Außerhalb des Hotels gesellten sich Wächterin und Hexe auf zuvor geliehene Fahrräder. Gemeinsam fuhren sie über die belebte Straße Richtung Central Park. Wenig später entdeckte Jessica ihre Schützlinge querfeldein sprinten.
Mächtig legten sie sich ins Zeug, sodass der Hexe beinahe die Augen ausfielen. Bisher kannte Jessi diesen Ehegeiz ausschließlich von Lien.
Sonja stieg ab, begann ihren Lauf ebenfalls.
Ihr neu entdeckter Ansporn begleitete die Mädchen den ganzen Tag. Lara sprang Kopf voraus in den übergroßen Pool. Elegante Schwimmzüge unterstrichen ihre natürliche Anmut. Maris unterstütze sie, obwohl die Hilfe nicht länger notwendig erschien.
Nachmittags erfüllte Arianna Liens Wunsch und kämpfte gegen sie. Die Kameradinnen reihten sich im Halbkreis um die Kontrahentinnen auf. Jessica wartete gespannt. Lien ging in Kampfhaltung. Arianna wirkte konzentriert. Als die Königstochter keine Anstalten einer Regung machte, startete Lien einen Angriff. Sie preschte voraus, zielte auf Annas Schienbein. Diese hob abwehrend ihr Knie und konterte anschliessend den niedrigen Tritt der Chinesin mit einem gedrehten Kick. Lien durchschaute ihr Manöver und wich seitwärts aus. Arianna folgte ihr auf dem Fuß, platzierte ein paar zögerliche Boxhiebe. Lien wehrte die Schläge beidhändig ab. Dann war sie an der Reihe, zuzuschlagen. Ein Ellenbogenschlag zielte auf Ariannas hübsches Gesicht, diese duckte sich mühelos darunter weg. Keine der beiden bot sichtbare Öffnungen an oder gewährte der Opponentin eine Chance. Technisch ebenso ausgefeilt, stand Anna Lien in keiner Weise nach. Anfangs beschnupperten sie einander zaghaft, im Laufe des Gefechts kämpften sie ernsthaft. Lien landete zeitgleich einen Kinnhaken, wie Arianna einen Hieb zur gegnerischen Milz. Unmittelbar stoben sie auseinander und lächelten. Scheinbar hatten beide eine Menge Spaß. Warum auch immer Frau bei einer Prügelei Spaß empfinden konnte.
Den anderen Mädchen blieb die Spucke weg. Jessica empfand den Kampf für ausgeglichen, die Kampfkraft beider Rivalinnen beeindruckte sie.
Beim Zusehen entwickelte sie eine Idee.
Während Jessis Gedanke reifte, traf Annas gerader Tritt Lien. Die Chinesin fiel zu Boden, sprang angrenzend schwungvoll auf. Den Drall nutze sie für einen Satz nach oben und darauffolgenden Sprungkick. 30 Minuten dauerte das Geplänkel mittlerweile fort. Von den Konditionen Liens und Ariannas konnten sich die Verbliebenen eine Scheibe abschneiden.
Jessica beendete die Rangelei schlussendlich.
„Das reicht! Ihr demonstriertet uns eure überwältigende Kunst! Ruht euch aus!“
Zunächst ließ Jessi die Kämpferinnen sich regenerieren und die anderen über den Kampf austauschen, dann rief sie alle zusammen.
„Euer Gefecht veranschaulichte mir etwas – individuelle Kreativität“, bemerkte sie, „vorher las ich Bücher, Blogs, Magazine über Fitness, Ernährung, schaute Videos auf YouTube. Alles, um euch einen anspruchsvollen Plan auszuarbeiten.“
Ihr ernstes Gesicht entspannte, Jessi gewährte ihren Mädchen ein warmes Lächeln. „Der Kampf zwischen Lien und Arianna offenbarte mir eines.“
Sie legte eine bedeutsame Pause ein, damit ihre Worte wirkten.
Derweil standen die Kriegerinnen im Halbkreis, lauschten gebannt der Ansage ihrer Anführerin.
„Jede von euch ist auf ihre Weise einzigartig. Pauschale Pläne werden euch niemals gerecht, denn sie missachten eure unterschiedlichen Bedürfnisse, Vorlieben, Talente und Fähigkeiten. Darüberhinaus sind menschliche Trainingspläne für Menschen gemacht. Und ihr seid weit mehr! Dies berücksichtige ich ab sofort!“
Erst erntete Jessica perplexes Misstrauen, welches schnell in Freudenstrahlen umschlug.
„Leidenschaft und Hingabe stellen zwei unabdingbare Komponenten dar. Niemand weiß, wie viel Zeit uns bis zur nächsten Schlacht bleibt, also lasst uns die verbleibende umso besser nutzen!“
Erwartungsvolle Mienen begutachteten sie.
„Und jetzt?“, fragte Nica vorgreifend.
Jessica wies an: „Packt eure Sachen. Wir hinterlegen sie bei mir zu Hause.“ - „Was? Wir ziehen aus dem geilen Hotel aus?“, krisch Maris entsetzt.
„Ja!“, beorderte die Hexe, „also, los! Subito!“
Unter Grummeln, Brummen und Murren gehorchten die Mädchen.
Glücklicherweise gehörten zu Jessicas Apartment jeweils eine Garage und ein Stellplatz. Dadurch brachte sie beide Automobile unter. Das Gepäck von neun Personen (ohne Arianna, sie trug nur ein Kleid am Leib und musste Klamotten von den anderen leihen) verbaute ihre Küche. Nicht einmal an den Kühlschrank gelangte sie!
„Lara, wohin wolltest du schon immer einmal reisen?“, fragte Jessi, nachdem sie die letzte Tasche abgestellt hatte.
Die Britin überlegte kurz, unsicher, ob die Hexe scherzte, ihr eine Fangfrage stellte oder es ernst meinte.
„Hm“, murmelte sie, „Island! Ich hörte, da kann man schöne Fotos schießen!“
Heimlich krabbelte Chuck das Küchenbuffet nach oben, setzte dann zum Hechtsprung auf Jessicas Schulter an. Zu seinem Unglück bewegte sie sich von der Stelle und The No Duck vollzog eine Bauchlandung, würdig eines olympischen Turmspringers. Kaum trat er auf dem Boden auf, stürzte Bao auf ihn. Der anschließende Kampf um Leben und Tod zwischen schwarzer Raubkatze und grünem Reptil ging nicht in die Geschichte ein.
„Gut“, pflichtete Jessica Lara bei, „dann präpariere deine Kamera und du, Yelina, richte dein Malereizubehör.“ - „Warum?“, interessierte die Lichtelfe.
Auch die verbliebenen musterten die Hexe neugierig, klammerten den Todesqualen ausstoßenden Chuck und Bao aus.
Verschmitzt grinste Jessica. „Du willst doch eine Landschaft malen, die du mit eigenen Augen siehst!“ - „Äh, ja. Aber. Ich verstehe nicht“, stotterte Yelina.
Der Rest kapierte auch nicht. Deshalb ließ Jessi die Bombe platzen und verfügte: „Auf nach Island!“
Fotos gängiger Reiseführer fassten Islands Schönheit nicht im mindesten ein, in Natura raubte das Land einem den Atem! Lara, die sich vorab ausgiebig informiert hatte, empfahl den Mädchen eine Besichtigung der Gletscherlagune namens „Jökulsárlón“.
Nach reichlich Gezeter einiger Kameradinnen, vorwiegend ausgelöst von Nica, Shanti und Maris, welchen die Eiseskälte überhaupt nicht behagte, Gejammer seitens Yelina und Sonja, die ebenfalls sehr abgeneigt schienen, kochte Arianna die Kritiker weich. Sie nannte das Unterfangen ein Abenteuer und überzeugte mit offenkundigem Charme. Sonst hätte Jessica früher oder später ein Machtwort gesprochen!
Somit unternahmen sie ein Ausflug ins Blau. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Kristallblaue Eisbrocken schwammen oberhalb des glatten Sees und geboten ein malerisches Bild. Zunächst wanderte die Gruppe eine Weile zu Fuß am Ufer entlang und erkundete die weite Eislandschaft. Schnell vergaßen die Frostbeulen unter ihnen die klirrende Kälte, denn die Umgebung hatte einiges zu bieten. Nirgends hatten sie eine frischere, klarere Luft eingeatmet, wie sie es hier taten.
Nachdem sie einen strammen Marsch zurückgelegt hatten, mietete Jessica mehrere schmale Boote. In Teilgrüppchen schipperten sie über das Wasser, vorbei an umhertreibenden Eisbergen. Mit ihren Fingern strich Lara über die seichte Wasseroberfläche, spürte ihre Schwingungen und Wellenbewegungen. Ohne Vorwarnung stand sie auf. Lien, Nica, Maris und Sonja, die das Boot mit ihr teilten, klammerten sich wegen der Schwankungen fest. Verwirrt begafften sie ihre Kameradin.
Andächtig streckte die Britin ihre Arme parallel zur Oberfläche aus. Tropfen erhoben sich, zirkulierten zunächst um ihre Hände, danach setzten sie ihren Weg über Unter- und Oberarme fort. Am Ende floss das Element – ihr Element – komplett an und um Laras Körper. Spielerisch lenkte sie die Wassermasse, formte daraus Zeichen, Buchstaben, Zahlen und sogar kleine Bildchen. Konstant lächelte sie.
Gefesselt verfolgten die Mädchen Laras Stück, auch jene auf den anderen Schiffchen. Das Wasser spiegelte ihre Bewegungen wider, von ihren Fingern ließ es sich lenken. Ähnlich einer Blume blühte sie auf.
Die komplette Fahrt über verblieben Kriegerin und Element in harmonischer Verbundenheit. Jessica beobachtete sie. Schmunzelnd lobte sie sich für die fabelhafte Idee, herzukommen.
Das Los entschied, Nica durfte die nächste Station bestimmen. Weil ihr die Kontinente der Erde nicht geläufig waren, erwog die Schattenelfe, das Geburtsland ihres zugewiesenen Elements kennenzulernen – China. „Home Sweet Home“ für Lien.
Zuerst besuchte die zusammengewürfelte Reisegruppe die reißende Wasserfälle des Jiuzhaigou Nationalparks. Anfang August hatte ein Erdbeben der Gegend sowie deren Infrastruktur übel zugesetzt. Angesichts dessen boten Reiseveranstalter derzeit keine moderierten Touren an. Das bedeutete, Schaulustige kamen nicht auf ihre Kosten, denn das Gebiet blieb vorerst gesperrt. Für den berüchtigten Schlüssel des Wächters, den die Gruppe trotz Ricks Verrat auf Anordnung Celestias weiterhin benutzen durften, stellte ein Einbruch keine Mühe dar. Und so genossen die Mädchen den spektakulären Anblick von Unmengen aus weiten Höhen in die Tiefe stürzenden Wassers. Ohne laut plärrenden Touristen zu begegnen.
Im Anschluss bewunderten sie die sogenannte blaue Lagune. Aus dem Häuschen schoss Lara einige wahnwitzige Fotos, Yelina zeichnete Skizzen, welche sie zu einem späteren Zeitpunkt ausmalen wollen würde.
Einige Tage verbrachten die Kriegerinnen in unterschiedlichen Provinzen Südwestchinas, von Sichuan, über Tibet, bis Yunnan.
Bekannt war China für seine Ahnenkultur geworden. Hinterbliebene weihten ihren Vorfahren oft kleine Gebetsschreine. Nica konnte die Macht der Verstorbenen spüren. Manchmal rief sie die in Kriegen gefallenen Soldaten und kommunizierte mit ihnen. Dabei verlor sie ihre letzte Scheu vor der für sie befremdlich empfundenen Gabe, näherte sich stückweise ihrem Schicksal an und akzeptierte es schließlich.
Ein Spaziergang durch die Reisfelder Yunnans rundeten den Ausflug am letzten Abend ab. Im Licht der untergehenden Sonne leuchtete die Farbvielfalt dieser Umgebung außerordentlich schön. Darin fand Yelina eines ihrer Lieblingsmotive.
Als Nächste durfte Sonja entscheiden. Ihre Wahl fiel auf Kanada.
Im Tal der zehn Gipfel verweilte die Gemeinschaft einige Zeit. Unweit des bekannten Moraine Lake zelteten sie. Seit Sonja ein kleines Kind gewesen war, hegte sie den Wunsch nach Zelten im Freien. Ständig hatten ihre Eltern Urlaub am Meer gebucht, so war ihr Traum bisher unerfüllt geblieben. An dem beschaulichen Ort, welchen sie aus einem Katalog ausgesucht hatte, setzten die Mädchen ihr Training fort. Für ihr Vorhaben, ihre Ziele, bot das Gelände ein perfektes Übungsgelände. Das befanden Jessica und Lien. Aus Kinderaugen betrachtet, stellte das Areal einen Abenteuerspielplatz dar. Sonja, Lien, Lara, Shanti, Nica, Maris, Hanna, Maelle und Arianna rannten über die naturbelassene Landschaft, schwammen durch den kühlenden See, kämpften paarweise gegeneinander, teilweise bewaffnet, teilweise unbewaffnet. Ihr Handeln erfolgte in rivalisierender Freundschaft. Ein Hauch von Wettkampfgedanke schadete nie. Im Gegenteil, es spornte an, animierte zu Höchstleistungen.
Nach den kräftezehrenden Übungen meditierten und ruhten sie.
Yelina hielt mit, so gut es ging.
Ausreichenden Vorrat an Lebensmitteln hatten sie zu Beginn des Campings besorgt. Gepriesen sei die Kreditkarte der Königin!
Abends köchelte Lien, ungeachtet des notdürftigen Geschirrs, und bereitete leckere Mahlzeiten zu. Vorher unwissend, registrierten ihre Freundinnen spätestens jetzt die überdurchschnittlichen Kochkünste der Chinesin. Im Laufe ihres Outdoor-Erlebnisses verlieh Lara ihr den Spitznamen „Li“.
Auch Maelle erhielt einen. Hanna taufte sie auf „Miki“.
Arianna befand das für fair, schließlich war ihr die Ehre gleich am ersten Tag zuteilgeworden. Für die anderen hieß sie schlicht „Anna“.
Abends erzählten die Mädchen sich reihum abenteuerliche Märchen. Jedes authentische Zeltlager benötigte doch gruselige Lagerfeuergeschichten, nicht?
Lange hatte Sonja ihr Dasein als Wächterin in Einsamkeit gefristet. Umso mehr freute sie sich, Teil einer Gemeinschaft geworden zu sein.
Maris, die Sonne, Strand und Meer über alles liebte, Wärme gegenüber der Kälte bevorzugte, überredete Jessica zu einem Trip nach Hawai. Weite Sandstrände und türkisfarbenes Meerwasser ergötzten die glänzenden Mädchenaugen.
In Kauflaune spendierte Jessi der Deutschen ein eigenes Surfbrett. Es war ja nicht ihr Geld! Das an einen Comic erinnernde Motiv einer vermenschlichten, Sonnenbrille tragenden Schildkröte zierte die neuste Errungenschaft.
Hinterrücks belächelten die anderen, überwiegend männlichen Surfer die schlanke Brünette mitsamt ihrem ulkigen Brett. Maris interessierte sich für die Lästereien wenig, ihre gesamte Aufmerksamkeit galt dem weiten Ozean.
Alsbald ihre Kameradinnen das Vitamin D der Sonne tankten, dabei schmachtende Blicke von Strandbesuchern kassierten, demonstrierte Maris ihre Surfkünste und stellte sämtliche Lästermäuler in den Schatten.
Die Mädchen spielten Ball, hüpften danach verschwitzt ins belebende Nass.
Gelegentlich lautete eine Devise: „Man gönnt sich ja sonst nichts“. Getreu dem Motto mietete Jessica ein Hausboot für die Dauer ihres Aufenthaltes.
Es war ja nicht ihr Geld.
Abends verwöhnte Li ihre Freundinnen mit selbst zubereiteten Köstlichkeiten. Hanna unterstützte sie bei der Zubereitung. In der Gastronomie beabsichtigte sie eines Tages ihre Selbstständigkeit.
Aus einer Laune heraus backte Jessi Plätzchen. Zum ersten Mal erfuhren ihre Schützlinge, dass Backen das große Hobby der unnahbaren Anführerin war. Vorher hatte keine um Jessis Leidenschaft gewusst, welche Hanna augenblicklich zugutekam. Angeregt sinnierten sie und Jessica über mögliche Eigenkreationen ihres künftigen Cafés.
Das sanfte Schaukeln der Wellen nahm den Mädchen ihre Sorgen, wiegte sie stets in einen erholsamen Schlummer.
Maelle sehnte sich hauptsächlich nach Freiheit.
17 Jahre lang hatten ihre Eltern Miki im Palast eingesperrt. 17 Jahre hinter Mauern genügte.
Analog zu Nica, genauer gesagt allen Ausländerinnen, vermochte sie kein eindeutiges Reiseziel zu bestimmen. An ihrer Stelle bat sie Jessica, ein weites Land auszuwählen.
Das beeindruckende Colorado Plateau bestand aus mehreren Hochebenen, welche sich über den Südosten Utahs, das nördliche Arizona, zudem Teile New Mexicos und Colorados erstreckten. Es wurde von Schluchten, Tafelbergen, Bögen und Säulen durchzogen. Damit genügte es Maelles Vorstellung von Freiheit. Etliche Kilometer weit, über Stock und Stein, wanderten die Kriegerinnen. Solange, bis ihre Füße vor Erschöpfung schmerzten. Zwischendurch nutzen sie ihre Pause, um auf der Gebirgskette Qi Gong Übungen auszuführen. Yelina fertigte weitere Gemälde an, Lara Fotografien.
Einmal kletterte Maelle eine Felsformation empor, stand an deren Rand und schaute in die Ferne. Sie fühlte den Luftzug des Windes, spürte die sanfte Brise auf ihrem Körper. Ihre Haut kribbelte, Gänsehaut überzog sie. Im Reinen mit sich und der Welt hob Miki eine Hand, kontrollierte den Windhauch durch das Schwingen ihrer Finger. Wie es bei Lara und dem Wasser geschehen war, beugte sich die Luftströmung Maelles Führung, änderte weisungsgemäß die Richtung.
Zufällig sah Hanna hinauf. Die Sonne blendete sie, also schirmte sie ihre Augen ab. Dann erschien ein Grinsen auf ihren Lippen. Lächelnd beobachtete sie ihre Freundin bei deren Windspiel. Als einige Minuten vergangen waren, rief sie nach Jessica. Diese gesellte sich zu ihr, schaute in ihre Blickrichtung. Prompt verzogen sich die Mundwinkel der Hexe nach oben. Nun war auch die purianische Thronerbin buchstäblich ganz in ihrem Element.
Angrenzend an das Abendteuer in der Hochebene folgte eine Flussfahrt entsprechend Shantis Wünschen. Die Waldelfe vermisste den Wald. Getrieben von ihrem Heimweh entschied sie, einen Ausflug durch den Dschungel unternehmen zu wollen.
Die Bootstour über den Rio Sierpe in Costa Rica entpuppte sich als ein wahrer Höhepunkt für alle. Beim Schippern über das seichte Wasser entdeckten die Mädchen allerlei faszinierende Geschöpfe, unter anderem Krokodile, Schlangen, sogar Ameisenbären und diverse Echsen. Beim Anblick letzterer machte Chuck große Augen. Shanti und ebenso Kater Bao, der sich auf ihrem Schoß räkelte, kommunizierten mit dem gesamten Tierreich.
Angrenzend an die Bootsfahrt vertraten die Frauen sich ihre Beine bei einer Dschungelwanderung. Einheimische Tiere stellten, dank Shantis Gabe, keine Gefahr dar. Die Lebewesen des Waldes begegneten den Fremden wohlgesonnen. Üblicherweise lag Chuck über Jessicas Schultern, der Kater tapste neben seiner Herrin her.
Jessi schlug vor, die hiesigen Ureinwohner aufzusuchen. Jedenfalls ein paar davon. Natürlich gefiel der Besuch bei den Guaymies der Waldelfe besonders. Die meisten Stämme Costa Ricas basierten auf Subsistenzwirtschaft. Das bedeutete, gejagt und angebaut wurde lediglich das für den Eigenbedarf Notwendige. Handel trieben die Einheimischen wenig. Ein Oberhaupt, der Cacique, regierte die Stämme. Die Bewohner lebten in simplen Behausungen aus Holz und Palmblättern. Da sie ihrer eigenen Rasse ähnelten, faszinierte das Urvolk Shanti völlig. Eine Gemeinschaft bodenständiger Menschen vermittelte ethnische Werte und veranschaulichte, was im Leben zählte.
Den Gegensatz zu Bescheidenheit bot Venedig.
Yelina sehnte sich nach Romantik. Möglicherweise lag das an ihrer seltsamen Beziehung zu Sydney. Vermutete Nica.
In welcher Stadt hätten sie eine romantischere Stimmung vorgefunden, wie in Venedig? Unterschiedliche Restaurants, Bars und Cafés vertrieben die vorab gelernte Genügsamkeit.
Unterteilt in Grüppchen, probierten die Mädchen diverse kulinarische Spezialitäten.
Unwiderstehlicher Duft entwich einem unscheinbaren, in einer Seitengasse gelegenen Ristorante. Lara, Maris, Sonja und Lien kosteten den dort angebotenen, frisch gegrillten Fisch.
Ausgestellt im hübsch geschmückten Schaufenster einer Pasticceria faszinierte der Anblick köstlich aussehender Törtchen, Kuchen, Eiskreationen und Parfaits Hanna. Voll kindlichen Eifers überzeugte Miki ihre Freundin, die vorgezeigten Kaloriensünden zu probieren. „Nur für Forschungszwecke!“, mahnte die Mexikanerin, ihrer Aussage selbst keinen Glauben schenkend. Die beiden Freundinnen betraten den zwergenhaften Laden. Bei einem Kuchenstückchen blieb es dann doch nicht. Was auch immer die Italiener ihren Backwaren untermischten, es machte süchtig! Die beiden Frauen aßen, bis sie buchstäblich platzten.
Währenddessen führte Nica Yelina an der Hand. Orientierungslos landeten sie vor einer Rosticceria, welche allerlei Snacks verkaufte. Yelina bestellte eine Foccacia, reichlich gefüllt mit Zwiebeln und Ricotta, Nica bevorzugte die Variante Tomate-Kartoffel. Gestärkt nahmen sie auf die weitere Erkundungstour frittierte Reisbällchen mit, sogenannte Arancini.
Shanti, Arianna und Jessica besuchten zwischenzeitlich ein Eiscafé. Überschwänglich orderten sie gigantische Eisbecher. Keiner anderen Nation gelang eine derartige Cremigkeit bei Speiseeis! Shanti bevorzugte Joghurt und Waldfrucht, dekoriert mit verschiedensten Beeren, Jessica bestellte Vanille plus Zimt, übergossen mit Kaffeesirup. Arianna, die das Wort „Eis“ nie in Verbindung mit Süßspeisen gehört hatte, probierte die klassische Sorte Schokolade. Garniert von einem beachtenswerten Sahnehäubchen, schmolz die Eiscreme in ihren Mündern, floss den Gaumen hinab und katapultierte alle drei in höhere Sphären. Für ihre Verhältnisse zeigte die Königstochter eine beachtliche Menge an Emotion, ausgelöst durch gefrorenen Kristallzucker.
Chuck, den Jessi beim besten Willen nicht von ihrem Löffel probieren ließ, kam nicht umhin, sie trotzig an ihre Figur und die eingenommenen Kalorien zu erinnern. Sein Verhalten brockte ihm eine durch die Hexe auferlegte Zwangsdiät ein.
Im Nachhinein betrachtet, hatte Venedig einem Seelenschmeichler entsprochen.
Hanna entschied sich zugunsten eines Trips in die Natur. Eine Natur, welche sie in Irland fanden.
Ihre Wanderung durch die Cliffs of Moher verschafften den Mädchen einen ersten Eindruck von der grünen Insel. Zu einem Zeitpunkt während des ausgiebigen Spaziergangs zog Hanna ihre Schuhe aus und lief barfuß. Sie spürte die Erde unter ihren Füßen. Mit jedem Schritt und jeder Faser ihres Körpers machte sie sich ihrer Kraft bewusster. Hannas Hände zeigten seitlich des Weges. Auf ihr Geheiß sprossen Blumen aus dem Boden empor. Viele bunte Blüten tauchten die eintönige Gegend in vielfältige Farben.
Lara stupste Maelle an und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Grinsend blickte Miki himmelwärts, hob die Arme und bat die einsamen Wolken, sich zusammenzuziehen. Indes fokussierte Lara ihre Konzentration, begehrte von dem neu geformten Wolkenband Regen. Feuchtigkeit füllte die Wolkendecke aus. Wenige Augenblicke später fielen die ersten Tropfen, benetzten die umgebenen Wiesen. Durstig tankten die Pflanzen die erfrischende Flüssigkeit.
Hanna, wie auch die anderen, schauten Maelle und Lara erstaunt an.
Nähreicher, befeuchteter Boden versprach bestes Material. Kurzerhand erweckte Hanna ihre Macht. Gräser, Blumen, Bäume und Sträucher wuchsen.
Die beim Anblick lebendiger Natur verspürte Freude hielten die Kriegerinnen in ihren Herzen fest. Den ganzen Tag über tanzten sie im Regen.
Müde vom Laufen versackten die Mädchen in einem der zahlreichen Pubs.
Zwar schmeckte das typische „Guinness“ Jessica nicht besonders, dennoch wählte sie das irische Traditionsbier. Wennschon, dennschon.
Im Unterschied zu ihr soff Nica wie ein Loch. Sie trank jeden ausgewachsenen Kerl unter den Tisch. Unglaublich, was die Schattenelfe vertrug! Eine seltsame Rasse.
Yelina bestellte Wasser, erntete dadurch strenge Blicke des Barkeepers.
Li, authentische Kampfsportlerin, tat es ihr gleich. Der Rest ihrer Ladyschaften nippte jeweils an einem Bierkrug, den ganzen Abend über.
Später meinten einige Machos, ihre Männlichkeit unter Beweis stellen zu müssen. Sie forderten einander zum Armdrücken heraus. Lara grinste Lien an, die Chinesin verstand. Mit Ehrgeiz in den Augen erhob sie sich vom Barhocker, schlenderte zielstrebig Richtung der Proleten. Vergnügt schaute Lara ihr hinterher, Jessica starrte besorgt, die anderen neugierig.
„Li benötigt für den Sieg über einen von ihnen maximal 10 Sekunden!“, wettete die Britin.
Zunächst nahmen die Schlägertypen mit den Stiernacken das junge Mädchen nicht ernst. Ein fies aussehendes Exemplar akzeptierte die Herausforderung als Erster. Die Kontrahenten gingen in Position, kreuzten die Arme, fassten einander an den Händen. Fieslings Kumpel gab das Startsignal. An der Bar stoppte Hanna die Zeit.
Hoppla, Lara lag falsch. Lien benötigte lediglich 5 Sekunden, um den Kerl wegzuputzen!
Wie die Mädchen sich schlapp lachten, quollen die Augäpfel der Jungs aus deren Höhlen. Zur Verteidigung der männlichen Ehre versuchte einer nach dem anderen die Chinesin zu schlagen. Ein jeder Stiernacken scheiterte. Ingesamt waren es 11 an der Zahl. Stolz auf ihre starke Freundin, stießen die Mädchen an.
Im Anschluss an den vergnüglichen Abend durfte Lien die letzte Anlaufstelle benennen. Die Chinesin brauchte nicht lange zu überlegen, sie wählte das Land der aufgehenden Sonne, die Geburtsstätte der Mangakultur und Heimat ihrer Lieblingsküche – Japan.
Die Mädchen besichtigten Tokio. Größer konnte der Kulturschock, verglichen mit dem bisher Erlebten, nicht sein! Desgleichen machte die Erkundung eine Menge Spaß. Elf junge Frauen erhielten Einblicke in die Welt der Anime, sangen Karaoke, aßen seltsame Gerichte, schliefen in beengten Bettkabinen und besuchten Ehrfurcht gebietende Tempel.
Als die Kriegerinnen genug von der Großstadt hatten, besichtigten sie die drei ursprünglich schönsten Landschaften Japans. Zunächst die Kieferninseln von Matsushima, darauf folgte die Himmelsbrücke Amanohashidate und schlussendlich die heilige Insel Miyajima mit dem Shintō-Schrein von Itsukushima. Seit dem Jahr 1915 waren neue Landschaften zu den schönsten gewählt und festgehalten worden. Li hatte sich im Internet informiert und entschieden, die alten aufzusuchen. Besonders der letztgenannte Schrein hatte ihr Interesse geweckt. Ein Torii, sprich ein Tor mit zwei Querbalken, markierte den Eingang. Am Wegesrand loderten Fackeln.
Längst hatten die übrigen Mädchen den Weg vom Tor zum Schrein passiert, doch Lien war zurückgefallen. Unüblich für sie.
Sobald sie an den brennenden Feuerstellen vorbeigetragen war, flackerten die Flammen und tauchten den Pfad in einen dunkelroten Schein. Andächtig blickte die Chinesin das Schreingebäude an, fühlte im Geiste einen angenehmen Frieden, der auf ihre Kameradinnen überschwappte.
Der Tag neigte sich gen Ende, bald brach die Nacht an. Im gemeinsamen Zimmer des kargen Hotels erzählte Li ihrer Freundin und Zimmergenossin Lara, dass ihr größter Wunsch der Teilnahme an einem Kampfsportturnier galt.
Die Britin legte ihre Hand auf die Schulter der Chinesin. Lien verschränkte ihre Finger mit denen Laras und Lara hauchte: „Ich werde in der ersten Reihe stehen und dich am lautesten anfeuern!“
Die Reise hatte in Manhattan begonnen und sie endete in Manhattan. Inzwischen waren drei Monate vergangen. New York erstrahlte in einem sagenhaften Lichterglanz. Wenige Wochen fehlten bis Weihnachten.
Jessica, Yelina, Shanti, Nica, Maris, Sonja, Maelle, Hanna, Lara, Lien und Arianna kehrten zurück. Abermals buchte Jessi entsprechende Anzahl an Räumlichkeiten im luxuriösen Four Seasons.
Zur Freude der Mädchen hatte Königstochter Arianna sich während der Zeit nicht nur vollständig in die Gruppe integriert, sondern die anderen regelrecht begeistert. Inspiriert.
Obgleich Anna auf die Wahl eines Reiseziels verzichtete, hatte sie die Ausflüge und Trainingseinheiten stets aktiv begleitet. Jessica war sicher, die Prinzessin hatte bei Kämpfen und beim Sport ihre Fähigkeiten absichtlich zurückgehalten. Dennoch hatte sie ihre Kameradinnen gefordert und dazu angespornt, ihr Bestes abzurufen. Nicht einmal erfahrensten Trainern gelang, was ihr geglückt war. In Arianna sahen die Kriegerinnen eine mysteriöse Heldin, welche sie zum Sieg führen würde. Genauso eine Rivalin, deren Leistung es zu bezwingen galt. Und letztlich eine Freundin, die sie konstant lieber gewannen.
Anna, anfangs fremd, unnahbar, unantastbar, einsam und gefühlskalt, hatte eine tiefe Verbundenheit zu den Mädchen, im besonderen Maße zu Shanti, entwickelt.
Gemeinsam hatten die jungen Frauen trainiert, ihre Geschichten sowie intime Augenblicke geteilt, aberwitzige Momente erlebt. Sie hatten getrauert, gelacht, zusammen gegessen, getrunken und gefeiert.
Stetig hatte Jessica über sie gewacht. Weniger als eine Mutter, viel mehr als eine Art große Schwester.
Die große Schwester war sie vorrangig für Anna geworden, deren Geschichte Jessi bis in die Seele erschüttert hatte und die der harten Hexe ans Herz gewachsen war.
Möglicherweise sollte das dünne blonde Mädchen mit den tiefblauen Augen der Schlüssel zu ihrem Triumph sein. Aber würde Jessica bereit sein, Annas massives Opfer in Kauf zu nehmen?