Verräter

„Der größte Feind ist der Freund. Denn der, dem du am meisten Vertrauen schenkst, weiß es am einfachsten zu missbrauchen.“
Markus Keimel

Manhattan, New York – Erde 

Jessica führte die Mädchen zu einem angesagten Café. Die Gruppe marschierte zu Fuß, passierte dabei ein großes Gebäude, an dessen Fassade ein riesiger Bildschirm prangte.
„Bäh! Muss dieser Typ jede Minute auf sämtlichen Kanälen erscheinen?“, entfuhr Lara, als Fake Koreas Sänger Johnny über die Bildfläche rauschte.
„Also ich finde seine Songs klasse! Besonders die temporeichen“, verkündete Nica. Ein Hauch Ironie lag in ihrer Stimme.
Maris hob den Finger und erinnerte sie: „Das denkst du bloß, weil’s auf Ecliso keine Musik gibt!“ - „Auf Pura ebenfalls nicht“, warf Maelle ein, „trotzdem finde ich den Kerl zum Kotzen. Für meinen Geschmack ist der Knabe zu schmalzig.“
Lara erklärte: „Die Erde brachte schon viele tolle Künstler hervor, aber ausgerechnet um diesen Hipster veranstalten die Medien einen Zirkus.“
Shanti schwärmte: „Also ich liebe ja den Klang der Natur.“
Die anderen Mädchen seufzten unüberhörbar. Nica boxte ihrer Schwester gegen deren Oberarm.
„Aktuell interessiert das keine Sau!“
Mitsamt Shanti lachte die Gruppe über Nicas freche Zunge. Später in der kleinen Backstube wurde die Stimmung ernst.
Lien sprach aus, was die Mädchen dachten: „Jessi, weshalb frühstücken wir heute Vormittag im Paradies der schlechten Kohlenhydrate? Die letzten Wochen plagtest du uns mit Vollkorn, geschmacklosem Quark und grünen Pflanzen.“
Jessica bedachte mit einem unerbittlichen Blick.
„Möchtest du erzählen oder soll ich übernehmen?“
Anfangs wirkte die Wächterin irritiert, unsicher, worauf ihre Mentorin ansprach. Weil Maris die Tischplatte begutachtete und nervös Däumchen drehte, konnte sich Sonja denken, dass ihre Schwester den Inhalt des vertraulichen Gesprächs ausgeplaudert hatte. Zwar formten ihre Lippen Worte, allerdings wollten sie ihrer Kehle nicht entkommen.
„Fein“, setzte Jessica an, kam jedoch nicht viel weiter.
„Habt ihr ebenfalls ein Déjà-vu?“, fragte Nica erstaunt.
Sämtliche Köpfe fuhren herum. Die Mädchen wirkten irritiert, urplötzlich stand Rick am Tischende.
„Hi!“, sagte er freundlich und hob seine Hand zur Begrüßung.
Jessica versteifte, genauso Maris. Der überwiegende Rest bemerkte die Veränderung ihrer Körpersprache, die eindeutig Gefahr signalisierte.
Automatisch wechselten die erfahrensten Kämpferinnen unter ihnen in Alarmbereitschaft. Die Mundwinkel des Wächters bildeten eine bösartige Linie, behutsam legte er seine Hand auf Sonjas Schulter.
„Erlaube mir statt deiner, liebste Freundin, die Karten auf den Tisch zu legen.“ - „Nein, bitte nicht!“, wisperte Sonja schwermütig.
Ruppig unterbrach er sie: „Deine Schwester ist wirklich schlau, weißt du das? Gleichwohl bin ich über die Cleverness der übrigen sogenannten Kriegerinnen der Königin schockiert.“
Er stierte in die Gesichter der Mädchen. Sie hielten seinem Blick stand.
„Euch hielt ich für weitaus kreativer!“, beschuldigte er sie der Dummheit, „sei es drum, die treuherzige Leichtgläubigkeit der Guten minderte jeher ihre Intelligenz.“
An Frechheit waren seine Aussagen nicht mehr zu übertreffen.
„Allerliebste Maris“, lallte er süffisant, „du enttarntest mich letztlich. Bravo!“
Wäre er eine Zeichentrickfigur gewesen, hätte das Wort „Ta-Da“ in fetten Lettern über seinem Haupt geprangt. Theatralisch pausierte er.
Grauen hervorrufend, flüsterte er: „Kein Individuum im weiten Universum vermag ein Portal zwischen den Welten selbstständig zu erschaffen. Allein die Vorstellung ist absurd! Dass ihr euch mit dem Gedanken überhaupt beschäftigt habt, beweist euren Stumpfsinn.“
Jessi, Yelina, Shanti und Nica schluckten, ebenso Maelle. Die nicht genannten hörten schweigsam zu. Bei Sonja flossen Tränen.
Eine Offenbarung fehlte. Sie stellte lediglich eine Formalität dar. Mit einer tiefen, formidabel übertriebenen Verbeugung ließ Rick die offensichtliche Bombe platzen. „Ich händigte meine Schlüssel an die Schwarzmagier aus!“
Sofort fuhren die Kriegerinnen einschließlich Hexe hoch, Stühle knallten zu Boden. Der Hall weckte sämtliche Café Besucher, samt Bedienungen auf.
Weinend kauerte Sonja auf ihrem Platz.
„Wieso?“, schluchzte sie, „du warst doch ein guter Mensch!“
Unberührte zuckte Rick die Achseln.
„Ja, das stimmt. Sonst hätte mich Celestia nicht zum Wächter berufen.“ - „Die Verlockung des Bösen untergräbt jegliche Vernunft“, behauptete Jessica.
Angestrengt dachte Rick darüber nach. Auch sein Grübeln war aufgesetzt.
„Weißt du, Hexe“, lehnte er ihre Anspielung ab, „eigentlich macht es einfach mehr Spaß, böse zu sein!“
Er lachte schallend. Hier anwesende Menschen beobachteten die abstruse Szene verwirrt.
„Jessi, wir können hier nicht kämpfen! Der Laden ist voll von Normalsterblichen!“, gab Yelina zu bedenken.
„Ha ha ha!“, grölte Rick, nur noch lauter.
Besorgt schaute sich Jessica um. Yelina sprach einen zu beachtenden Punkt an. Eine Kellnerin machte Anstalten, zu ihnen zu kommen. Wahrscheinlich fühlten die Gäste sich belästigt.
„Ich habe nicht vor, euch zu bekämpfen“, kicherte Rick.
Ganz glauben, konnte ihm das niemand, denn just erschien das böse Grinsen von vorhin.
„Sagen wir“, führte er an, „ich übernehme die Rolle des Botschafters. Vorerst.“ - „Bedeutet was?“, hinterfragte Jessi knapp, behielt die Kellnerin im Augenwinkel. Momentan tuschelte sie mit einem Kerl, der womöglich ihr Vorgesetzter war. Shit, sie hatten zu viel Aufmerksamkeit erregt!
„Folgt mir nach draußen und seht euch die Vorstellung an!“, jubelte der Verräter lautstark, machte auf seinem Absatz kehrt und schwirrte hinaus, vorbei an den verblüfften Menschen. Seinen Abgang „mit Pauken und Trompeten“ zu betiteln, wäre untertrieben gewesen. Das Tuscheln der Besucher und des Personals verstummte, um dann in eindeutigen Lästereien zu enden. Damit schien die Sachlage klar, Jessica konnte dieses Café nie wieder betreten. Seufzend warf sie ein paar Dollar auf den Tisch.
Befehle zu erteilen, erwies sich als unnötig, die Mädchen verstanden ihren Aktionismus. Gemeinsam hechteten sie nach draußen.
Keine Spur von Rick.
Zehn Frauen standen wie bestellt und nicht abgeholt am Straßenrand, Ausschau haltend nach ungewöhnlichen Vorkommnissen. Der monströse Bildschirm übertrug ein Interview live, Fake Korea veranstaltete eine Pressekonferenz. Aufmerksam lauschten die Bewohner der Stadt Johnnys Worten. Der Sänger bedankte sich bei zahlreichen Fans für ihre Treue, kündigte das neue Album an, predigte seine persönliche Erfolgsgeschichte, beendete anschließend den Monolog, triefend vor Überheblichkeit und Selbstverliebtheit, mit den Schlussworten: „… Aber all meine Einzigartigkeit erlebt ihr, da der Schlüssel des Wächters mich auf die Erde brachte!“
Die sich umsehenden Gesichter der Kriegerinnen schnellten hoch. Dasselbe gemeine Grinsen ähnlich dem Ricks befehligte: „Liebste Anhänger! Opfert eure vorhandene Lebensenergie der großen Herrscherin, unserer Königin!“ - „Was zur Hölle soll das?“, fluchte Jessica.
Mit einem Mal fielen ihr Details aus dem vergangenen Schulunterricht ein.
„Verfickte Scheiße!“, schrie sie.
Erschrocken fuhr Yelina neben ihr zusammen. Leicht schmunzelnd fragte Nica: „Wow, dich auf die vulgäre Art fluchen zu hören … Jessi, woran dachtest du eben?“
Der sonst so harten Hexe stiegen Tränen des Zorns in die Augen.
„Hört mal her!“, beschwor sie ihre Mädchen und erntete sofort die volle Geistesgegenwart aller, „ich lernte einst, dass Magier existieren, welche sich die Fähigkeit angeeignet hatten, jeglichen Lebewesen Kräfte zu stehlen, deren Gunst sie erwirken konnten.“
Nur die Hälfte kapierte, worauf Jessi hinauswollte.
„Verdammter Mist!“, entfuhr Lara, die zu diesen 50 % gehörte, „der Johnny-Typ manipulierte monatelang die Menschen, indem er zum Superstar wurde. Sie lieben ihn!“
Langsam dämmerte es auch den Unverständigen.
„Ja!“, bestätigte Jessica, klärte die Konsequenz unmittelbar auf, „und jetzt raubt er seinen Anhängern, wie er sie nennt, deren lebensnotwendige Energie!“
Kaum sprach Jessica das Übel aus, ereilte eine Dame auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Ohnmacht.
„Im Ernst? Seine beschissene Magie funktioniert durch den Flimmerkasten?“, raunte Shanti.
Regungslos verharrten die Mädchen vor dem Café.
„Wir machen den Bildschirm einfach platt!“, teilte Maelle ihre Idee, „mein Bumerang verfügt über genügend Kraft! Ich treffe das Ding auf jeden Fall!“
Jessica atmete schwer.
„Feiner Gedanke, Prinzessin. Die Pressekonferenz wird allerdings weltweit ausgestrahlt. Die Störung einer einzigen Übertragung entspräche dem berühmten Tropfen auf dem heissen Stein.“
Erstarrt beobachteten sie Johnny, der sich erhob und von der Bildfläche verschwand. Reihenweise brachen weitere Personen zusammen. Und das nur auf dieser Straße in diesem Block!
„Ich denke, wir müssen die Wurzel allen Übels beseitigen – ihn!“, empfahl Lien.
„Und wie finden wir das Arschloch? Er verwendet sicherlich den beschissenen Schlüssel vom Karottenkopf!“, zog Hanna in Betracht.
Mit Karottenkopf meinte sie bestimmt Rick.
Lara zeigte gen Himmel.
„Wir müssen die Pflaume nicht suchen! Die Arschgeige kommt zu uns!“
Oberhalb Manhattan öffnete sich ein riesiges Tor zwischen den Wolken, ein interdimensionales Portal, erschaffen durch des Wächters Schlüssel plus einen Hauch dunkler Magie. Vier Gestalten schwebten herab, provozierten einige verblüffte Gesichter unter den Sterblichen.
So viel zum Thema „Magie wahren und verbergen“.
Der Rat würde empört aus allen Wolken fallen, sofern er Wind davon bekam. Abgesehen davon hatte er Unmengen an Aufräumarbeiten zu leisten, inklusive Gedächtnislöschungen.
Die bekannten Umrisse der Gestalten sorgten für Entsetzen bei den Kriegerinnen. Gegenwärtig standen sie vier Schwarzmagiern gegenüber: Fake-Lichtelf Sydney, Insektenkönigin Jeajette, Karottenkopf Rick und Schmalztolle Johnny.