Training
„Menschen sind stark, weil sie die Fähigkeit haben, sich zu ändern.“
Saitama, One-Punch-Man
Unterstützung für ihr neustes Unterfangen erhielt Jessica überraschenderweise nicht von Chuck the No Duck, der ursprünglich zu ihrer Hilfe hergereist war, sondern von ihren Mädchen. Jede brachte ihr individuelles Wissen ein, zusammen entwickelten sie daraus eine Strategie.
Jessi reservierte zusätzliche Unterkünfte, aufgrund der gewachsenen Anzahl an Personen. Yelina schlief bei Nica, die ihr beim Zumba unter die Arme griff. Maelle gesellte sich zu Hanna, Lien teilte ihr Schlafgemacht mit Lara. Maris belegte ein Schlafgemach mit Schwester Sonja, Shanti nahm Kater Bao auf und Jessica Chuck. Die Räumlichkeiten lagen auf einem Stockwerk. Der Vorteil: Kürzere Wegstrecken.
Autos, Unterkunft, Kleidung, Nahrungsmittel, Technik, Mobiltelefone, das alles wäre ohne die Kreditkarte der Königin nicht finanzierbar gewesen. In etwa hatte die Hexe bisher fünf Jahreslöhne ausgegeben! Sollte sie je noch einmal die Ehre erhalten, Celestia persönlich anzutreffen, würde sie sich in aller Form für die Finanzspritze bedanken. Dank ihrer Hilfe hatte Jessi die perfekten Rahmenbedingungen geschaffen.
Glückliche Umstände spielten ihr ebenfalls in die Karten. Eheleute Bishop erklärten Lara offiziell für Tod, Maris behauptete, ihre Reise fortzusetzen, ihre Eltern hatten Sonja vergessen und Liens Erziehungsberechtigte vermissten ihre Älteste in keiner Weise. Zusätzlich brach Hanna digital in das Schulsystem ein und strich sämtliche Daten über die Chinesin aus allen Schulkarteien. Jessicas Krankmeldung dauerte mindestens bis Ende des Jahres. Allesamt waren die Kriegerinnen Geister.
Nachdem sie die Vorbereitungen abschlossen und Unklarheiten beseitigt hatten, konnte das Training beginnen.
August.
Jessica hatte Unmengen an unterschiedlichen Büchern, Magazinen und Onlineblogs über Muskelgruppen, Training, Muskelaufbau plus zugehörige Sporternährung gelesen. Sie besaß wenig Ahnung davon, ob Kriegerinnen der Königin dieselbe Art Training benötigten wie Normalsterbliche, doch schaden könnte es ihnen ja nicht. Oder?
Pünktlich 06:00 Uhr morgens weckte Jessi ihre Schäfchen zum Frühsport.
Dieses begann eine halbe Stunde später. Die dazwischenliegende Zeitspanne nutzten die müden Charaktere zum Murren und Fluchen. Außer Lien schien keine der jungen Damen erfreut über das vorläufige Ende der Nachtruhe.
Zu ihrem Unglück kannte Jessi keinerlei Mitleid.
Der Central Park lag nahe des Four Seasons und eignete sich hervorragend als Laufstrecke. Auf Anweisung ihrer Mentorin joggten Lien, Lara, Maelle, Hanna, Maris, Shanti, Nica, Yelina, einschließlich Sonja, stolze zehn Kilometer.
Jessica lieh unterdessen ein Fahrrad im hoteleigenen Verleih, fuhr neben den Mädels her und feuerte sie an. Genauer gesagt, drangsalierte sie die Geplagten. Wegen des sommerlichen Wetters war die Luft nachts nur geringfügig abgekühlt, dennoch ausreichend frisch, um perfekte Laufbedingungen zu schaffen. Einige Jogger trabten der Gruppe Mädchen entgegen, musterten sie neugierig.
Wie Jessi unschwer erkannte, wogen die sportlichen Konditionen ihrer Schützlinge recht unterschiedlich. Puras Thronerbin, sowie die Wald- und Schattenelfe rannten voraus, die Mexikanerin belegte das Mittelfeld.
Lichtelfe, Britin, Deutsche und die Wächterin hinkten hintendrein.
Aber allen voraus spurtete die Kampfsportlerin.
Als sie ihre erste Einheit des Tages geschafft hatten, schleifte die Mehrheit ihre Zungen umgangssprachlich auf dem Boden. Mit wenigen Ausnahmen natürlich.
Vor dem Frühstück stand Schwimmen auf dem Programm, immerhin förderte die Sportart Gesundheit, Ausdauer, zudem das Muskelwachstum. Das sagte ein renommiertes Fitnessmagazin.
Die Schwimmbäder des Hotels boten ausreichend Platz. Lara wagte zunächst nur zögerliche Züge, Maris dagegen glänzte, glitt elegant durch das Becken, wie ein Fisch im Wasser. Liens Ehrgeiz trieb die Chinesin unermüdlich an. Sie und die Priesterin lieferten sich ein Kopf an Kopf Wettschwimmen. Indes gab Yelina ihr Möglichstes, bemerkte allerdings deutliche Unterschiede zwischen ihr und den Kameradinnen. Bei allen Sporteinheiten. Erschöpft erholte sie sich am Beckenrand, derweil schwammen die anderen ihre von Jessica vorgegebenen Bahnen.
Endlich beim Frühstück, langten die ausgelaugten Sportlerinnen kräftig zu.
Auf ihrem Speiseplan standen frisches Obst, Vollkornprodukte, Magerquark und Eierspeisen. Starker Kaffee ergänzte das Mahl. Strikt befahl ihnen ihre Anführerin, die fettigen Mahlzeiten durch gesunde Fitnesskost zu ersetzen.
Zumindest temporär.
Gestärkt fuhr die Gruppe in die Shopping-Mall. Das integrierte Fitnessstudio stellte eine größere und modernere Auswahl an Geräten, als das Hotel.
Bis Mittag absolvierten die Kriegerinnen ein anstrengendes Krafttraining.
Wachsam behielt Jessica ihre Mädchen im Auge, damit sie ihre auferlegten Übungen sauber ausführten.
Ts, als ob Jessi es hätte besser machen können! Als ob sie überhaupt Ahnung, geschweige denn Erfahrungen in dem Metier vorweisen hätte können!
Zu den Übungen der Kriegerinnen gehörten unter anderem Bankdrücken, Kniebeugen, Klimmzüge, Dips, Beinpresse, Kreuzheben, Liegestütze und diverse muskelbezogene Wiederholungen im Freihantelbereich. Online Blogs waren sich einig, dass diese Grundübungen zu den wichtigsten gehörten.
Also, wenn einer keine Ahnung hat, hört er auf die, die welche haben. Da die Mädchen ihren Spaß hatten, konnte der Plan nicht verkehrt gewesen sein.
Das Four Seasons lieferte Luxus bei Ausstattung und in seiner Küche. Ausgehungert fiel die Frauenmeute später über das Buffet her. Der Nahrungsaufnahme dienlich waren Fleisch, Gemüse und Kartoffeln oder Reis.
Neben dem Körper schulten sie ihren Geist. Volle Bäuche eigneten sich nicht, um anschließend Sport zu treiben, daher weiteten die Mädchen ihren Intellekt in der größten Bibliothek der Stadt aus, Stadt-Verdauungspaziergang inklusive. Maris stürzte sich auf Bücher zum Thema Meeresbiologie. Lara bevorzugte Werke über Fotografie, Yelina Malerei, Nica interessierte die Kriegskunst. Shanti liebte Tierbücher, Lien holte sich Anregungen bei Kampfkunstwerken. Hanna baute ihr Wissen im Bereich der Selbstständigkeit auf. Biografien von und über Leichtathleten faszinierten Maelle.
Nachmittags übten die Mädchen Nahkampf, indem sie gegeneinander antraten. Ausgeglichen war das Sparring nicht immer, schließlich besaß Lien weitreichende Fähigkeiten. Doch Jessi bestand darauf, dass ihre Mädchen an der Herausforderung wuchsen. Abwechselnd bekämpften sie ihre härteste Konkurrentin. Jede sollte zumindest drei dreiminütige Runden durchhalten.
Für die Einzelne bedeutete das, neun Minuten Aktion, Lien aber kämpfte stolze 63 Minuten. Am Stück!
Maelle schlug sich ziemlich gut, da sie bereits Praxiserfahrung mit Kai genossen hatte. Hanna ebenso, denn ihre Brüder hatten sie früh zum Erlernen von Selbstverteidigung genötigt. Die anderen Mädchen steckten in Kinderschuhen. Natürlich erkannte Lien Unterschiede und verhielt sich entsprechend der vorhandenen Erfahrung ihrer jeweiligen Gegnerin.
Lichtelfe Yelina ließen sie außen vor. Sie verabscheute Gewalt, konzentrierte sich lieber auf die anschließende Heilung ihrer Kameradinnen.
Sobald sie den Faustkampf beendet hatten, ging es an die Waffen. Durch ihre Magie bannten die Kriegerinnen ihre individuellen Gerätschaften. Nica nutzte beide Colichemarde Dolche, Yelina die geerbte Hellebarde. Shanti rief Bogen, sowie Tomahawk Axt herbei. Maris beschwor ihren Dreizack, Maelle einen übergroßen Bumerang. Hanna rief die Dornen gespickte Peitsche, Sonja einen Holzstab und Lara zwei Pistolen. Ausschließlich Lien trug kein Utensil. Sie allein war gefährlich genug. Während die waffenbestückten Kämpferinnen ihre Techniken verbesserten, ruhte die Chinesin nicht etwa aus, sondern feilte an ihrem Kung-Fu.
Hanna brachte Lara das Zielen und Schießen bei. Zweckgemäß mieten die Mädchen einen Schießstand beim örtlichen Schützenverein.
Mitunter simulierte Jessica realitätsnahe Gefechtssituationen. Ihre Schützlinge durften dabei die angeeigneten Fähigkeiten unter Beweis stellen.
Die Übungssequenzen fanden nachts im Park statt. Zur später – oder früher – Stunde trafen sie wenige Menschen unterwegs an, vordergründig Obdachlose. Was den Rest anging, so verhüllte Jessica durch einen Zauber für Außenstehende die Sicht.
Anhand ihrer Eigenschaft entfesselte Nica verstorbene Kämpfer, welche in New York ruhten, bat die geisterhaften Gestalten um Mithilfe. Endlich einmal aus dem Erdloch namens Grab herausgekommen, erschufen die Toten Schwerter, lediglich Illusionen, und eröffneten die Schlacht. Schauspielerisch unangefochten talentiert, attackierten die Schemen bewusst aggressiv und bösartig. Dadurch lernten die Mädchen das Verhalten im Angesicht feindlichen Angriffs kennen, zudem die Reaktion auf gegnerische Handlungen, plus die Umsetzung von Nah- und Fernkampftechniken in Stressmomenten.
Der temporäre Ausbruch aus dem Totenreich bescherte den Geistern eine Menge Spaß.
Ja, Geister konnten Freude empfinden, wie eine Bartagame auf zwei Beinen laufen und pausenlos nörgeln konnte.
Übrigens übernahmen Yelina die Rolle der Ärztin und Jessica die des Coachs.
Coach Adams sorgte dafür, dass ihre Mädchen ausreichend schliefen. Erholung war in Belastungsphasen essenziell. Sagten Fitnessinfluencer auf YouTube.
Vor dem Zubettgehen leisteten die Kameradinnen Lien Gesellschaft, die ihnen Meditationsübungen und Qi Gong näherbrachte.
An Wochenenden durften sie Restaurants nach ihrem Geschmack wählen. Größtenteils fiel die Essensaufnahme auf Burger mit Pommes, Fish and Chips, Sushi oder Pizza. Fast Food eben.
Aber Sportfanatiker feierten auch ihren sogenannten Cheat Day, nicht?
Natürlich gewährte Jessica den jungen Hühnern ihre Freizeit. Gerne schaute die Gemeinschaft Filme im Kino oder belebte die Tanzfläche in angesagten Clubs.
Eines Abends grabschte ein aufdringlicher Mann Lara an den Hintern. Lien bekam Wind davon, packte den Kerl, zog ihn von ihrer Freundin fort und schmiss ihn aus dem Laden. Die Türsteher gafften und das nicht schlecht.
Ab dem Zeitpunkt legte sich in dieser Disco niemand mehr mit der Chinesin oder ihren Kumpelinnen an.
Der achte Monat des Jahres verging wie im Flug.
Wochenlang absolvierten die Kriegerinnen einen strikten Trainingsplan. Stetig verbesserten sie Kontaktfertigkeiten, Waffengebrauch, erweiterten individuelles Wissen, erhöhten Kondition, stärkten Körper und Geist.
Jessica konnte nicht stolzer auf ihre Mädchen sein.
Im Laufe des Sommers war ein neuer Superstar am Musikhimmel aufgetaucht.
Zahlreiche Musiksender sowie das Internet kochten mit immer den neusten Informationen über. Die Band „Fake Korea“ (wer immer diesen Namen erfunden hatte!) bestand aus vier Personen: einem Schlagzeuger, Gitarristen, Bassisten und dem Sänger, Johnny.
Mit seinen stechend grünen Augen, den gefärbten lila Haaren und einer engelsgleicher Stimme eroberte der Mittzwanziger die Charts, außerdem alle Frauenherzen, ob alt oder jung. Die Bandbreite seiner Songs schwankte zwischen gefühlsbetonten Balladen, Jessi nannte es „Schnulze“, und Hardrock. Kritiker bewerteten ihn als vielseitiges Wunderkind.
Still dankte die Hexe dem Herrn, denn ihre Mädchen waren anders als gewöhnliche Gleichaltrige. Die Kriegerinnen hegten keine Schwärmereien für den Stern am Himmel. Die Anziehungskraft des Sternchens zog glücklicherweise an ihnen vorbei.
Eines Sonntagabends aßen die Mädchen in einem modernen Hipster-Restaurant italienisch. Sonja kaute einen Bissen Scampi, der ihr geradewegs im Hals stecken blieb, als ein Mann erschien. Frech gesellte er sich an den besetzten Tisch und erntete prompt Musterungen durch die wachsamen Augen der Mädchen. Er sah gut aus, trotz seiner ernsten Miene. Seine längeren rotbraunen Haare hatte er zu einem lockeren Zopf gebunden. Kastanienbraune Augen passten zu den markanten Zügen. Nickend begrüßte er Sonja. Offenbar kannte sie den Kerl. Gestikulierend bedeutete er ihr, ihn vorzustellen. Nun, falls ihr Hustenanfall je versiegte und sie den Scampi überlebte!
„Äh, Leute“, stotterte sie, „das ist Rick, der Wächter des kosmischen Raumes.“
„Oh!“, raunten die Anwesenden erstaunt.
Das von ihm folgende Winken wirkte arrogant. Etwa 90 % der Sympathien verlor er innerhalb der ersten Bekanntheitsminute.
Sofort erfragte Jessica besorgt: „Bitte sag mir nicht, du nimmst mir den tollen Schlüssel weg?“
Arrogantes Gelächter. Jetzt waren es 95 %.
„Keine Sorge!“, erwiderte Rick, auf einmal überraschend charmant, „Ich bin gekommen, mich euch vorzustellen und, analog zu Sonja, meine Unterstützung anzubieten. Den Schlüssel dürft ihr weiterhin gebrauchen. Er unterhält eine unbegrenzte Nutzungsdauer. Batterieaustausch ist hinfällig.“
Der Held aller Schwiegermütter fuhr sich mit der Hand durch das locker gebundene Haar. Wäre er eine Zeichentrickfigur gewesen, würde die Atmosphäre um ihn herum glitzern. Die Herzchen in Sonjas Augen konnten alle Beteiligten jedenfalls deutlich erkennen.
Einige Minuten lang plauderten die Tischgenossen angeregt. Rick erzählte komödiantisch von seiner Arbeit und seinen bis dato aufregendsten Fällen. Daraufhin interessierten ihn die Trainingsfortschritte der Kriegerinnen.
Jessica stutzte. Auch in Hannas Mimik entdeckte sie Wachsamkeit. Lien schwieg, doch ihre Körperspannung sprach Bände. Ebenso wie Nicas. Die Schattenelfe wechselte das Thema.
„Erkläre mir doch mal, lieber Herr Wächter, wie es Schwarzmagier schafften, Portale ohne Schlüssel herzustellen! Sind dir ähnliche Fälle schon begegnet?“
Brillantes Ausweichmanöver! Geistig zog Jessi den imaginären Hut vor ihr.
„Das kann ich nicht. Und nein, es ist nichts Vergleichbares geschehen“, seufzte der gut aussehende Wächter frustriert.
Übertrieben frustriert, fragte man eine der erfahrenen Kämpferinnen.
„Diese Vorgehensweisen entziehen sich meiner Kenntnis. Sobald ich Informationen erhalte, leite ich sie selbstverständlich an euch weiter.“
Dem aufgesetzten Grinsen gewannen 95 % der Anwesenden nichts ab.
Leider schaffte ein schwacher Balken oft, das gesamte Haus umzustürzen. In ihrem Fall tanzten Herzchen um den besagten Balken. Und auf diesen Herzchenbalken sah es Rick wohl ab.
Kaum hörbar säuselte er: „Sonja, bevor ich morgen wieder abberufen werde, gehen wir einen Kaffee trinken?“
Sonjas Herz sprang sichtlich aus der Brust.
Jessica blieb skeptisch. Sie und Hanna tauschten vielsagende Blicke.
Aber, wo kein Kläger, da kein Richter.
Ein ansonsten vergnüglicher Abend neigte sich gen Ende. Vor ihrem Zimmer fing Jessi Sonja ab.
„Sei vorsichtig und gib nur wenige Details preis!“, mahnte sie ihre Gefährtin.
Das junge Mädchen lächelte gequält.
„Rick ist ein Wächter! Glaub mir, von ihm droht keinerlei Gefahr.“ - „Das glaubte Yelina auch bei Sydney“, widersprach die Hexe, „möglicherweise behältst du recht. Dennoch sollten wir umsichtig sein. Der Teufel ist bekanntlich ein Eichhörnchen!“
Sonja berichtete keinen Ton über ihr Date. Gleichwohl war sie verknallt. Es war unübersehbar. Vermutlich einseitig, denn traurig war sie nachmittags heimgekehrt. Ihre besorgte Schwester hätte am liebsten Sonjas Herzensbrecher verprügelt.
Die niedergeschlagene Stimmung übertrug sich schnell auf die Übrigen, am restlichen Montag redeten die Mädchen kaum miteinander.
Beim Abendessen sprach Nica das Unvermeidliche an: „Sonja, du Trauerkloß, was zur Hölle ging ab? Ist er schwul?“ - „Oder verheiratet mit drei Kindern?“, schlug Hanna alternativ vor.
Die Wächterin erntete Aufmerksamkeit, schüttelte aber den Kopf und schwieg.
Das reichte! Anführerin Jessica rammte die Fäuste auf den Tisch.
„Hör zu, jeder hat das Recht auf einen schlechten Tag“, brüllte sie, „selbstverständlich kannst du mies gelaunt sein. Aber spuck aus, was dich bedrückt! Krieger können sich keine Depressionen leisten!“ - „Jessi, ist gut jetzt! Zeig mal Verständnis“, rief Maris dazwischen, die ihrer Schwester zu Hilfe eilte.
Hanna unterbrach die Streithähne: „Seht ihr nicht, was hier läuft? Eine Diskussion wegen nichts!“ - „Richtig“, unterstützte Lara, „eine Lappalie darf uns nicht dermaßen auseinanderreißen!“
Langsam beruhigten sich die Gemüter.
Engel Yelina fragte wesentlich sanfter: „Wir sind doch Freundinnen, nicht? Wir hören dir zu. Magst du dich uns nicht anvertrauen?“
Auf einmal weinte Sonja. Und Maris kochte!
„Ich kenne Rick seit Jahren“, flennte die magere Brünette, „schon bevor mich die Königin zur Wächterin ernannte! Wir haben in Frankreich dieselbe Schule besucht.“
Jetzt wirkte Maris erstaunt. Sie schluckte, weil sie offenbar weniger als gedacht über ihre Schwester wusste.
„Ich bemerkte erst gestern, wie sehr er sich verändert hat“, fuhr Sonja fort.
„Inwiefern?“, fragte Jessica, plötzlich hellwach.
Der Trauerkloß schniefte.
„Na ja, früher war er immer lieb, behandelte mich respektvoll. Ich schwelgte in Glückseligkeit, nachdem ich erfahren hatte, dass er zum Wächter berufen war! Im Laufe der Zeit sahen wir uns seltener, sein Job forderte ihn. Heute trank er bloß mit mir Kaffee, um mich über euch auszuquetschen!“
Alle Alarmglocken schrillten! Angespannt kniffen Lien, Shanti, Nica und Hanna die Augen zusammen. Jessica runzelte die Stirn, während Maelle, Lara und Yelina Bahnhof verstanden. Hingegen kapierte Maris die Sachlage hervorragend.
„Seine Ausstrahlung schien so falsch!“, erzählte Sonja, schaute ihren Freundinnen in die Augen. „Ihr hattet recht, er wollte an Informationen gelangen! Warum auch immer.“
Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht. Maris streichelte ihrer Schwester den Rücken.
Auf die Frage des „Warum“ fand bis dato noch keine eine Antwort. Der Tag ging trostlos vorüber.
Inzwischen waren zwei weitere Wochen verstrichen.
Bedauerlicherweise dauerte die bedrückte Stimmung an, ausgelöst durch die Ungewissheit aufgrund Ricks bohrender Neugierde.
Allmählich verdrängte der beginnende Herbst den Sommer. Die Natur färbte die Kronen der Bäume bunt, der Wind frischte auf. Nachts fielen die Temperaturen zeitweise unter 10 Grad Celsius. Der kommende Jahreszeitenwechsel stand unmittelbar bevor.
Gerade als die Mädchen aus dem Schwimmbecken gestiegen waren und auf ihren Zimmern duschten, fing Maris Jessica ab.
„Mir kam ein Gedanke“, fiel sie mit der Tür ins Haus.
Gespannt gebot Jessi ihrem Schützling, weiterzusprechen.
„Shanti, Nica, Yelina und du, ihr spracht davon, Schwarzmagier erschienen mittels selbst gebastelter Dimensionstüren auf den Heimatplaneten der Elfen, aber normalerweise dürfte niemand solche Fähigkeiten besitzen, richtig?“ - „Korrekt“, pflichtete Jessi bei.
„Was, wenn Magier die Tore überhaupt nicht erschaffen hatten?“
Hellhörig geworden, hob die Hexe eine Augenbraue.
„Und weiter?“, ermutigte sie die Priesterin.
„Sonja sagte, der aalglatte Wächter-Typ veränderte sich mit der Zeit. Meine Schwester ist keine Person, die Tatsachen verkehrt wiedergibt. Im Anschluss an ihre Verabredung, versuchte sie über ihren Spiegel den Grund für die Veränderung seiner Persönlichkeit in Erfahrung zu bringen. Weißt du, was sie sah?“
Wahrheitsgemäß schüttelte Jessica den Kopf. Eine seltsame Vorahnung ließ sie erschaudern. Gänsehaut überzog ihren Körper.
Wahrscheinlich platzierte Maris absichtlich eine dramatische Pause, um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen.
„Rein gar nichts!“
Spannungsgeladenes Schweigen.
„Das war auch der Grund, warum sie derart verstört erschien. Sie erzählte mir erst heute Morgen davon.“ - „Moment!“, unterbrach Jessi brüsk, „zum Mitschreiben für Dumme. Was bedeutet das, ihr Spiegel zeigte ihr nichts?“
Aufgeregt flüsterte Maris: „Anscheinend besitzt dieser Rick keinerlei Träume. Das heißt, er ist innerlich wie tot.“ - „Folglich ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er böse geworden ist“, schloss Jessica, die allmählich begriff.
„Eben!“, unterstützte Maris, „spinne das Netz weiter. Er beherrscht den kosmischen Raum. Dank seiner Schlüssel gelangt er überallhin. Vielleicht borgte er den Schwarzmagiern ja welche!“
Augenblicklich fielen die Schuppen von Jessicas Augen. „Du meine Güte!“, stöhnte sie, „weshalb hielt deine Schwester diese gravierende Information hinterm Berg?“
Maris seufzte. „Wenn ein Mädchen verliebt ist, tut es manchmal blöde Dinge.“
Jessi glotzte Maris dämlich an.
„Argh!“, schimpfte sie in völligem Unverständnis und trampelte fassungslos auf der Stelle. „Ruf die Mädchen zusammen! Notfall-Meeting. Bella pronto!“