Lien – Feuer
„Was du entzünden willst, muss in dir selbst brennen.“
Augustinus
In Chengdu, Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan, leben ungefähr 14 Millionen Einwohner, davon fünf Millionen in den Stadtbezirken und weitere neun Millionen im Umland. Die Stadt entwickelte sich, neben Chongqing, zum Wirtschaftszentrum Westchinas. Eine Zuchtstation für den Großen Panda, die sogenannte Chengdu Research Base of Giant Panda Breeding, wurde im Norden Chengdus errichtet, da der Pandabär eines der nationalen Symbole Chinas darstellte. In gewisser Hinsicht galt Chengdu deshalb als Panda-Hauptstadt. Abgesehen von dieser Sehenswürdigkeit, widmeten Touristen ihre Aufmerksamkeit unter anderem zahlreichen buddhistischen Klöstern, einer Vielzahl an Parks, riesigen Einkaufszentren, wie International Finance Square und Western Tower, diversen Tempeln, historischen Gräbern, sowie einem heiligen Berg, dem Qingcheng Shan.
Aktuell verteidigte, chinesischen Angaben zufolge, das New Century Global Center den Platz des weltweit größten Gebäudes.
Die permanent schwül-heiße Luft eines normalen Sommers, bedingt durch eine fast dauerhafte Wolkendecke, erstickte in Smog. An manchen Tagen verwehrte nebliger Dunst den Blick auf die andere Straßenseite.
Kein Wunder, der motorisierte Verkehr erstarkte. Stillstand auf den Straßen war keine Seltenheit. Nicht umsonst fand der öffentliche Nahverkehr Anklang. Verbreitet reisten Passanten per Bus. Andererseits erfreute sich auch die Fahrradrikscha großer Beliebtheit. Nahezu geräuschlos sausten batteriebetriebene Elektroroller durch die Stadt. Ebenso sie waren ein begehrtes Transportmittel. Fast an jeder größeren Kreuzung verkauften Händler Batterien zum Austausch. Weiterhin für die Vielzahl seiner Teehäuser bekannt, lagen jene in Chengdu sogar zahlreicher verbreitet, wie Gasthäuser in Peking. Unfassbare Bandbreiten an außergewöhnlichen Teesorten erklärten vielköpfige Besuche in den entspannt bis lebhaft gefüllten Arrangements.
Stets fanden Chinesen Gelegenheit zum Schwatz, oder Kartenspiel, darunter Mah-Jongg und Go.
Kleine Garküchen lieferten Nahrung für auftretenden Hunger. Aus der Provinz, in welcher die Einwohner gerne scharf aßen, entsprang eine Spezialität namens Tag Tsai, eine saure, eingelegte Knolle.
In der Bevölkerung herrschte Gruppendenken, was bedeutete, die Gemeinschaft wog höher als der Einzelne. Sein Gesicht zu wahren, dem maßen Einheimische eine der wichtigsten Rollen bei. Weitere Bausteine bestanden aus Höflichkeit, gesitteten Ausdrucksformen, Harmonie, Indirektheit, Fleiß, Ritualisierung und Hierarchiebewusstsein.
Ein braves chinesisches Mädchen eignete sich die Eigenschaften an, schaute auf sein Äußeres, lernte fleißig, gedachte ausreichender Bildung und guten Umgangsformen, benahm sich zurückhaltend, respektierte die ihr Übergeordneten. Hauptsächlich hielt es seinen Mund.
Yu Ming verkörperte Perfektion, sie war zu einer vorbildlichen Chinesin herangereift. Ausschließlich Spitzennoten erntete sie, redete lediglich bei Aufforderung, achtete auf eine gehobene Sprechweise, hofierte andere freundlich, koordinierte jede ihrer Bewegungen präzise, befolgte sämtliche Regeln und hatte nebst Verhalten auch optisch alle Eigenschaften einer Puppe. Ehrlicherweise erachtete die überwiegende Mehrheit in diesem Teil der Welt Gefühle ohnehin als ungewolltes, unnützes Anhängsel.
Yus Mutter Xia war ihrer Tochter ein manierliches Vorbild, machte zu Hause nie Anstalten von Aufmüpfigkeit. Genauso ihre Großmutter väterlicherseits. Großvater war verstorben, deshalb beherbergte ihre Familie die Witwe.
Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in Peking und erfreuten sich bester Gesundheit und Wohlstand. Der Ming Clan wäre eine Vorzeigefamilie gewesen, hätte unter ihnen kein schwarzes Schaf existiert.
Das berühmte schwarze Schaf.
Die Zwillinge des Ehepaars Dan und Xia konnten unterschiedlicher nicht sein.
Im Gegensatz zu ihrer Schwester Yu, war Lien, zum Leidwesen ihres Vaters, zu einem Wildfang herangewachsen. Lien Ming lebte nach eigenen Wertvorstellungen und hatte sich jeher gegen die Gesellschaft aufgelehnt.
Furchtlos vertrat sie ihre Ansichten, strebte nach Meinungsfreiheit, Direktheit, Kritikfähigkeit, Individualität und der Verwirklichung persönlicher Ziele.
Ihre Leidenschaft und Beharrlichkeit suchten ihresgleichen, eckten allerdings in ihrem Umfeld an.
Im Laufe der Jahre hatte sie einen starken, unbeugsamen Charakter gebildet. Je mehr er zum Vorschein gekommen war, desto stärker hatte Dan Ming seine fünf Minuten ältere Tochter ignoriert, stattdessen seine Energie der Erziehung des geliebten jüngeren Zwillings gewidmet. Aufgrund allumfassender Weisung des Hausherren betrachteten die restlichen Familienmitglieder und Haushaltshilfen Lien, wie Luft in China – stickig, undurchsichtig, belastend und ungewollt. Aufgrund dieses Verhaltens ihr gegenüber hatte das Mädchen seine schönen braunen Augen öffnen und sich freiwillig ändern sollen.
Von wegen! Es hatte bezweckt, dass das ehrgeizige Kind auf noch höhere Barrikaden gesprungen war. Also setzte die Ming Familie weiterhin auf Ignoranz. Bis heute. Und Lien gab einen Scheiß darauf.
Ihre gewonnene „Unsichtbarkeit“ für die Familienangehörigen erfreute sie.
Momentan besuchte die ungeliebte Tochter die Oberstufe der Mittelschule.
Selbstverständlich erhielt Hoffnungsträgerin Yu Privatunterricht. Das Leben des guten Zwillings hatte ihr Vater bis ins letzte Detail verplant. Die besten Lehrer förderten Yu, damit aus ihr später eine herausragende Persönlichkeit in einem angesehenen Beruf werden würde, bevor sie schlussendlich heiratete und den Stammbaum fortsetzte.
Lien verschwendete keine Gedankenenergie an eine unbekannte Zukunft. Ihre Liebe gehörte weder Büchern noch Berufswünschen, gar Plänen von Heirat oder Kindern. Gewöhnlichen Mädchenträumen gab sie sich nicht hin. Einzig dem Kampfsport galten ihre Leidenschaft und Hingabe.
Damals drei Jahre alt, hatte die kleine Lien während einer schlaflosen Nacht heimlich den Fernseher im Wohnzimmer des großzügigen Herrenhauses eingeschaltet. Schlau war sie schon immer gewesen. Das Anwesen erstreckte sich über eine Wohnfläche von knapp 200 Quadratmetern, verteilt auf drei Stockwerke. Die Geräusche im ersten Stock waren in besagter Nacht nicht bis zum Schlafzimmer ihrer Eltern vorgedrungen, welches eine Etage höher lag. Lien hatte bis zum Anbruch des Morgens Kung-Fu Filme angeschaut, danach unbedingt das Kämpfen erlernen wollen. Dan und Xia hatten ihr den, wie sie ihn nannten, schmutzigen Männersport verboten. Natürlich.
Regelmäßig war das Mädchen in die Stube geschlichen, hatte Actionfilme regelrecht inhaliert. Kein einiges Mal war sie von ihren Erziehungsberechtigten erwischt worden. Zum großen Glück des Kindes war das Haus groß genug, sodass die Schwestern separate Zimmer bewohnten.
Lien hatte die gesehenen Kampfszenen vor ihrem Spiegel geübt. Amateurhaft, aber beharrlich. Eines Tages hatte die Familie in einem großen nahegelegenen Einkaufszentrum eingekauft. Die sechsjährige Lien hatte die Schaufenster bewundert, getrödelt und sich daraufhin in der Menschenmasse verloren. Andere Kinder hätten vermutlich geweint, nicht aber dieses. Aktiv und völlig besonnen hatte es seine Familie gesucht. Wenig später hatte es einen Mann mit Gipsfuß entdeckt, der sich mit Unterstützung zweier Krücken vorwärts bewegt hatte. Eine Einkaufstasche war über seiner Schulter gehangen. Junge Kerle hatten den Verletzten versehentlich angerempelt. Der Stoß hatte bewirkt, dass er die Gehhilfe losließ, seine Tasche den Arm hinunterrutschte, die eingepackten Waren heraus kullerten und über den Boden rollten.
Fremde werden in China großteils ignoriert. Außerhalb eines gewissen „inneren Kreises“, bestehend aus Familie und noch maximal engen Freunden, existierte keine Welt. Die Besucher des Zentrums hatten den Mann einfach ausgeblendet, einen großen Bogen um ihn gezogen. Allein hätte er es unter Mühe geschafft, seine Utensilien aufzuheben. Unvoreingenommen war Lien ihm zu Hilfe geeilt. Flugs war sie über die schmutzigen Fliesen gekrabbelt, hatte die Güter eingesammelt und zurück in das Säckchen gestopft. Freudestrahlend hatte das Kind dem Herrn seine Einkäufe überreicht, er sich herzlich bedankt. Weitere Worte hatten sie nicht gewechselt. Dan hatte seine Tochter gefunden, von dem Fremden fortgezogen. Am Abend hatte Lien Schläge erhalten, gefolgt von einer Schimpftirade.
Einige Zeit später hatten Yu und Lien im Jincheng Park gespielt, der sich in der Nähe ihrer Straße befand und stets gut besucht war. Die meisten Passanten, allesamt Bewohner, kannten einander. Deshalb hatten die Mädchen ohne Begleitung hingehen dürfen, solange sie zu bestimmten Uhrzeiten zu Hause gewesen waren. Yu hatte schnell Anschluss gefunden und mit ihren neuen Freundinnen gespielt. Lien war umgangssprachlich im Regen stehen geblieben, hatte aber Beschäftigung gefunden. Zielstrebig hatte sie ein lauschiges Plätzchen gesucht, wo sie ihre sporadischen Übungen hatte ausführen können. Eine Weile war vergangen. Unvermittelt hatte Lien den Kerl aus dem Einkaufszentrum bemerkt, mittlerweile seines Gipses entledigt. Er hatte sie beobachtet. Da seine Tarnung aufgeflogen war, war er dem Mädchen entgegen getrabt. An seine damaligen Worte erinnerte sich Lien noch heute.
„Hallo“, hatte er sie begrüßt, „bislang erhielt ich keine Gelegenheit, mich vorzustellen. Long Wei. Einst praktizierte ich als Mönch Kampfkünste im Shaolin-Kloster am Fuße des heiligen Song Shan Berges. Ich sah deine Bemühungen, junges Mädchen“ – „Warum trainierst du nicht mehr dort?“, quiekte Lien. Amüsiert ihre Offenheit, hatte der Mönch geantwortet: „Mehrere Verletzungen halten mich davon ab. Jahrelange Anstrengung macht hart, geht aber auch auf die Knochen.“ Er lachte über seinen Wortwitz.
„Das tut mir voll leid!“, hatte Lien entgegnet.
Ehrlich gemeintes Mitgefühl, welches sie empfunden und das ihre Stimme hergegeben hatte, hatten den erfahrenen Kampfkünstler überrascht. In ihrem Geist, hatte er erkannt, brannte ein loderndes Feuer.
„Wer ist dein Lehrer?“, hatte Long Wei wissen wollen.
Lien hatte den Kopf geschüttelt.
„Ich habe keinen. Ich versuche, mir das Kämpfen selbst beizubringen!“
Dermaßen viel Stolz war in ihren Worten gelegen, der Erwachsene hatte laut gelacht. Anschließend hatte ihn interessiert: „Warum möchtest du überhaupt kämpfen lernen?“
Lien grinste. Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, zu lügen. Sie hatte ihm die Wahrheit offenbart.
„Ich will richtig stark werden! Dann kann mich niemand unterdrücken!“
Nicht ein einziges Wort aus dem Mund der Sechsjährigen hatte Long für Unfug empfunden, jedes hatte das Mädchen ernst gemeint.
„Was denkst du? Soll ich dir ein paar Tricks zeigen?“, hatte er angeboten und ihr ein warmes Lächeln geschenkt. Wenn er lächelte, kniff er seine Augen zusammen. Liens Augen andererseits hatten an dem Tag wie die Sterne am Firmament geleuchtet.
„Au, ja!“, rief sie freudig.
Ab dem Zeitpunkt hatte der ehemalige Shaolin-Mönch Long Wei ein kleines Mädchen zu trainieren begonnen.
Seither waren 10 Jahre vergangen.
Lien traf ihren Shifu täglich im Jincheng Park. Mehrere Stunden lang, sieben Tage die Woche, übte die Schülerin unter Anleitung ihres Meisters Teile des Shaolin Kung-Fu, welches mehr als 360 chinesische Kampfkunst Stile umfasste. Elemente aus dem Wushu, dem moderneren Wing Chun flossen in den Unterricht ein, genauso Meditation und Qi Gong. Abends kam Lien zu den festgelegten Uhrzeiten nach Hause, duschte, aß, schwieg, ging ins Bett. Morgens platzierte sie sich am Küchentisch, frühstückte in Gemeinschaft mit der Familie, brach zur Schule auf und verschwand nachmittags direkt Richtung Park. Diese Regel wiederholte sie tagein, tagaus, bei Wind und Starkregen, egal zu welcher Jahreszeit. Das Fortbleiben seiner Ältesten erweckte kein Interesse bei Dan. Darum hatte die Abwesenheit seine Frau Xia, Tochter Yu und die Hausangestellten ebenfalls nicht zu kümmern.
Lien, die Ausgestoßene des Clans, genoss Narrenfreiheit. Vater Dan interessierte sich nicht für sie und sie scherte sich nicht um ihn. Hauptsache, ihrem Shifu war sie wichtig.
Von Anfang an hatte Long großes Potenzial in ihr entdeckt. Darum hatte die erste, aus Dankbarkeit entstandene Trainingseinheit, zu vielen weiteren geführt. Den ehemaligen, unverheirateten, kinderlosen Mönch freute es, sein Wissen an eine weiterfolgende Generation vermitteln zu können. Überdies hatte er bald väterliche Gefühle für das Mädchen gehegt und behandelte Lien wie seine eigene Tochter. Was keineswegs bedeutete, dass er sie schonte. Jede Einheit forderte, durch körperlich anstrengende Bewegungsübungen, die Ausdauer der Schülerin aufs Äußerste, stärkte im Gegenzug ihren Körper und Geist. Die rein meditativen Bewegungsabläufe dienten weniger der Selbstverteidigung, vielmehr verbesserte Lien die erlernten Fertigkeiten und Techniken, welche in einem realen Kampf ernsthafte Verletzung des Gegners hervorrufen könnten.
Unlängst hatte Lien Long klargemacht, dass sie sich messen wollte. Eines Tages gab der Mönch klein bei, als er sie für bereit hielt. Er arrangierte ein Sparring in einem nahegelegenen Kampfsportclub. In China sprossen Kampfkunstschulen empor, wie Sand am Meer vorhanden war.
Ausschließlich männliche Athleten posierten in der heruntergekommenen, übel riechenden Halle. Ein Ring in der Mitte, der seine besten Tage hinter sich gelassen hatte, diente den prahlenden Muskelpaketen dazu, einander die Zähne einzuschlagen.
Long hatte Lien im Vorfeld aufgeklärt, wessen Verband sie besuchen würden.
Beim Betreten der Halle schwebten sämtliche Augenpaare Richtung Lien. Gewiss hatten die Männer keinesfalls mit einer weiblichen Herausforderin gerechnet. Tuschelnd steckten sie die Köpfe zusammen. Erhobenen Hauptes schritt die Jugendliche zur viereckigen Kampfzone. Derweil begrüßte Long den verantwortlichen Trainer für den Bereich Kickboxen, verneigte sich höflich vor ihm. Der wiederum musterte das Mädchen kritisch.
„Sicher?“, hakte er nach.
Der Ex-Mönch verzog die Mundwinkel und antwortete knapp: „Absolut!“
Achselzuckend rief der Coach einen seiner Männer: „Liang! Komm rauf!“
Ein großer, stämmiger Kerl trat aus der Masse. Langsam kletterte er in den Ring und bezog Stellung in einer Ecke. In der anderen dehnte Lien jede einzelne Körperpartie. Nachdem die restlichen anwesenden Männer die Lage verstanden hatten – den Umstand, dass ein Gör, noch dazu ein weibliches, ihre Kampfsportschule und einen männlichen Kameraden herausforderte – grölten sie lauthals. Die Arschlöcher lachten Lien aus.
Jahrelanges Training bewahrten die Chinesin nicht vor der Schmach, ließen sie aber mit einem ruhigen, fokussierten Geist darauf reagieren. Insofern gab die Kämpferin keinen Mucks von sich, starrte ihren Gegner ausdruckslos an.
Beide Ausbilder bezogen die Position außerhalb des Rings, je auf der Seite ihres Schützlings.
„Fangt an“, drängte der Kickboxer.
Zuvörderst spuckte Liang große Töne: „Ey, Tussi! Ich schone dich nicht, weil du 'ne Muschi hast! Selbst schuld, wenn du gleich deinen knochigen Arsch vollbekommst!“
Applaus seitens seiner Trainingskollegen. Dann stürzte der Kerl auf Lien. Er nahm zwei, drei Schritte Anlauf, sprang ab und attackierte mittels Sprungkick.
Durch eine Rolle vorwärts wich Lien aus, kam direkt hoch, rotierte ihren Körper auf einem Fuß, ähnlich zu der Art, wie eine Ballerina tänzelte, und traf den Kerl mit einem Kick am Kopf. Die Aktion führte zum sofortigen Knock Out. Der Knabe sackte ohnmächtig auf den Ringboden.
Voriges Gejohle der Umstehenden erstarb. Totenstille herrschte.
Fassungslos begafften die Kampfsportschüler das siegreiche Mädchen.
Lien spürte die feindlichen Schwingungen. Mutig stellte sie sich ihnen: „Wer will? Ich nehme es mit euch allen auf!“
Was hatte ihr Meister sie gleich gelehrt? So viel zum Thema „Demut“, nicht?
Der nächste Typ nahm die Herausforderung bereitwillig an, stieg zwischen die Seile, zwei andere trugen indessen den besinnungslosen Verlierer fort.
Ihr neuer Gegner hieß offenbar Ren. Entgegen seinem Kumpel tänzelte der schlaksige Jungspund mit dem interessant aussehenden Hahnenkamm auf dem Schädel um Lien herum. Davon ließ sie sich nicht verwirren, konzentriert verteidigte sie die Ringmitte. Vorsichtig tastete Ren sich vor. Ein niedriger Tritt zielte zunächst auf ihre Waden, doch sie sprang rechtzeitig außer Reichweite.
Ihr Gegner setzte nach, sie durchschaute seine Strategie. Ren beabsichtigte, die größenmäßig benachteiligte Frau in die Ringecke zu drängen. Dem nächsten Kick wich Lien nicht mehr aus, sie nutzte ihr quer gegenüberliegendes Bein zur selben Zeit. Beide Schienbeine klatschten aufeinander, Liens Angriff enthielt die größere Kraft. Während sie stark wie ein Baum stand, knickte Ren vor Schmerz ein. Auf den Kampf fokussiert, die Buhrufe ausgeblendet, gab sie ihrem Sparringspartner keine Chance auf Erholung. Liens Fuß fand den Weg in seine Magengrube. Ihrem Treffer geschuldet, taumelte Ren. Der Junge duckte sich einen Moment zu lange, geschwind überbrückte sie die Distanz, platzierte linker Hand einen Leberschlag und versenkte mit der rechten einen Kinnhaken. Rückwärts ging ihr Gegner zu Boden.
Alle guten Dinge waren bekanntlich drei, dachte wohl der muskulöse Ausländer. Ein Deutscher, wie Lien später erfuhr. Der Bulle erreichte gewaltige Ausmaße, er musste über die Seile des Rings steigen! Lien, eine für asiatische Verhältnisse große Frau, wirkte zwergenhaft im Vergleich zum glatzköpfigen Hünen mit dem grimmigen Blick. Urplötzlich verstummte die Menge.
„Mädchen!“, bekannte der gegnerische Coach, „du hast uns deine Stärke bewiesen. Aber jetzt mach dich davon! Willi bricht dir sonst sämtliche Knochen!“
Das vorher versteinerte Gesicht des Mädchens formte nun ein freches Lächeln. „Herausforderung angenommen!“, gab sie zurück.
Komplett baff schaute der Mann ihren Shifu an.
Long rief seine Schülerin: „Lien!“
Sofort gehorchte sie. In Windeseile kniete sie sich in die Ecke und streckte den Kopf durch die Stricke.
Ernst im Gesicht riet der Mönch: „Seine Körpersprache signalisiert Gefahr und sein Blick flackert. Ich bin sicher, bei dem Monster laufen ein paar Rädchen falsch. Sei achtsam. Bleib fokussiert. Dann besiegst du ihn!“
Willi ging das Gequatsche wohl auf die Nerven. Ohne Vorwarnung preschte er los, laut tobendes Geschrei im Gepäck. Gräuel, ein Mädchen zu schlagen, hatte er jedenfalls nicht. Er packte Lien an ihrem roten T-Shirt, zerrte sie zurück in den Kampfbereich und riss sie auf die Matte. Sekündlich fasste sie sich, kam auf die Beine und stand fest. Willi hob derweil die Arme und wechselte in Boxerstellung. Anders als die Vorgänger schlug er mit seinen Fäusten und nutze seine Füße ausschließlich für flinke Vorwärts- und Seitwärtsbewegungen. Beinahe tobsüchtig schlug er Führ- und Schlaghand, verpasste Lien abwechselnd Einzelschläge und Serien. Lien blocke die Prügel unter Zuhilfenahme ihrer Handflächen oder -kanten, den Ellenbogen, Unterarmen, wand sich manches Mal aus der Schlagrichtung.
Der Berg eines Mannes fing an durchzudrehen. Saubere Schläge brachten ihn nicht an sein Ziel, prompt kämpfte er mit anderen Mitteln.
„Boss!“, hörte Lien einen Buben aus der Männerschar brüllen, „Willis Hirn setzt aus! Tu was! Der schlägt die Tussi tot!“
Chefcoach sah das genauso, denn er machte Anstalten, den Kampf abzubrechen.
„Mischen Sie sich bitte nicht ein“, drängte Long seinen Trainerkollegen.
Er wiederum starrte den Mönch ungläubig an.
Berserker Willi fuhr währenddessen die Arme aus, welche ungefähr den Umfang von Liens Schenkeln besaßen und versuchte, die Hände zusammenzuklatschen – mit Liens Kopf dazwischen!
Leichtfüßig entwand sie sich seines Vorhabens.
„Sag mal, hälst du mich für eine Fliege, die du zerquetschen willst?“
Humor, offenbar ein Fremdwort für den Deutschen. Gewaltig (ein anderes Wort wurde ihm nicht gerecht) stampfte er auf sein Opfer zu. Von der Opferrolle hatte Lien genug. Kurzerhand änderte sie ihre Verteidigungs- in eine Angriffsposition.
Nun maßte sich der Kerl an, Lien ohrfeigen zu wollen. Rechtzeitig erfasste Lien seinen Bewegungsablauf, blockte die Ohrfeige mit ihrem Arm und schlug eine umgedrehte Faust, inmitten Willis Solarplexus.
Andere hätten zumindest ein Keuchen von sich gegeben. Liens zartes Fäustchen beeindruckte Willi in keiner Weise. Er griff ihren Kopf und schlug mit geballter Kraft in das hübsche Gesicht der ansehnlichen Chinesin.
Allen Männern stockte der Atem. Kein Mucks ertönte im Raum. Sogar die Besiegten verfolgten das Schauspiel.
Der Coach schlug die Hände vors Gesicht und dem verrückten Willi …
… tja, dem fiel die Kinnlade runter!
Sein Faustschlag hatte manche zähe Burschen vernichtet. Obwohl er in der Birne nicht ganz dicht war – das wusste er selbst – buchten zahlreiche Nachtclubs seine Dienste als Türsteher. Gebrochene Rippen oder Nase, gerissene Leber, ausgerenktes Kinn, geplatztes Trommelfell, diese Art Verletzungen brachte Willi den mit Geld winkenden, sich für etwas Besseres haltenden Kerlen bei, die keinen Respekt vor Hausregeln zeigten. Willis Ruf schallte durch die Szene. Kein Mann legte sich mit Willi an, es sei denn, er bettelte nach Krankenhaus! Jeder besaß Angst vor ihm.
Zu spät erkannte er: Der Gegner vor ihm war kein Mann!
Liens Kopf prallte durch die Wucht des Hiebs zurück, jedoch richtete sie ihn gleich wieder auf und lächelte den monströsen Schläger an.
„Du schlägst, wie ein Waschweib!“, provozierte sie ihn.
Die Mienen der Zuschauer, des Trainers und ihres Gegners fielen in sich zusammen. Einzig ihr Shifu schien darauf eingestellt.
Lien nutzte den Überraschungsmoment und attackierte. Ein seitlicher Kick traf Willi am Oberschenkel. Das lautstarke Fetzen holte den Hünen aus der ihn übermannenden Erstarrung. Er gedachte, zuzuschlagen. Lien machte einen Satz nach unten und trat ihm die Füße weg. Während er stolperte, richtete sie sich auf, sprang, stieß den breiten Brustkorb mit beiden Fußsohlen und bewirkte damit seinen Fall. Unsanft plumpste er auf die Matte. Dank der Willenskraft eines harten, kampferfahrenen Hundes, erhob Willi seinen massigen Körper. Allerdings zwinkerte er mehrfach. Schlagwirkung.
Lien rannte in ihre Ringecke, warf ihre zarte Gestalt gegen die Seile, nutzte den Schwung, sauste Richtung Kontrahent und platzierte einen technisch sauberen, in der Luft gedrehten Sprungkick. Die Erde bebte, als der Riese abermals landete. Dieses Mal stand er nicht wieder auf.
Ein sechzehnjähriges, maximal 50 Kilo leichtes Mädchen hatte innerhalb von einer Viertelstunde drei Männer besiegt.
Stolz hatte Long seine Schülerin verfolgt, welche dem Verlierer just die Hand reichte und ihm Hilfe anbot. Willi ergriff sie, Lien zog ihn nach oben.
Seine Finger auf die Siegerin gerichtet, donnerte der Hüne: „Keiner redet schlecht oder lacht über diese Kriegerin, solange es mich gibt!“
Nun wandte er sich an Lien. „Mädchen, solltest du jemals etwas brauchen, dann komm zu mir! Ich erweise dir jeden Gefallen!“
Lien löste den Händegriff, verbeugte sich höflich zum Zeichen des Dankes und Respekts. Erhobenen Hauptes verließ sie den Boxclub. Ehrfürchtig sahen ihr die Männer hinterher.
Der 29.07.2018 fiel auf einen Sonntag. Yu und Lien feierten ihren siebzehnten Geburtstag.
Die letzten Jahre hatte sich das schwarze Schaf der Familie vor sämtlichen gemeinsamen Festen gedrückt, was ihrem Vater recht gewesen war.
Auch in diesem Sommer dachte sie wieder an eine Feier mit Shifu Long.
Andersartig in jeglicher Hinsicht, mochte sie das landestypische Essen geringfügig. Ihren Eltern gegenüber hatte sie nie gestanden, dass sie die japanische Küche bevorzugte. Ts, als ob es Dan interessierte! Wahrscheinlich würde die Information ihrem Vater einen Grund liefern, ihr Schläge zu verordnen. Natürlich hatte sie im Geschichtsunterricht Verlauf und Bedeutung der Kriege zwischen Japan und China gelernt, wusste um das angespannte Verhältnis. Dennoch hatte Lien einmal japanische Süßigkeiten gekauft. Aus Neugierde. Übrigens hatte sie deshalb Prügel kassiert.
Seitdem schwieg sie, hatte heimlich weitere Spezialitäten probiert und war schlicht hin und weg von der japanischen Küche gewesen. Wenigstens ihr Shifu vertrat eine offenere und gütige Weltanschauung. Seiner Meinung nach, welche Lien teilte, sollten heutige sowie künftige Generationen nicht für die Sünden ihrer Vorfahren belangt werden, sondern hoffentlich aus deren Fehlern lernen und die Zukunft untereinander friedlicher gestalten.
An manchen Tagen, oftmals an Wochenenden, nutzte Lien die Gelegenheit, mit ihrem Meister zu essen. Meist gingen die Eltern samt der jüngeren Schwester aus, die ältere war nicht erwünscht. Long und sie kochten dann gemeinsam. Gerne probierte Lien Rezepte aus den Küchen der ganzen Welt aus. Die Bedingung des Mönchs lautete: Hauptsache nahrhaft.
Das Mädchen lernte, Kochen zu lieben. Gerichte zuzubereiten, entspannte sie.
An jedem Geburtstag hatteLong Wei seiner Schülerin in einem japanisch angehauchten Spezialitätenladen Soufflé Cotton Cheesecake gekauft, ihren Lieblings-Geburtstagskuchen. Abends hatten die beiden in Longs karger Küche Sushi gebastelt (anders konnte man es nicht nennen), Liens Lieblingsessen. Sein Zuhause war klein und kahl. Umso mehr freute ihn die regelmäßige Gesellschaft. Selbstverständlich wusste er von ihren familiären Verhältnissen.
Mitte 2019 würde sie volljährig werden. Long wollte ihr vorschlagen, ab dem Zeitpunkt bei ihm zu wohnen, bis sie finanziell auf eigenen Beinen stehen konnte. Seine Hausmeistertätigkeit brachte zwar ein überschaubares Einkommen, reichte aber für zwei genügsame Menschen, wie sie welche waren. Die Freude über einen baldig möglichen Auszug von ihrem Zuhause, das sie Hölle nannte, würde er ihr an ihrem kommenden Geburtstag machen. Dachte er sich.
Sonntagabend.
Seit Stunden blockierte Yu das größte Badezimmer des Hauses.
Lien war erst kürzlich daheim eingetroffen, sie hatte ab dem frühen Morgen trainiert. Ihr Meister hatte ihr eine Überraschung für den morgigen Tag versprochen, auf die sie sich freute.
Weil Yu an ihrer herausragenden Schönheit feilte, verschwand die Kämpferin im Gästebad. Ausgepowert glitt sie unter die Dusche, das heiße Wasser war Balsam für ihre geschundenen Muskeln. Während sie ihren Körper abrubbelte, legte die hauseigene Reinigungskraft ein Päckchen auf den Klodeckel.
Misstrauisch beobachtete das Mädchen sie durch die angelaufenen Glasscheiben der Duschkabine. Als die rüstige Frau verschwunden war und offenbar von dem Paket keine Gefahr drohte, stellte Lien den Wasserhahn ab.
Tropfend verweilte sie auf dem Vorleger, starrte das in Tuch gewickelte Etwas an. Immer noch kritisch, da sie dem Frieden nicht traute, stupste sie den Stoff an. Unter der ersten Lage bemerkte sie einen leicht härteren Gegenstand.
Nackt wie sie war, zog sie ein Kuvert hervor, betrachtete es von allen Seiten.
Lediglich „Lien“ stand darauf geschrieben.
Konnte es womöglich sein?
Sie befreite den Inhalt des Umschlags. Auf einer handgeschriebenen Karte las sie die Zeilen: „Für meine Lieblingsschülerin, in deren Seele das Feuer eines Phönix brennt.“
Gerührt wiederholte sie die Worte. Ihr blieb die Luft weg. Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Neugierig entfernte sie den restlichen Stoff des Päckchens.
Abermals stockte ihr der Atem. Long schenkte Lien ein wunderschönes Qipao. Muster der legendären Feuervögel zierten das rote, aus feinster Seide hergestellte Kleid. Lien schlüpfte hinein.
Der hochgeschlossene Kragen betonte ihren zarten Hals, der eng anliegende Stoff ihren überdurchschnittlich muskulösen Körper. Mit Schlitzen an den Seiten reichte der Saum bis zu ihren Knöcheln. Ihre langen, glatten, braunen Haare frisierte die Chinesin zu einem Dutt.
Trotz fehlender Schminke überstrahlte Lien an diesem Abend ihre herausgeputzte Schwester um Längen. Yu trug ein westlich orientiertes, rosafarbenes Cocktailkleid. Sämtlichen Familienmitgliedern entglitten die Gesichtszüge beim Anblick des Familienparasiten.
„Bestens!“, räusperte sich Dan, „dann können wir essen gehen!“
Warum auch immer, musste Lien heute unbedingt mitkommen.
Unweit des Heims bot ein Familienlokal original chinesische Küche. Das Familienoberhaupt des Ming Clans reservierte für die ganze Mannschaft, bestehend aus beiden Töchtern, seiner Ehefrau, der Oma plus einem hinzugekommenen Gast Plätze.
„Lien“, verwies ihr Vater sie an den Neuzugang, „das ist Tian Wang. Seine Familie sind Freunde und Geschäftspartner. Tian, ich darf dir meine Älteste vorstellen.“
Was zur Hölle sollte das?
Lien hatte eine leise Vermutung, hoffte aber diese nicht bestätigt zu bekommen.
Beide Mädchen verbeugten sich höflich, bevor auch der Rest der Sippe Bekanntschaft mit Tian machte. Im Nachgang saß der junge Mann an ihrem Tisch. Die Servicekräfte servierten gängiges Essen. Neben Reis wurden Suppe, verschiedenes Gemüse, Schweinefleisch, Hühnerfüße und – der Höhepunkt für alle Beteiligten (außer Lien) – tausendjährige Eier aufgetischt.
Die Herren tranken Bier. Starker Schnaps diente dem Anstoßen. Ansonsten spülten die Damen ihre Mahlzeiten mit Tee hinunter. Angeregt plauderten ihr Vater und sein Alter Ego namens Tian über Gott und die Welt. Stumm lauschten die Frauen den Gesprächen der Herren.
„Du lieber Himmel!“, dachte Lien im Geist, „einen zweiten Dan Ming braucht die Menschheit wirklich nicht!“
Die Tischgenossen dehnten das Festmahl gefühlte Ewigkeiten aus. Dazwischen durfte Yu allerlei Geschenkpakete öffnen. Diese enthielten, gesponsert von Eltern, Großeltern, Freunden, Bekanntschaften und sogar den Nachbarn, Gutscheine für Boutiquen, Bargeld, Schmuck und verschiedene Accessoires. Lien ging leer aus.
Das störte sie nicht, sie kannte das Spielchen.
Gedanklich schrie die junge Frau im roten Phönixkleid „Halleluja“, als Dan nach der Rechnung verlangte. Hoffentlich endete der Abend zeitnah. Yu würde die Geschenke in ihr vollgestopftes Zimmer tragen können und Lien ihren nötigen Schlaf erhalten.
Ihr Erzeuger verfolgte andere Pläne.
„Lien, Tian möchte spazieren gehen. Fördert die Verdauung.“
Bei einem Dutzend verschimmelter Eier half auch kein Verdauungsspaziergang, vermutete sie, konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen.
Wie besagte ein Sprichwort? Der Kluge konnte sich dumm stellen, umgekehrt war es schwieriger. Die schlaue Lien gab vor, ihres Vaters Anspielung nicht zu verstehen.
„Wirklich interessant“, frotzelte sie, ein sarkastischer Unterton lag in ihrer Stimme, „na dann wünsche ich deinem Verdauungsprozess erfolgreiches Gelingen!“
Die anwesenden Damen erröteten. Dan verzog das Gesicht. Anstelle einer Schimpftirade aufgrund Liens Frechheit lächelte er bitterböse. Sofort sackte ihr Herz in die Hose. Oder mehr ins Unterhöschen. Grundsätzlich lächelte ihr Vater nie! Vor allem nicht in ihrer Gegenwart.
„Du begleitest ihn!“
Eindeutig ein Befehl. Kurz schwieg sie, ehe die Sachlage verdaut war. Daraufhin prustete sie los. Plante ihr alter Herr etwa einen Kupplungsversuch?
Ging es ihm noch gut? Der Typ – Tian – besaß die Statur einer Stange Lauch! Der Umfang von Liens Bizeps maß das Doppelte wie seine Oberschenkel!
„Äh, ne. Lass mal stecken“, lehnte sie die Aufforderung ab.
Entsetztes Keuchen. Die Tischgenossen glotzten sie entsetzt an. Gott sei Dank trug sie schon den Titel des schwarzen Schafs. Viel tiefer konnte ihr Ansehen innerhalb der Familie nicht sinken.
Hinterlistig entgegnete Dan: „Wie du willst. Dann sollte dir klar sein, dass ab morgen Kung-Fu Geschichte sein wird!“
Schachmatt!
Aber woher wusste er …?
Verhalten musterte Lien den autoritären Mann, schätzte ihre Optionen ab.
Weil keine Reaktion, ferner eine Rechtfertigung ihrerseits erfolgte, fügte Dan hinzu: „Meine Freunde verweilen überall in dieser großen Stadt. Wenn ein Mädchen denkt, erwachsene Männer einer Kampfsportschule aufmischen zu müssen, bekomme ich so etwas mit.“
Großartig! Kerle waren schlimmer als Waschweiber! Mussten die unbedingt Liens Erfolg herumtratschen?
„Also, wähle“, gebot ihr Vater, „gehe mit Tian und ich sehe über deinen Fauxpas hinweg, oder ich sperre dich bis zu deiner Volljährigkeit ein!“
Gleichwohl sie keine physische Reaktion auf ihr Dilemma präsentierte, da sie dem Arschloch von Erzeuger seinen Triumph nicht gönnte, schluckte Lien einen dicken Kloß. Unglücklicherweise hatte er die Schlacht gewonnen.
In die Ecke gedrängt, nickte sie, bedeutete dem Lauch mit einer Geste, er möge ihr nach draußen folgen.
Der Spaziergang setzte dem Albtraum der vorhergehenden Mahlzeit die Krone auf. Tians Redeanteil betrug 100 Prozent, Lien sprach keinen Ton.
Ihr Interesse, ihn kennenzulernen, war so groß wie ihr Drang, Ballett zu lernen.
Abgesehen von seiner Statur, den völlig gegensätzlichen Leidenschaften, Lebensstilen und Weltanschauungen, entsprach das Großmaul mit seiner arroganten Art wahrhaftig Dans Alter Ego.
Eine Weile spazierten die Jugendlichen die Jincheng Avenue entlang. Nebenliegend erstreckte sich der gleichnamige Park. Schleichend bemerkte Lien ein Schwindelgefühl.
Wenig später erreichte das ungleiche Paar einen See. Inzwischen war der Schwindel erstarkt, sodass sie für einen Moment ausruhen musste.
Lien musste sich nie ausruhen! Nicht vom „Gehen“!
Vor ihren Augen glitzerte der Jincheng Lake im Mondschein. Mühevoll setzte sie den Weg fort, schließlich hoffte sie, heute noch ins Bett zu kommen.
Dass sie schwankte, beunruhigte Lien. Etwas stimmte ganz und gar nicht!
Mühsam stolperten ihre zitternden Beine vorwärts. Erneut hielten sie, jetzt an einer Erhöhung. Schräg unterhalb floss Wasser. Ein hübsch gestaltetes Geländer trennte Straßenbereich und Ufer. Keuchend klammerte Lien ihre Arme um die metallenen Stangen. Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie fühlte sich fiebrig.
„Oh, ist dir nicht wohl?“, interessierte Tian.
Blitzmerker!
„Vielleicht war das Essen schlecht“, antwortete sie knapp.
„Oder ein Bestandteil darin“, bemerkte der Junge.
Durch einen nebligen Film schaute sie in das androgyne, fast mädchenhafte Gesicht des dürren Kerls. Er streckte seinen Arm aus und fuhr Lien mit der Hand über das blasse Gesicht.
„Dein Vater erzählte mir, du seist wild und starrköpfig. Ein Mädchen, welches meint sich prügeln zu müssen, turnt mich ab. Unsere Familien beabsichtigen aber, ihre Geschäftsbeziehungen langfristig auszubauen. Daher erklärte ich mich bereit, dich mir anzuschauen. Ich gestehe, optisch gefällst du mir. Dein Aussehen und deine Figur sprechen mich an, dein Charakter im Gegenzug nicht. Überhaupt nicht. Trotzdem, ich nehme die Herausforderung an. Ich werde dich schon zähmen!“ - „Bist du bescheuert?“, fuhr Lien den Mistkerl an.
Sie wollte sich vom Geländer fortbewegen, doch heftige Schmerzen fuhren ihr in den Bauchbereich. Galle stieg ihr den Hals empor. Tian streichelte seiner ausgewählten Braut den Rücken.
„Hör zu, mein Herzblatt! Dein Vater versprach dich mir. Ich bekomme ein Frauchen, mit dem ich prahlen kann, das sich mir fügt, mich bedient, und er wird dich los. Weißt du, was das heißt? Da du mir gehören wirst, Weib, zeig gefälligst Respekt!“
Langsam ging der perfide Scheißdreck Lien auf die Eierstöcke!
Ersatzweise reifte ein Gedanke in ihr.
„Was kipptest du mir in meinen Tee?“, keuchte sie.
Ihren Verdacht sah sie bestätigt, als sich Tian vor Lachen überschlug.
„Calmivet!“, offenbarte er, „der Tierarzt verabreichte unserem Hund dieses Zeug bei seiner letzten Operation. Ich habe welches mitgehen lassen.“
Nachdem ihre Hirnzellen die Information verbreitet hatten, säuselte sie, mittlerweile schweißnass gebadet: „Du gabst mir ernsthaft ein beschissenes Beruhigungsmittel für Tiere?“ - „Aber natürlich!“, spie er vergnügt, „der Vorteil bei diesem Sedativum ist unverkennbar! Es haut einen Elefanten um! Bald kannst du dich nicht mehr rühren, bleibst allerdings bei Bewusstsein. Sieh zu und spüre, wie ich deinen Willen breche! Sei dir sicher, danach gehörst du mir!“
Neun Frauen passten nicht in ein Auto, egal, wie komfortabel der Wagen war. Aufs neue musste die Kreditkarte herhalten.
Außer Jessica besaß Hanna einen Führerschein. Zugegeben, einen gefälschten, dennoch besser als gar keinen.
Dem Quengeln der Mädchen nachgebend, durften sie das zusätzliche Fahrzeug aussuchen, die Hexe hatte lediglich Vorentscheidungen getroffen.
Die finale Wahl fiel zugunsten eines Dodge RAM 1500, dessen weiße Perlmuttlackierung im Gegensatz zu Jessis schwarzen GMC stand.
Zweieinhalb Wochen waren vergangen, seit Lara und Maris die Gruppe bereichert hatten. Ungeduldig wartete Nica auf die Reaktion ihres Steins.
Der Rubin wirkte wie tot.
Am Sonntagabend streamten die Kriegerinnen die vergangenen Folgen von „America’s next Topmodel“. Voller Vorfreude bezogen sie Stellung auf Bett und Boden des gemeinsamen Zimmers von Maelle und Hanna. Die Latina hatte auf Jessicas Einverständnis hin allerlei technischen Krimskrams gekauft und das Hotelzimmer in einen Hightech-Raum umfunktioniert, aktuell in ein Heimkino.
„Verdammt! Wo habe ich denn nur mein Handy gelassen?“, fluchte Lara plötzlich.
Jessi bestand auf die Ausstattung aller Mädchen mit Mobiltelefonen, auch die technisch unerfahrenen, damit sie einander erreichten.
Nica schlürfte eine Coke Light.
„Ich glaube, als wir vom Studio aufgebrochen waren, packtest du den Apparat in meine Sporttasche, da sie Seitentaschen besitzt, deine hingegen nicht.“ - „Ach ja, stimmt!“, fiel der Britin ein, „deine Tasche steht in eurem Zimmer, richtig?“
Nica nickte, Shanti streckte Lara kommentarlos eine Chipkarte entgegen.
Die Britin wartete die Werbepause der Show ab, schlüpfte angrenzend aus dem Raum, ausschließlich mit einem übergroßen Hemd bekleidet, rannte barfuß den Flur entlang und öffnete die Tür des Schlafgemachs der Elfen.
Die Trainingstasche stand unaufgeräumt auf dem Teppich, Klamotten lagen überall verstreut. Wirklich, von Aufräumen hielten die Zwillinge wohl nichts!
Lara schnappte ihr Smartphone, welches an besagtem Platz steckte. Aus den Augenwinkeln bemerkte Lara ein rotes Flackern.
„Hä?“, seufzte sie, „Nica lässt einfach ihren Elementstein liegen? Unfassbar!“
Und er leuchtete. Gerade eben.
„Das heißt doch, der letzte Krieger erwacht!“
Kaum fasste Lara den Gedanken, schoss der Magiestein an ihr vorbei und brannte ein fettes Loch in die Holztür.
Lien schlug ihre Faust in Tians zartes Gesicht. Knochen knackten, Blut triefte aus seiner Nase.
„Du Sau!“, schrie er schmerzerfüllt.
„Wag es nie wieder, mich auf diese Weise zu brüskieren“, fauchte sie.
Selbst unter Narkosemitteln nahm sie es mit dieser Lauchstange auf!
Wütend aufgrund seines gebrochenen Zinkens krisch der Junge: „Verdammt, du bist eine Frau! Du hast dich unterzuordnen!“
Das Wort „Frau“ hatte er verächtlich ausgespuckt.
„Nicht in diesem Leben!“, machte Lien unmissverständlich klar.
Leider dauerte ihr Selbstbewusstsein nicht lange fort. Tian musste ihr eine ganze Wagenladung Arznei verabreicht haben, Liens ohnehin taube Füße knickten ein. Gerade so schaffte sie es, sich am Geländer festzuhalten. Das Lauch grinste böse, packte Lien an ihrem Dutt und riss sie gewaltsam hoch.
Sie wollte sich wehren, ihre Muskeln gehorchten ihr jedoch nicht.
Grob beugte er ihren schlaffen Körper über die provisorische Mauer, abgerundete Gitterstäbe bohrten sich in Liens Fleisch.
Wegen des Sedativums spürte sie keinen direkten Schmerz. Wahrscheinlich würde der sie im Nachgang ereilen. Erfolglos versuchte sie, ihren Kopf aufzurichten. Derweil bemerkte sie, dass Tian ihr Qipao aufwärts schob.
Der Mistkerl würde doch nicht …?
Liens schlimmste Befürchtungen erfüllend, legte er ihren Po frei. Damit nicht genug, zog ihr der Widerling das Höschen aus.
Schändlich flüsterte er ihr ins Ohr: „Schade eigentlich. Ich werde es mehr genießen als du!“
Ganz gleich, wie schwarz die Situation erschien, zu einem anderen Zeitpunkt würde das Mittel nicht länger wirken. Dann gnade ihm Gott!
Shifu Long hätte die Ansicht vertreten, Vergeltung störte Harmonie und Gleichgewicht. Er würde verzeihen.
In Anbetracht des mageren Jungen, welcher ausschließlich mit einer Frau klarkam, indem er sie narkotisierte, schiss Lien buchstäblich auf Vergebung!
Jahrelang hatte sie hart trainiert, ihr Meister keinen Unterschied aufgrund ihres Geschlechts gemacht. Genauer gesagt forderte er unerbittlich und Lien empfand Dankbarkeit für diese Gleichberechtigung.
Mehr noch. Sie würde trainieren, bis kein Mann sich allein seines Geschlechts wegen mit ihr messen konnte!
Tians Finger glitten zwischen ihre Pobacken.
Eines Tages würde Lien an einem Kampfsportturnier teilnehmen und dort jedem Herausforderer ihre Unbesiegbarkeit beweisen. Und dass hartes Training Testosteron besiegte!
Diesen Wunsch hielt Lien fest.
Nachdem die Finger ihre Vorarbeit geleistet hatten, hörte Lien einen Reißverschluss aufschnappen. Ob jungfräulich oder nicht, sie wusste, was folgen würde.
Zorn und Rachlust förderten schlechtes Karma, ja? Nebensächlich!
Auf keinen Fall würde Lien die Wut ihres Geistes unterdrücken. Innerlich züngelte eine Flamme, entfacht durch Liens starken Willen. Sie hatte keinen Bock, vergewaltigt vor einem Seeufer zu enden!
Alle Willenskraft gebündelt, befahl sie ihren Armen und Beinen die unmittelbare Regung.
Keine Reaktion erfolgte. Verdammt!
Statt Verzweiflung reifte die Flamme der Wut zu einem Brand.
Tian spaltete ihre Arschbacken und drang ein.
Außer sich riss Lien die Augen auf und brüllte aus Leibeskräften: „NEIN!“
Ein roter Punkt brach durch die Wolkendecke des Himmels, flog Richtung See, stoppte über der Wasseroberfläche, vollzog eine Kehrtwende und sauste auf Lien zu. Das Mädchen sah den Glühwurm anstürmen, welcher nicht abbremste und mitten in sie hineinjagte.
Lara hetzte in das Kinozimmer.
„Jessi, Nica“, hechelte sie atemlos.
„Psst!“, mahnte die Schattenelfe, die unbedingt das Ergebnis des Shootings sehen wollte.
Augenrollend erklärte Lara die Sachlage: „Der Rubin ist fort!“ - „Wie bitte?“, riefen die Mädchen durcheinander. Jessi purzelte beinahe vom Bett.
„Nica!“, befahl sie ohne weitere Weisung.
„Och Menno!“, zickte die Kriegerin, „ich will sehen, wer ein Foto bekommt!“ - „Erzähle ich dir später“, versprach Shanti, „Ciao!“
Lustlos stand Nica vom Boden auf. Plötzlich erstarrte jede Seele im Raum.
Sprachlos erhoben sich die Mädchen, blickten sich im Raum um. Horchend spitzen sie die Ohren.
„Sagt mal“, warf Maelle ein und unterbrach das betretene Schweigen, „spürt ihr diese gewaltige Energie ebenfalls?“ - „Allerdings!“, erwiderte Jessica.
Sämtliche Personen registrierten eine spontane Auraexplosion.
„Das kann niemals der Neue sein, oder?“, fragte Yelina.
Alle Augenpaare blickten Sonja an, welche ihren Spiegel beschwor.
„Ich sehe einen Brand. An einem Flussufer. Wartet, da ist ein Schild! Äh, Jincheng Lake.“
Sofort wies Jessi Hanna an: „Schnapp dir Google und google den Ort!“
Die Latina zückte ihr mobiles Internet.
„Ach, Jessi?“, druckste sie herum und hob die Augenbrauen, „der Jincheng Lake befindet sich in China!“ - „China?“, wiederholte die Hexe, „du liebes Lieschen!“
Nica, Ausländerin eines fremden Planeten, murrte: „Ist das weit?“
Die Erdenbewohnerinnen lachten kläglich. Maris klopfte ihr auf die Schulter.
„Sagen wir so, weiter als du dir vorstellen kannst!“ - „Im Prinzip am anderen Ende der Welt“, erläuterte Hanna trocken.
Die Schattenelfe schluckte schockiert. Nicht aber wegen der Entfernung.
„Jessi, wenn das wahr ist“, wisperte sie, „und wir die Energie dieses Wesens hier spüren, dann …“
Chuck hüpfte von der Decke, platzierte seinen stolzen Echsenkörper mitten unter die Anwesenden und beendete Nicas Satz: „… Dann sind die Elementkrieger weit mächtiger, als ihr bisher annahmt?“
Betretene Stille. Reihum begutachteten die Mädchen ihre Haus-Bartagame.
Kopfschüttelnd (kopfschüttelnd!) motzte the No Duck: „Sagt mal, habt ihr meine letzten Vorträge ignoriert?“
Jessi blickte zum Fenster. Draussen bahnte sich ein Unwetter an.
Sie hörten Chucks Worte. Wer konnte aber ahnen, welche unvergleichliche Stärke in nur einem der Elemente stecken würde?
Als der Mini-Meteorit Lien traf, schleuderte die Wucht der Kollision Tian rückwärts. Unsanft landete er auf dem Asphalt, der Aufprall presste die Luft aus seinen Lungen. Gekrümmt lag er da, die Hose heruntergelassen. Er keuchte. Sobald er aufschaute, stockte ihm der Atem.
Lien brannte!
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Auf ihrer Haut loderte Feuer, verbreitet über ihren ganzen Körper. Das Element floss durch ihre Adern und vertrieb jedweden Rest des Beruhigungsmittels.
Lien torkelte auf Tian zu.
Sukzessiv wich er vor der lodernden Bedrohung zurück.
„Willst du mich auf einmal nicht mehr?“, zischte das Feuerkind. Unter seinen Flammen erschien ein breites Grinsen.
Wortlos starrte Tian die Chinesin an.
Ihr tiefster Instinkt riet Lien, kurzen Prozess mit dem Widerling zu machen.
Ihm gab sie allzu gerne nach.
Sie klammerte seinen Kopf zwischen ihre Hände, die Handflächen glühten heiß. Jene Hitze übertrug sie auf Tian. Die Pupillen geweitet, stöhnte er erschrocken. Er brach in Schweiß aus.
Lien roch seine Angst, hörte das brachiale Poltern seines Herzens.
„Verbrenne!“, hauchte sie.
Just in diesem Augenblick bemerkte sie eine Regung. Die Gefahr voraussehend, ließ sie den Kopf des Jungen los und sprang außer Reichweite, gerade als eine Gestalt auf die Stelle stürzte, welche Lien zuvor eingenommen hatte.
„Obwohl ich das Spektakel gerne gesehen hätte, mach dich nicht unglücklich! Falls du den Unschuldigen tötest, verschreibst du dich dem Bösen!“, erklärte die schwarzhaarige Frau mit den lila Strähnen.
Jessica, Lara und Nica erreichten den Jincheng Lake, gerade als ein leibhaftiger Feuerteufel einen schlaksigen Mann verbrennen wollte.
„Shit!“, rief Nica, preschte unmittelbar los, zog ihre Colichemarde Dolche und platzte in den Akt.
Die Reaktion des Wesens beeindruckte die erfahrene Kriegerin. In der Elfe sah das Geschöpf offensichtlich einen Feind, auf Nicas Angriff folgte sogleich Gegenwehr. Prinzipiell hatte sie Feuerbälle oder dergleichen erwartet.
Falsch gedacht!
Der Draufgänger wirbelte herum. Augenblicklich riss Nica die Dolche zum Schutz vor ihr Gesicht, als ihr Kampfpartner gleichzeitig einen kräftigen Fußkick landete, der die Priesterin zum Stolpern brachte. Überrascht atmete Nica aus. Da sie selbst außerordentlich kampferprobt war, existierten nur wenige, die ein Zurückweichen ihrerseits erzwingen konnten. Zügig raffte sie sich auf, nutzte ihre Waffen. Geschmeidig wich ihr Gegner den gefährlichen Schneiden aus.
„Seine Reflexe sind unglaublich!“, staunte die Elfe über das Geschick des Heißsporns.
Der auf dem Erdboden kauernde, bewegungsunfähige Mann verfolgte das gebotene Handgemenge atemlos. Nicas Kontrahent attackierte, eine Serie Faustschläge hagelte auf die Kriegerin hernieder. Unter Zuhilfenahme ihrer Dolche blockte sie die Handschläge, ihren Opponent störten die durchschneidenden Klingen offenbar wenig. Unentwegt fegte er vorwärts, drängte Nica gleichermaßen zurück. Die Priesterin verletzte sich ihre Hände, Arme, sogar Beine. Alle Körperteile gewissermaßen, welche die Gegenpartei mit atemberaubender Technik zur Verteidigung und zum Angriff nutzte.
„Shit!“, stieß Nica frustriert aus, „meine Treffer jucken das Feuermännchen überhaupt nicht!“
Zum Beweis ging es in die Knie und setzte zum Hieb an. Rechtzeitig warf sich Nica zu Boden, machte eine Rolle vorwärts, nutze den Drall, um schwungvoll aufzustehen und ihm gleichzeitig einen Dolchstoß zu versetzen.
Unbekümmert kassierte ihr Gegenspieler den Volltreffer, Nicas Colichemarde steckte sichtlich in dessen Brustkorb. Das Elementwesen packte die Klinge an der Schneide, zog sie heraus, warf die Waffe dann fort. Flink durchbrach es Nicas Deckung, hob das vermutliche Knie, drehte sein Bein und verpasste der Schattenelfe einen Vorwärtstritt. Allmählich zehrte die fortschreitende Intensität des Gefechts an Nicas Kondition.
Währenddessen fragte die leicht bekleidete Lara: „Hexe, klär mich auf! Warum genau bin ich dabei?“
Jessi zuckte die Achseln. „Nun, das Teil auf Ecstasy da vorn entstammt dem Element Feuer, korrekt? Einen Brand löscht gewöhnlich die Feuerwehr mit Wasser. Du bist Wasser, richtig?“ - „Du denkst, ich kann dieses Ding ersticken?“ Bei dem Wort ich zeigte Lara auf sich selbst.
Ihre Geste war eindeutig, bedeutete so viel wie: Ausgerechnet ICH soll das Teil erledigen?
„Wirf du es doch in den See!“, schlug die Britin spaßhaft vor.
Den Gedanken empfand die Hexe allerdings als gar nicht abwegig. An diesem Abend strahlte der Mond besonders hell. Na ja, zumindest in China! Jessi tankte seine energetischen Wellen.
„Circoli delle Strege!“
Geduld entsprach nicht wirklich Jessis Stärke. Demnach wartete sie nicht, bis Flammenwesen seine Entscheidung für „Gut oder Böse“ fällte, ferner einer der beiden Kämpfenden als Sieger der Auseinandersetzung hervorging. Mandalas bedeckten den Grund, bannten die anwesenden Personen. Der Junge glotzte verwirrt.
Jessica zauberte: „Vola!“
Rücklings flog das brennende Geschöpf ins kühle Wasser.
„Hey! Ich hatte alles unter Kontrolle!“, blökte Nica empört.
Jessi und Lara trabten ihr entgegen. Erstere rümpfte die Nase.
„Selbstverständlich!“, äußerte die Hexe sarkastisch.
Daraufhin wurde sie ernst. „Wir müssen bedenken, das Wesen soll unsere Seite wählen. Dagegen kämpfen, erzielt möglicherweise kontraproduktive Auswirkungen!“ - „Jessi, Gefühle sind doch Auslöser unseres Erwachens?“, hakte Lara ein, welche den auf dem Boden liegenden Kerl unten ohne bemerkt hatte. Jessica und Nica schauten sie erwartungsvoll an. Lara kniete neben den Jungen.
„Okay, du Nudist, was stelltest du mit ihr an?“ - „Ihr?“, fragte Nica erstaunt, „du glaubst, das war eine Sie?“
Durch ein Nicken bejahte Lara die Frage, wandte sich anschließend erneut an die Bohnenstange. „Kapierst du überhaupt, was ich von mir gebe? Englisch?“ - „Er versteht dich!“, antworte Jessi an seiner Stelle, „Yelina erklärte, wir sprechen durch unsere Magie. Dementsprechend versteht uns jedes Lebewesen.“
Zittrig zeigte der Typ auf den See.
„Lien, sie …! Sie verwandelte …! Urplötzlich!“ - „Und was passierte vorher?“
Lara deutete auf sein freiliegendes Gemächt. Er errötete, spuckte keinen Ton aus. Genervt von diesem Hanswurst packte Nica eine Klinge und hielt sie bedrohlich an seine Kehle.
„Schon gut! Bitte schlitz mich nicht auf!“, weinte die Memme bitterlich, „sie ist stur, kämpferisch, stark und entspricht überhaupt nicht dem Bild einer anständigen Chinesin! Ich wollte sie bändigen!“ - „Indem du sie zum Verkehr zwingst?“, unterbrach ihn Lara.
Aus dem See donnerte eine Wasserfontäne. Erschrocken fuhren die Köpfe der einzelnen Parteien zum Geysir. Das Feuer brannte lichterloh. Elegant landete dessen Besitzerin vor den Mädchen. Nica und Jessica legten angriffsbereit die Hände an ihre jeweiligen Magiesteine.
Lara hielt beide zurück: „Jessi, du prophezeitest, Prügel erreichen nichts.“
Furchtlos bewegte sich die Britin auf das in Flammen gehüllte Mädchen zu.
Ihre Freundinnen erstarrten, genauso der Spargeltarzan.
Mit ruhiger Stimme richtete Lara das Wort an das aufgebrachte Element.
„Glaube mir, ich weiß, was du empfindest! Einige Tage zuvor erging es mir ähnlich. Ein Kerl bedrängte mich, wollte mehr, als ich ihm zugestand. Danach warf er mich weg. Deine Wut erlebte ich zu Teilen selbst. Sei dir gewiss, dein Peiniger bekommt seine gerechte Strafe! Willst du dir ehrlich deine unschuldigen Hände an der Flachpfeife schmutzig machen?“
Aufmerksam hörte ihr das Feuer zu.
Wohl drang Lara zum Kern des Mädchens vor. „Stattdessen“, empfahl sie, „nutze deine gewaltigen Kräfte und bekämpfe gemeinsam mit uns Gleichgesinnten das Böse dieser Welt! Damit weniger Unschuldige künftig leiden müssen!“
Zwei Wichtel hockten auf Liens Schultern. Auf der rechten Seite saß ein Teufelchen, links das Engelchen. Beide raunten ihr gut gemeinte Ratschläge zu. Lien interessierten die Angebote zweitrangig, diese Brünette empfahl jedoch sinnvolle Tipps. Auf Anhieb mochte sie die Fremde. Die hatte Eier!
Teufelchen schlug jetzt vor, alle Umstehenden einzuäschern.
Engelchen wiederholte ständig einen Satz, Lien kapierte ihn aber nicht.
Was würde ihr Shifu tun?
Als Mönch täte er vergeben und vergessen.
Hm. Lien suchte lieber einen Mittelweg.
Das nervende Teufelchen schnippte sie kurzerhand fort. Es quäkte nur Unsinn!
Das arme Kerlchen schrie Todesqualen.
In dem Moment, als seine Stimme verblasst war, verstand sie das Credo des Engelchens deutlicher.
Lien erwies der hübschen jungen Frau ihr gegenüber Respekt, dadurch, dass sie sich verbeugte.
Anschließend bildete ihre Kehle die Worte: „La Potenza dell Fuoco, ascoltami! Gewalt des Feuers, wohne mir bei!“
Der Brandherd wütete, stob davon und hinterließ einen Körper aus glühendem, dunkelrotem Magma. Liens Augen funkelten rubinrot, züngelnde Flammen ersetzten ihre langen Haare. Eine silberne Armkette funkelte an ihrem linken Handgelenk. Der Rubin gestaltete einen Anhänger in Form einer Lotusblüte. Element Feuer bestimmte seine Elementkriegerin und Lien entschied zugunsten der guten Seite.
„Alter Verwalter!“, keuchte die Blondine hinter der Brünetten.
Die Schwarzhaarige tänzelte freudig erregt und sang: „Das ist meine Elementkriegerin! Das ist meine Elementkriegerin! Das ist meine Elementkriegerin! Ist sie nicht dermaßen ultra cool!“
Ein sanftes Lächeln zierte das schöne Gesicht der Brünetten.
Lien erblickte Tian, welcher kurz vor der Ohnmacht stand.
Konzentriert löste die neugeborene Kriegerin den Bann und nahm ihre menschliche Gestalt an, woraufhin sie irritierte Blicke erntete.
„Warum genau trägt sie Kleidung? Unsere verschwindet immer!“, warf Lilasträhnchen in die kuriose Runde. Die beiden anderen konnten die Frage offenbar nicht beantworten.
„Ich habe mir gewünscht, mein Kleid möge erhalten bleiben. Es war das Geschenk eines teuren Freundes!“, erklärte Lien simpel.
„Ah!“, ertönte aus den verschiedenen Mündern.
Wohl sagte ihnen die Chinesin etwas, das sie noch nicht in Betracht gezogen hatten. Für sie hatte der Tag sich bereits geloht.
Mittels eines, wie sie ihn nannte, „Erstarrungszaubers“ fror die Hexe Tian ein.
Nacheinander stellten sich die Charaktere vor. Schlussendlich faselte die Blondine groteskes Zeug von einer Mission, dem Kampf Gut gegen Böse, Auserwählte, Gedächtnislöschung des Zeugen und Blubber Blubb.
„Wäre es zu viel verlangt, seine Erinnerung zu erhalten?“, bat Lien.
Die Hexe namens Jessica legte den Kopf schief.
„Der magische Rat wünscht, dass Normalsterbliche keine Kenntnis von übernatürlichen Wesen erlangen“, erklärte sie.
Die Brünette, Lara, unterstützte Lien. „Was kann er denn tun? Leuten erzählen, Aliens weilen unter uns Menschen? Du musst zugeben, Jessi, kein Mensch glaubt ihm seine Geschichte!“
Auch die Schwarzhaarige, angeblich eine Priesterin, redete der Hexe gut zu.
Seufzend gab sie nach.
„Lasst ihr uns kurz allein?“, bat Lien.
Jessica, Nica und Lara beobachteten das Geschehen aus einigen Metern Entfernung. Die Hexe brach den Zauber, die Erstarrung verging. Tian erblickte Lien in Normalzustand. Hastig richtete er sich auf und zog endlich die Hosen an.
„Ich habe geträumt, richtig?“, röchelte er heißer.
Lien grinste. Die Löschung des Erinnerungsvermögens schien nicht notwendig zu sein.
„Ja, du fantasiertest. Du trankst Unmengen an Bier und Schnaps. Du sinniertest sogar so lange, bis meine Betäubung nachgelassen hat!“
Sämtliche Farbe wich aus Tians Gesicht, als er kapierte.
„Lien, ich beabsichtigte, dass wir uns besser kennenlernen. Wie du sagtest, ich war betrunken und nicht Herr meiner selbst!“ - „Bullshit!“, erwiderte sie, „du warst genau du selbst! Richte meinem Vater doch bitte Folgendes aus.“
Lien ging über in eine seitliche Kampfstellung, stieß mit beiden Fäusten in Tians Magengrube und Brustkorb. Er würgte, taumelte rückwärts.
„Fick dich!“
Gewandt drehte Lien ihren Körper, nutze den Schwung und traf den Knaben mit einem hohen Kick am Kinn. Knock Out.
Long Wei schlüpfte eben in seinen Pyjama, da klopfte jemand an seiner Tür.
Müde blieb er davor stehen und rief nach draußen: „Wer ist da?“ - „Shifu, ich bin’s!“, erfolgte die prompte Antwort.
Um diese Zeit?
Er öffnete seiner Schülerin.
Lien wagte nur einen kleinen Schritt hinein und überreichte ihm ihr Qipao.
„Meister, jemand übertrug mir eine essenzielle Aufgabe“, begann sie, „mit näheren Informationen kann ich aktuell nicht dienen.“
Sie lächelte. Dann bat sie ihn im Flüsterton: „Bitte, Shifu, pass auf mein Geschenk auf. Wenn ich meine Daseinsberechtigung erfüllt habe, hole ich es hier ab!“
Selbst ohne nähere Erläuterungen verstand er. Sein Mädchen war schon immer etwas Besonderes gewesen, dies hatte er gleich am ersten Tag erkannt. Schüchtern, wie er sie nicht kannte, tapste sie auf ihren Füßen herum.
„Shifu“, wisperte sie ganz leise, „wenn ich zurückkomme, kann ich wieder mit dir trainieren?“
Ohne, dass sie damit rechnete, umarmte er sie fest und herzlich.
„Geh! Mach mich stolz!“, übermittelte er sein Einverständnis.
Mit Tränen in den Augen fragte sie erneut: „Darf ich hinterher weiterhin deine Schülerin sein?“
Zärtlich streichelte Long Liens nasse Wange.
„Jederzeit! Keine andere, nur du!“