Maris – Priesterin des Meeres

„Das Rauschen des Meeres und das Prasseln des Regens sind Melodien für die Seele.“
Esragül Schönast

Marseille, Frankreich – Erde

Das Meer erzählte Geschichten und Maris lauschte ihnen. Sie liebte es, seit sie zum ersten Mal am Strand gespielt hatte. Viele Jahre war es her gewesen.
Wenn sie im Wasser schwamm, fühlte sie sich lebendig. Ruhig. Ausgeglichen.
Alltag und Sorgen blendete sie aus, die lärmende Außenwert belastete sie nicht länger. Die Welt war in Ordnung. An keinem anderen Ort verweilte sie lieber.
Jeden Sommer hatten ihre Eltern mit Maris und ihrer kleinen Schwester Urlaub am Meer gemacht. Länder, Hotels, Umgebung, alles hatte an Bedeutung verloren, nur die Zeit gezählt, welche sie zwischen Sand und Wellen verbringen hatte dürfen. Glucksend waren die Schwestern ins Nass gesprungen, waren planschen, tauchen, hatten gespielt, Sandburgen gebaut und geträumt.
Früh hatte Maris surfen gelernt, war richtig gut in dem Sport geworden. Dann hatten ihre Eltern die Scheidung eingereicht. Die Mama war mit ihrer kleinen Schwester nach Marseille gezogen, der Papa mit Maris in Cuxhaven in Deutschland geblieben. Die Geschwister hatten einander selten gesehen, aber immerhin. Vor zwei Jahren war die Verbindung vollständig abgebrochen.
Maris, damals 16 Jahre alt, hatte keine Wahl gehabt, als dies hinzunehmen.
Inzwischen volljährig, beschloss sie, neuen Kontakt aufzubauen. Sie vermisste ihre kleine Schwester.
Viele Monate lang hatte Maris ihr Taschengeld angespart. Während ihrer Schulferien hatte sie diverse Aushilfsjobs in Restaurants und Bars angenommen. Ende Juni hatte das Mädchen erfolgreich das Gymnasium, mit ihrem Abitur in der Tasche, beendet. Künftig, so entschied sie, wollte sie Meeresbiologie studieren. Bisher schickte sie noch keine Bewerbung an, den Studiengang anbietende Universitäten. Ihre Priorität lag darin, Schwester und Mutter zu besuchen. Weil sie nicht abschätzen konnte, wie ihr Vater auf die Hiobsbotschaft reagieren würde, hatte sie ihm ihr Unterfangen verschwiegen. Stattdessen hatte sie ihm erzählt, vor Beginn des fordernden Studiums eine „After-School-Reise“ innerhalb Europas zu unternehmen. Sich die „Hörner“ abzustoßen, etwas in jungen Jahren zu erleben, das machte heutzutage doch ein jeder Jugendlicher.
Nach Bitten und Betteln hatte er eingelenkt. Im Gegenzug hatte sie ihm versprechen müssen, sich hinterher auf ihr Studium zu konzentrieren.
Zum Glück hatte Karl-Heinz Morgenstern Maris schon immer Privatsphäre gegönnt. Insofern hatte er kaum Details zur geplanten Reiseroute gefordert. In der Hinsicht besaß sie den Vorteil eines Scheidungskindes. Papa war stets auf ihr Wohl und ihre Zufriedenheit bedacht gewesen.
So erwartete er lediglich, dass seine Tochter gelegentlich ein Lebenszeichen von sich gab. Maris genoss diese Freiheit.
Andererseits hätte er ihr mit 18 Jahren keine Verbote erteilen können. Dennoch bemühte sie sich um die Wahrung des Haussegens.
Am Tag der Abreise brachte der Vater sein Mädchen zum Flughaften. Bei einer neutralen Verabschiedung versprach sie, ihm regelmäßig über WhatsApp Nachrichten zu schicken. Dass sie allein flog, kümmerte Karl-Heinz wenig. Von klein auf selbstständig erzogen, kam seine Tochter bestens klar.
Pünktlich um 07:00 Uhr morgens erreichte ihr Flieger den Marseille Provence Flughafen. Mit dem Taxi fuhr Maris zur letzten bekannten Adresse ihrer Mutter. Geplättet von der Schönheit der malerischen Landschaft drückte sie ihre Nase an der Fensterscheibe platt. Grün überall. Zudem aberhunderte an bunten Blumen. Fast wie in Deutschland. Es herrschte hier besseres Wetter.
Beschwingt öffnete Maris das Fenster einen Spalt, ließ die herrlich sanfte Brise herein. Ein Lüftchen wehte auf den Rücksitz des Taxis, verwuschelte ihre langen braunen Haare. Wenige Zeit später gelangte sie an ihr Ziel.
Die „Rue Dragon“ lag abseits großen Trubels, Geschäfte des täglichen Bedarfs erreichten die Anwohner trotzdem bequem zu Fuß. Das außen sehr schicke Häuschen mit Blumentöpfen auf den Fensterbänken gab gerade genug Platz für zwei Bewohner her. Optisch passte es zu den anderen Anwesen in der Reihe. Klopfenden Herzens und mir vor Aufregung trockener Kehle klingelte Maris. Leuten ertönte. Zügig öffnete eine elegant gekleidete Madame die Haustür. Ihre Mama entsprach genau der Frau aus Maris’ Erinnerungen. Die Dame trug einen seidenen Schal um den zierlichen Hals, perfekt sitzende, figurbetonte Stoffhosen und passende Bluse im blumigen Stil, die Haare zu einem Knoten gebunden. Angelique Monroe schaute ihre Älteste wie eine Unbekannte an.
„Mama?“, begann diese das Gespräch zögerlich.
Verwirrt blinzelte die Madame einige Male. Dann dämmerte ihr wohl, noch eine Tochter zu besitzen.
„Maris!“, stellte sie erstaunt fest.
„Leibhaftig!“, entgegnete die junge Frau ironisch.
„Du liebe Güte, welch Überraschung! Was machst du denn hier in Frankreich?“, fragte Angelique.
Wohl keine positive Neuigkeit, ihrer Miene nach zu urteilen.
„Eclairs kaufen“, erwiderte Maris trocken, fast ein wenig enttäuscht.
Das Wiedersehen hatte sie sich anders vorgestellt. Da ihre Mutter den Scherz entweder nicht kapierte oder einfach nicht für lustig befand, klärte Maris die Sachlage auf. „Nein, Spaß, euch besuchen natürlich!“
Perplex schaute die Dame über die Schulter. Nach wie vor bat sie ihre Tochter nicht herein. Hatte sie etwa nicht aufgeräumt?
„Euch?“, versicherte sich die Mutter, „woher weißt du denn von Earl?“
Earl?
Maris lachte brüskiert. War ihr mütterliches Elternteil auf Drogen?
„Earl?“, hakte sie nach.
Anscheinend sprachen beide aneinander vorbei! Weiterhin wartete Maris darauf, dass ihre Mutter sie hereinbat. Im Haus plauderte es sich doch besser!
„Earl ist mein Lebenspartner“, platzte die feine Dame heraus, „wir sind verlobt. Wen außer ihn meintest du denn anzutreffen?“
Jetzt begriff Maris gar nichts mehr.
„Äh“, räusperte sie, „deine andere Tochter vielleicht? Meine Schwester? Sonja!“
Angelique schaute Maris verständnislos an.
„Schatz, wenn ich noch ein zweites Kind geboren hätte, wüsste ich das. Weshalb erlaubst du dir solch einen wundersamen Scherz?“
Auf einmal fehlte Maris die Spucke.
Hinter ihrer Mutter rief eine männliche Stimme aus dem Haus: „Angie, Liebling. Was treibst du? Wo steckst du?“
Panisch schloss die gerufene Frau die Tür bis auf einen winzigen Strich.
„Entschuldige! Earl ist furchtbar eifersüchtig! Und er weiß nichts von dir. Du gehst besser wieder!“, flüsterte sie.
Keine Umarmung, keine Verabschiedung, keine Liebe. Für die Zukunft hatte ihre Mama sie soeben aus ihrem Leben verbannt.
Zittrig zückte Maris ihr Smartphone, sendete ihrem Vater eine Nachricht.
Bis zum Erhalt einer Antwort wanderte sie samt Gepäck ziellos durch die Straßen. Leider half die Aktivität keineswegs, ihre aufgewühlten Gefühle zu beruhigen. Ihr Handy piepste.
Gefühlt hundertmal las die junge Frau die Zeilen ihres Vaters.
„Schwester? Machst du Witze? Du bist mein einziges Kind, Liebling. Ist Sonja eine Freundin?“
Ihre Eltern waren doch beide high! Gleichzeitig!
Das musste es sein! Eine andere Erklärung fiel Maris nicht ein.
Kontinuierlich ging sie, blieb nicht stehen. Gebäude zogen an ihr vorbei, Läden, Cafés. Menschen.
Das ungewollte Einzelkind landete am Hafen. Natürlich. Salzwasser zog sie magisch an.
Maris setzte sich an den Rand eines Stegs und schaute den Booten beim Schippern im seichten Wasser zu.
Was sollte das? Haarklein erinnerte sie sich an ihre Schwester. Sonja, drei Jahre jünger als Maris, hübsch, klein, dünn, ein aufgewecktes Mädchen, braun gebrannt vom Spielen in der Sonne und die wohl größte Träumerin unter allen lebenden Personen. Maris hingegen, hochgewachsen, sportlich schlank, lange, glatte, hellbraune Haare und blaue, anstelle brauner Augen, lebte in der Realität. Trotz aller Unterschiedlichkeit liebte sie ihre Schwester. Ihr Herz hatte getrauert, als der Kontakt gebrochen war.
Wie konnten ihre Erzeuger die Kleine bloß vergessen?
Viel wichtiger: Wo steckte sie?
Schlagartig fühlte Maris ein Stechen in der Brust. Dessen Ursache suchend, horchte das Mädchen in sich hinein.
Komisch, es verschwand genauso schnell, wie es gekommen war.
Zwei Hafenarbeiter liefen an ihr vorbei. Womöglich begannen sie ihre tägliche Arbeit, oder machten schon Frühstückspause.
Unbewusst belauschte Maris die Männer. Nun ja, ihre Sprechorgane hätte sie schlecht überhören können. Dank ihrer Mutter war sie zweisprachig aufgewachsen, verstand die französische Sprache also.
Einer der Arbeiter erzählte: „Hast du das mitbekommen? In der Nacht ging ein junges Fräulein über Bord der Independence of the Seas!“ - „Ernsthaft? Dieses großen Luxusdampfers?“, vergewisserte sich der andere.
Der erste Hafenarbeiter setzte das Gespräch fort: „Korrekt! Die Yacht ankert heute in Nizza. Scheinbar verschwand das Mädchen spurlos. Rettungsboote sind seit knapp zwei Stunden im Einsatz. Wenn du meine Meinung hören möchtest, vergebliche Liebesmüh. Die ist sicherlich schon tot! Sämtliche Kanäle bringen die Geschichte und zeigen die trauernden Eltern.“
Der zweite erwiderte: „Der Sturm gestern wühlte den Ozean ganz schön auf. Hoffentlich wird die Leiche nicht hier angespült!“
Die bloße Vorstellung ließ die Arbeiter schaudern.
Das eben Gehörte versetzte Maris einen weiteren Stich. Was bedeutete das nur?
Jessica schaute auf ihren Wecker. 02:30 Uhr in der Früh!
Nachdenklich setzte sie sich, wie so häufig diese Nacht, auf. Durchgehend hatte sie das zurückliegende Gespräch reflektiert.
„Kannst du uns etwas über den vierten Priester berichten?“, fragte Jessica eine glückselig mampfende Sonja.
Die Wächterin bekam glänzende Augen beim Anblick der bunt gemischten Süßigkeitenauswahl. Obgleich die Mädchen ihr Naschzeug ungern teilten, schafften sie nicht, sich dem flehenden Blick zu entziehen.
Für den Anfang befriedigt klärte Sonja mit Schokolade an den Mundwinkeln auf: „Die letzte Priesterin des Meeres lebte auf Pulse Magia und entstammte den Nereiden.“
Jessi atmete aus. Ihr fehlte das Wissen über diese Rasse.
Zur allgemeinen Aufklärung erläuterte Shanti: „Stellt euch Meerjungfrauen vor und ersetzt den Fischschwanz durch Beine.“
Die Hexe kapierte, worauf die Waldelfe hinaus wollte, und schlussfolgerte: „Lebewesen des Meeres, perfekt geeignet für den Job!“
Sonja nickte. Blieb eine Frage offen.
„Warum erhielt ich über eine weitere Priesterin auf Pulse Magia keine Kenntnis?“, überlegte die Waldelfe laut.
„Die letzte ist bereits einige Jahrzehnte tot“, bekundete die Wächterin, „die Nereide bekam niemals Nachwuchs. Ohne Kind, kein Erbe. Da bisher ein Einsatz der Elementkrieger unnötig erschien, übertrug Königin Celestia den Magiestein des Meeres folglich keinem anderen Individuum.“
Nachvollziehbar, aber …
„Mensch, ist das kompliziert! Warum einfach, wenn’s auch schwierig geht?“, stöhnte Jessica und starrte in ihrer Verzweiflung die Schokolade an.
Nein, Kalorien hatte sie heute schon reichlich verzehrt!
Trotzdem …
„Yelina, erinnere mich morgen in der Mall, unbedingt Ben&Jerrys mitzunehmen!“, raunte sie der Lichtelfe zu.
Nica und Maelle saßen kerzengerade.
„Ist das etwas Neues?“, hakte die Schattenelfe nach.
„Dürfen wir probieren?“, strahlte die purianische Thronfolgerin freudig.
Hanna wies sie zurecht: „Eiscreme. Extrem viel Zucker und Fett, null Nährstoffgehalt!“ - „Geil!“, rief das Duo.
Bewohner der Erde vollzogen die Kalorien-Euphorie der „Ausländerinnen“ sicherlich nicht nach.
„Diät am Arsch!“, jammerte Jessi frustriert. „Hmpf, scheißegal! Yelina, gibst du mir die Tafel Nugat, bitte? Danke!“
Gefühle von Freude und einem miesen Gewissen tobten in Jessica, als die Schokolade in ihrem Mund schmolz.
„Hey, Wächterin!“, schmatzte sie, „wenn’s keine Priesterin für das Element Wasser gibt, wo ist dann der Elementstein?“
Sonja benötigte einen Moment für die Antwort, weil sie vorher besonders fiese Gummibärchen aus ihren Zähnen pulte.
„Den Larimar, Edelstein von Quintessenz Wasser, verwahrt aktuell die Königin. Er reagiert, sobald er einen Träger aussucht. Ähnliches gilt für den Aquamarin, Magiestein des Priesters. Auch er obliegt Celestia bis zur Erwählung.“ - „Und diese Wahl trifft ihre Majestät?“, vermutete Yelina.
Nica warf dazwischen: „Völlig Schnuppe! Ich mache die Bösen allein platt!“ - „Ich kämpfe an deiner Seite!“, murrte Shanti.
Jessica seufzte. Diese kriegerischen Hohlköpfe! Manchmal hegte Jessi den Verdacht, Hunde an der Leine zu halten und nicht auf humanoide Wesen aufzupassen. Durch einen Wink bat sie Sonja fortzufahren. Vorab landeten Jelly Beans in ihrem Rachen.
„Theoretisch bestimmt die Königin alle Priester. Mein Spiegel zeigte mir neuerdings aber das andere Szenario. Ihm entsprechend erwachen das Wasser und das Meer gemeinsam.“
Jessica grübelte im Bett über die Bedeutung des Satzes.
In dieser schwierigen, von Unheil bedrohten Zeit, suchte das Gute einen Weg und reine Magie, würdige Nutzer.
Die Hexe fand die Tatsache schlichtweg faszinierend. Mit jedem verstrichenen Tag und jedem kennengelernten Mädchen wurde sie stolzer und dankbarer über ihre Aufgabe.
Maris entschied, in Marseille zu übernachten. Ihr erspartes Geld würde für ein Hotelzimmer genügen. Morgen würde sie zurück nach Deutschland fliegen.
Die meisten Unterkünfte boten WLAN, somit konnte Maris den Flug später einfach dort buchen.
Zunächst reizten ein starker Kaffee und ein Croissant das neuerliche Einzelkind. Erschöpft vom unentwegten Nachdenken, stand sie auf. Sehnsüchtig warf sie einen Blick auf das Wasser im Hafenbecken.
Als das Mädchen sich abwandte, fuhr ihr ein spitzes Gefühl wie ein Blitz durch sämtliche Eingeweide. Was war nur los mit ihr?
Kurzzeitig verharrte sie und lauschte. Das Meer erzählte ihr eine Geschichte.
Aufmerksam hörte sie den seichten Wellen zu, die am Rand des Beckens brachen. Vor Maris’ geistigem Auge erschien ein Bild. Das eines Mädchens.
Etwa? Die Ertrunkene? Unmöglich! Oder doch nicht?
Ihrem dämlichen Gedanken folgend, überdachte Maris etwaige Möglichkeiten des Überlebens dieser Schiffbrüchigen. Sie waren absurd.
Rettungsboote waren seit Stunden im Einsatz. Jede rationale Logik verwehrte die Option eines möglichen Überlebens. Warum aber ließ ihr Instinkt Maris dann nicht los?
„Pff! Ich sollte mich schnellstmöglich in eine Klapsmühle einweisen lassen!“, maßregelte sie ihr Spiegelbild im Wasser.
„Hey, Mademoiselle! Du hast hier nichts verloren!“, schrie ein aufgebrachter Hafenarbeiter aus einiger Distanz. In ihm erkannte Maris einen der Kerle von vorhin.
Seine Worte spukten in ihrem Kopf. Er hatte recht. Echt mal, sie war verrückt!
Die Mademoiselle lächelte den Mann an.
„Sie haben recht!“, bestätigte sie, fügte hinzu: „An Land bin ich eindeutig überflüssig!“
Vollkommen ihrer geistigen Kräfte beraubt, dafür fest entschlossen, warf Maris ihre Reisetasche auf den Boden und sprang in das eiskalte Wasser des Hafenbeckens.
Eben erst sank Jessica in den Schlaf, da klopfte jemand an ihre Tür.
„Verdammt und zugenäht!“, fluchte die müde Hexe, „wer zur Hölle wagt es, um diese Zeit herumzudoktern?“
Stinksauer hüpfte sie vom Bett und marschierte zur Zimmertür. Eine ebenso erschöpfte Wächterin stand im Flur. Sonja brachte Jessi vorerst mit Yelina unter, Jessica buchte ein Einzelzimmer. „Himmelherrgottzwirn! Es ist, wie spät? Vier Uhr früh! Was zum Teufel willst du?“, fuhr Jessi das Mädchen barsch an. Aufgrund der wüsten Begrüßung heulte Sonja beinahe.
Hey, Jessica war auch nur ein Mensch!
„Sorry, Kleine! Ich bin hundemüde!“, entschuldigte sie.
„Verzeih mir, dass ich störe!“, piepste die Brünette, „mein Magiestein weckte mich. Der Spiegel zeigte mir eine Person. Ich denke, sie ist eine der Auserwählten.“
Zum Beweis hielt Sonja ihre wahrsagende Version einer Kristallkugel in Form eines handgroßen, runden Kosmetikspiegels vor Jessis Gesicht.
Die Hexe schnaubte. „Super, die Magie hat echt kein bisschen Respekt vor vernünftigen Arbeitszeiten!“ Jessica rieb ihre Augen.
„Ich spritze mir Wasser ins Gesicht. Sag mir währenddessen, wer und wo.“
Sonja folgte ihr in den Raum, druckste aber herum.
Schüchtern gab sie bekannt: „Er spiegelt die Gestalt meiner Schwester. Maris.“
Selbst da sie es fernerhin für hirnverbrannt erachtete, fühlte sich Maris mit jedem Schwimmzug sicherer. Intuitiv folgte sie der Meeresströmung. Entweder gelangte sie ans Ziel, wo das auch immer lag, oder sie ertrank. So einfach verhielt sich die Sache. Maris ergab eine hervorragende Schwimmerin. Elegant glitt sie durch die salzige See. Sie reckte den Kopf über die Wasseroberfläche, holte tief Luft, tauchte unter und bewegte sich mit schnellen Zügen vorwärts, wechselte dabei zwischen Brustschwimmen und Kraulen. Ihr voriges Gefühl nahm an Intensität zu. Etliche Kilometer entfernte sie sich von der Stadt. Dann plötzlich stoppte sie, paddelte auf der Stelle und wandte den Kopf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie längst den Hafen verlassen hatte. Danach musste sie in eine Art meditatives Schwimmen gefallen sein. Von Land weit und breit keine Spur in Sicht. Wie lange war sie unterwegs gewesen? War sie derart schnell geschwommen? Den Koffer stehen gelassen zu haben, bereute sie. Allerdings hätte sie ihn nicht mitschleifen können. Hoffentlich verwahrte ihn der Arbeiter bis zu ihrer Rückkehr. Falls sie überhaupt zurückkehrte. Oder zurückfand!
Vom vielen sich im Wasser drehen, verlor Maris die Orientierung. Allmählich stieg Panik auf.
Verdammter Mist! Wohin nun?
Inmitten der Wassermasse erblickte sie eine türkis schimmernde Stelle.
Bekam sie langsam eine Art Meeres-Fata-Morgana?
An dieser Stelle hatte sie nichts zu verlieren. Darum neigte Maris den Kopf unter die Oberfläche und bestaunte die Unterwasserwelt.
Seltsamerweise brannte das Salz nicht in ihren Augen.
Tatsächlich barg die Tiefe ein Leuchten. Jenes, das sie oberhalb erkannte.
Noch einmal holte Maris tief Luft und bahnte sich dann den Weg in tiefe Gewässer. Mit jedem Zug wurde die Umgebung dunkler, der helle Schein wies ihr jedoch die Richtung. Unter ihr, sinnbildlich im Ozean schwebend, entdeckte Maris einen Körper.
Oh Gott, das war real!
Sie musste sich beeilen, ihre Atemluft ging zur Neige.
Warum eigentlich beeilen? Wofür?
Ein Gedanke erschien. Selbst wenn sie den vermeintlichen Leichnam erreichte, würde sie es niemals rechtzeitig zurückschaffen.
Falls doch, Leichnam blieb Leichnam! Was bezweckte sie also?
Obwohl, die Frage hätte sie sich zu Beginn ihres Unterfangens stellen sollen.
Maris beschloss, ihrem sie permanent begleitenden Impuls zu vertrauen, jagte voran und streckte ihre Hand dem leblosen Mädchen entgegen.
Sterben fühlte sich friedlich an. Auf eine groteske Weise richtig.
Dunkelheit hüllte die junge Frau ein, wirkte anziehend auf sie, zog sie in die Tiefe. Sie kämpfte nicht dagegen an. Warum auch?
Aber ihre Eltern taten ihr leid.
Vielleicht durfte sie wenigstens den wunderschönen Traum weiter träumen.
So sehr sehnte sie sich nach Erleben, Erkunden, Entdecken, Erforschen, wollte Eindrücke festhalten, sie erzählen, sich daran erinnern.
Sehnsucht erfüllte ihr Herz. Mit einem schier unendlichem Drang begehrte sie Abenteuer, analog denen in Indiana Jones Filmen, wünschte ihre Erlebnisse zu teilen und Geschichten darüber zu erzählen. Anhand ihrer Fotografien beabsichtigte sie, andere Menschen zu inspirieren und in ihnen Visionen zu erwecken. Dafür brauchte sie Lebenszeit. Aber die hatte sie nicht, wenn sie den Löffel abgab.
Durch ihre geschlossenen Lider funkelte ein blaues Licht.
Entweder schlief sie und träumte, oder sie ertrug die Realität und gab ihr Bestes, ihren Lebenstraum wahr werden zu lassen. Schwierige Entscheidung!
Das Leuchten rückte näher.
Erheitert dachte sie daran, dem bescheuerten Schwanzträger auf dem blöden Schiff eine Ohrfeige zu verpassen, auf die feine, englische Art. Unter der Voraussetzung, sie überlebte.
Wegen der bloßen Vorstellung schmunzelte sie.
Der Schein war direkt vor ihr. Offenbar forderte das Licht eine Entscheidung von ihr. Lara hob ihren Arm.
In dem Augenblick als sich die Mädchen ihre Hände reichten, erzeugten sie einen Tsunami. Gut, vielleicht keine gigantische Riesenwelle, allerdings erfasste eine gigantische Strömung Lara und Maris, beförderte beide nach oben und hob sie schwungvoll aus dem Wasser. Oberhalb der Wasseroberfläche schwebten beide in einer übergroßen Sauerstoffblase.
Lara öffnete die Augen. Sie blickte in Maris’ Antlitz.
Mit einem Mal spaltete das Meerwasser zwei funkelnde Steine. Einer besaß die Form eines Tropfens und fiel in Laras Hand, den herzförmigen erhielt Maris.
Andächtig schwirrten sie in ihrer Kugel, hielten einander einhändig fest. Der wolkenbedeckte Himmel kündigte ein Unwetter an. Besorgt schaute Lara auf das Wasser.
„Ich kann nicht schwimmen“, sagte sie.
Maris lächelte sanft.
„Ich bringe es dir bei.“
Die Seifenblase platze. Beide Mädchen tauchten in die See und verschwanden.
Jessicas Biorhythmus geriet völlig durcheinander, Frankreich lag New York zeitmäßig sechs Stunden voraus. Wenigstens erhielt sie von der Wächterin der Träume den Hinweis, dass sie den Raumschlüssel nach wie vor nutzen durfte. Von ihrem Wächterkollegen Rick hatte Sonja jedenfalls nichts Gegenteiliges gehört.
Die anderen Kriegerinnen schliefen. In Jessis Augen hatte es unnötig geschienen, sie aufzuwecken.
Sonjas Spiegel zeigte eine Küste vor Nizza. Dort, in einer schmalen Gasse, warf der Schlüssel Hexe und Wächterin heraus. Jessica fühlte sich inzwischen wie ein verdammter Gangster. Dauernd landete sie in der Pampa, oder eben in einer Seitenstraße.
Ein riesiges Kreuzfahrtschiff ankerte vor dem Bug. Die „Independence of the Seas“. Sehr schick. Luxuriös.
Abrupt wirbelte Jessica herum, was ihr einen entsetzten Blick von Sonja einbrockte.
„Eine dämonische Aura!“, wisperte Jessi, auf einmal hellwach.
Gegenüber des Ankerplatzes und unweit ihrer Gasse gebot eine Toilettenanlage Anlaufstelle für ankommende Reisende. Die Tür einer Klokabine wurde geöffnet. Ein junges, optisch sehr ansprechendes Mädchen trat heraus. Hinter ihr stürzte die Gestalt eines Jungen, ebenfalls eine Augenweide, zu Boden. Er rührte sich nicht.
„Jessi, was …?“, stammelte Sonja.
„Bleib zurück!“, befahl die Hexe, „sie ist ein Dämon! Schätzungsweise verführte sie den Kerl zu einem Stelldichein. Möglicherweise frass sie dabei seine Lebenskraft.“
Das bösartige Grinsen der Teufelsbraut bestätigte ihre Theorie.
Daneben zog ein Gewitter auf.
„Schon wieder Regen!“, schimpfte Jessica, als Niesel einsetzte.
Die Satansbrut stürzte indes auf ihre Zeuginnen. Geschwind langte Jessi an ihren Mondstein. Sie staunte nicht schlecht, als die kleine Sonja ihr die Hand auflegte, an ihr vorbeistolzierte und ihre Beschwörung entfachte: „Regina, mi ascolta, per protteggere i sogni! Königin, höre mich, die Träume zu beschützen!“
Anstelle eines dünnen Kindes wehrte eine Amazone mit ihrem langen Holzstab den Hieb der Dämonin ab.
„Nicht übel!“, lobte die Hexe ihren Neuzugang.
Sonja lächelte, blieb trotzdem fokussiert auf ihre Gegnerin.
Künstlerisch aussehende Zeichen überzogen den Körper der Wächterin. Jeder Indianer würde vor Neid erblassen. Nebstdem trug Sonja einen langen, gelockten Irokesen auf dem Kopf. Lederrock, Brustpanzer sowie Bandagen um Unterarme und Beine verliehen ihr das gewisse Etwas.
Magie – einfach der Wahnsinn!
Die Dämonin erschuf aus dunkler Zauberkraft zwei dolchartige Waffen. Damit drosch sie ununterbrochen auf die Wächterin ein. Sonja blockte bravurös, die Teufelin drängte sie allerdings zurück. Zeit für die Hexe, einzugreifen. Ehe sie ihre Zauberkraft entfachte, spürte sie eine Regung. Die Feindin sprang in einige Entfernung zurück, fort von Sonja. Jessi und die Wächterin bewegten ihre Köpfe Richtung Wasser.
Ups. Eine gigantische Welle zielte auf den Hafen!
Jessi beschwor einen Wall. Dadurch sicherte sie den Platz und Sonja.
„Warte!“, rief ihre Mitstreiterin.
Ihr rundes, allsehendes Auge erschien in deren Händen. Das Mädchen blickte hinein.
„Du kannst die Schutzmauer lösen“, erklärte sie, eine Freudenträne lief dabei ihre Wange hinunter, „die See kommt in friedlicher Absicht.“
Jessica überlegte, was sie von diesem Scherz halten sollte.
Ihre ungeduldige Gegnerin veränderte ihre Erscheinung. Die Menschengestalt verschwand, ihre dämonische trat zum Vorschein.
Dämonen der Erde waren im Gegensatz zu Eclisos Kreaturen nicht abgrundtief hässlich. Abgesehen davon könnten sie direkt aus einem modernen Horrorfilm stammen. Gruselig genug schauten sie aus. Die Dämonenfrau nutze das unter der Wolkendecke gelegene, schummrige Zwielicht, den Regen und die damit verbundene, menschenleere Hafenumgebung. Sie ging in die Offensive, setzte mit ihren selbst gebastelten Zauberschwertern der Wächterin zu. Sonja gab Kontra. Den Stock parierte die Böse und hob ihn mit einer kräftigen Bewegung aus der Wächterin Händen.
Die Welle brach an Land. Davon ließ sich die Teufelsbraut nicht beirren, ihr Stoß von oben traf Sonjas Köpfchen.
Jessica stockte der Atem. Sie wollte losrennen. Dann traf sie eine Erkenntnis.
Der Hieb hatte Sonja verfehlt!
Vor dem Mädchen stand eine junge Frau, welche die Zauberklinge der Dämonin abfing. Mit bloßer Hand!
„Maris!“, quiekte Sonja.
„Na sieh mal einer an! Scheinbar bildete ich mir meine Schwester doch nicht ein!“, erwiderte der Neuankömmling.
„Wer zur Hölle bist du?“, fauchte die Böse.
„Kann dir schnurzpiepegal sein, Miststück! Wichtige Neuigkeit für dich. Fass meine kleine Schwester an und ich mach dich kalt!“
Offenbar glaubte die Gegnerin ihr kein Wort, machte aber dennoch einen Satz nach hinten, ließ unterdessen das Schwert los. Maris schleuderte es zu Boden.
Unvermittelt betrat ein weiterer Gast die Bühne.
Überrascht fuhr Jessi zusammen, als sie das zweite fremde Mädchen neben sich bemerkte.
„Guten Tag! Mein Name ist Lara. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen!“
Jessi starrte sie an.
„Eine Britin? Na wunderbar!“, frotzelte sie sarkastisch, „der Akzent ist einfach unverkennbar.“ - „Und du bist wohl Amerikanerin? Dein Slang lässt darauf schließen“, konterte die Engländerin.
„Wie auch immer“, grätschte die Hexe ein, „brachte euch das Wässerchen euch her?“
Die hübsche Brünette nickte.
„Ja, das Wässerchen geleitete uns. Ich verstehe die absurden Dinge zwar nicht, doch alles fühlte sich einfach richtig an.“
Jessica begriff.
„Ihr beiden Mädels, hört zu!“, schrie sie über den Hafen hinweg.
Maris und Lara gehorchten.
„Ich erläutere euch die Sachlage später. Probieren wir vorher etwas aus! Entfesselt eure Magie! Folgt der Weisung eures Geistes!“
Innerlich drückte Jessi die Daumen, dass sie Recht behielt. Derweil hatte die Dämonin sich eine Strategie zurechtgelegt. Als sie Anstalten machte, anzugreifen, handelten die Mädchen. Maris legte die Hand an die herzförmige Brosche aus Aquamarin. Letztmalig lauschte sie der Erzählung des Meeres, übersetzte die Worte der Flut.
„Mare, mi da forza! Mi presta la Magia delle Onde! Meer, gib mir Kraft! Leihe mir die Magie der Wellen!“
Gleichzeitig stupste Lara ihren Tropfen aus Larimar und bündelte die Sehnsucht ihres Herzens.
„La Potenza d‘ Acqua, ascoltami! Gewalt des Wassers, wohne mir bei!“
Maris’ Jeans und T-Shirt verschwanden. Anstelle ihres Freizeitoutfits trug sie einen türkisfarbenen Bikini. Interessante Kampfrüstung.
Laras Kleidung löste sich auf. Doch ihren Körper bedeckten keine Kleider, er bestand aus azurblauem, fließendem Wasser. Sie erinnerte an ein Aquarium in Menschenform. Wogend lief ihr das kristallklare Haar über den Rücken, die Augen funkelten sandfarben. Element Wasser wählte seine Kriegerin und das Meer seine Priesterin. Ob die Steine der Königin entflohen waren? Oder hatte sie die Magiesteine geschickt, als sie angefangen hatten, zu glühen?
Das Dämonenmädchen wirkte unbeeindruckt. Sie brüllte aus tiefsten Leib. Telepathisch lockte sie ihr zurückgelassenes Schwert zurück in ihre Hand.
Daraufhin griff sie an. Ihr erster Streich galt der großen Schwester.
„Maris, Vorsicht!“, schrie Sonja.
Völlig unnötig, denn Maris kontrollierte die Situation.
„Tridente!“
Metallisches Klatschen erklang, indessen ein eindrucksvoller, königsblauer Dreizack die dämonischen Schwerthiebe abwehrte. Ähnlich vorhin, unterbrach die Feindin ihre Streiche nicht, preschte unentwegt vorwärts.
Allmählich ging sie Maris auf die Nerven. Einem plötzlichen Einfall folgend, fing die Priesterin durch die Mulde zwischen den spitzen Zacken ihrer Waffe die Werkzeuge ihrer Gegnerin ab, drehte sie, stahl die Schwerter direkt aus der Hand der Feindin und schleuderte sie fort. Die Dämonin stand ohne Ausrüstung da.
„Pistola Acquosa!“, bannte Lara.
Zwei Pistolen erschienen in ihren Händen, mit welchen sie wasserbasierte Munition abfeuerte. Die Kugeln trafen die Dämonin am ganzen Leib. Schreie ausstoßend, prallte sie rückwärts. Erstarkender Regen erstickte ihre qualvollen Laute. Lara schritt auf Maris zu, indes sich die Feindin aufraffte.
Beieinander fassten die Mädchen gegenseitig ihre Hände, analog zuvor in der Seifenblase. Den Dreizack mittels ihrer freien Hand emporhebend, erflehte Maris die Gunst des Meeres.
„Mare, sommerge!“
Die Gewässer erhörten ihr Rufen. Aus dem Hafenbecken fluteten Massen an Salzwasser, sammelten ihr Volumen um die Kriegerinnen.
Lara war an der Reihe.
„Acqua, scorre!“
Mühelos bewegte sie die von Maris erbetene Flut. Mitten in ihrem Vorstoß stürzten Unmengen Wasser auf die Dämonin, welche keine Chance zum Entkommen fand. Eingehüllt von tausenden Litern unbändigen Meerwassers ertrank das dämonische Mädchen jämmerlich. Über den ganzen Hafen verteilte sich Nässe.
Die ansässigen Bürger würden später nichts Ungewöhnliches dahinter vermuten, schließlich hatte es den ganzen Tag geregnet.
Die Spur des Bösen verschwand mit den Regentropfen in der Kanalisation.
Lara fand den bewusstlosen Andy vor der Toilette. Anscheinend hatte er an Bord die falsche Geliebte gewählt.
„Kennst du den Kerl?“, fragte Maris.
„Flüchtig“, entgegnete die Britin tonlos, „hab ihn an Bord abserviert!“ - „Richtig so!“, unterstütze Jessica die Entscheidung, „Jungs, wie er, verdienen Mädchen, wie dich, nicht!“
Auf Laras Gesicht erschien ein Lächeln. Also diese Blondine mochte sie schon mal! Weil sie nach Anführerin aussah, wandte sich Lara an sie.
„Was nun?“
Grüblerisch reckte die Hexe dem Himmel ihr Haupt entgegen. Regentropfen fielen auf ihre Stirn und die geröteten Bäckchen. Plötzlich grinste sie.
„Jetzt, meine liebe Freundin mit dem britischen Akzent, besorge ich euch neue Kleider. Danach gehen wir einen Kaffee trinken!“
Dank Zauberei und einer unbegrenzt einsetzbaren American Express Platin Kreditkarte kaufte Jessica im Handumdrehen drei Sommerkleider in passenden Größen. Die Mädchen freundeten sich derweil an, versteckt auf der Hafentoilette. Sonja gestand ihrer Schwester, vor zwei Jahren durch die Königin von Licht und Magie zur Wächterin berufen worden zu sein.
Dem Ereignis waren die Erinnerungslücken ihrer Eltern Karl-Heinz Morgenstern und Angelique Monroe geschuldet. Warum Maris sie im Gedächtnis behielt, konnte Sonja nur vermuten. Wahrscheinlich hatte das Schicksal sie längst zur Priesterin bestimmt. Derweil überlegte Lara, ihre Eltern im Glauben ihres Ablebens zu lassen. Entweder Lara würde bei der Mission sterben oder überleben. Im ersten Fall würden die Bishops nur einmal trauen. Falls sie die Mission überstand, könnte sie zu Mama und Papa gesund und munter zurückkehren. Eine Art „Kinderüberraschung“.
Jessica lieferte die Kleider.
Sonja erhielt ihres in Royalblau, Maris in Meergrün und Lara in Türkis.
Nette Andenken an den ereignisreichen Tag am, genauer gesagt, im Meer!
Selbst Maris’ Reisetasche zauberte Jessica in null Komma nichts herbei.
„Valigia, arriva qui!”
Zum Glück enthielt das Gepäck ihre sämtlichen Utensilien, samt Geldbeutel und Handy! Sofort informierte die Deutsche ihren Vater, gut angekommen zu sein, beteuerte außerdem, sich auf die vor ihr liegende Reise zu freuen.
Für Andy orderte Sonja, da sie am besten Französisch sprach, einen Krankenwagen.
Bedrückt informierte sich Lara bei Jessica: „Bleiben Schäden vom Übergriff der Dämonin zurück?“
Lügen schwört Jessi ab. Einerlei wie bitter die Wahrheit manchmal schmeckte, Lara hatte ein Recht darauf.
„Möglich“, klärte sie auf, „rauben Dämonen von Menschen Lebenskraft, erwischen sie stets ein Stück der Seele. Bleibt dem Jungen das Glück gewogen, betrifft der Seelenraub lediglich einen kleinen, unbedeutenden Teil. Falls nicht, kann ihn der fehlende Fetzen in den Wahnsinn treiben.“
Lara bedankte sich für die Ehrlichkeit. Das Gesicht ebenso dem Regen zugewandt, erflehte sie inständig Andys Seelenheil. Ungeachtet seiner Missetat verdiente kein Mensch auf Erden die von Jessica genannte Konsequenz.
Unweit der Anlegestelle tranken vier junge Frauen einen Kaffee in einer hübschen französischen Bäckerei. Mittlerweile war der Mittag in Nizza angebrochen. Draußen platschte Regen auf die Pflastersteine. Die in Manhattan verbliebenen Mädchen stünden bestimmt während der nächsten Stunde auf. Genug Zeit für Jessi, Einzelheiten auf den Tisch zu packen. Nachdem sie sämtliche Unklarheiten beseitigt hatte, entschlossen Maris und Lara sich ohne Einwände mitzukommen. Auch Sonja bot ihre Hilfe an.
Das Quartett suchte die Toilette auf. Versammelt quetschten die jungen Frauen ihre zierlichen Körper in die einzige Kabine. Selbstredend hatten sie vorher die Rechnung beglichen (war ja nicht Jessicas Kohle).
Der goldene Schlüssel brachte sie binnen Sekunden nach New York. Froh über den Zeitunterschied sanken die Neuzugänge in den Schlaf. Ein zusätzlich gebuchtes Zimmer führte zu steigenden Hotelkosten (war ja immer noch nicht Jessicas Geld). Solange Maris, Sonja und Lara schlummerten, brachte Jessi die restlichen Schützlinge aufs Laufende.
Als sie erwacht waren, geduscht hatten, in frische Kleidung geschlüpft waren, stellte Jessi die Mädchen untereinander vor. Schnell fanden Maris und Lara Anschluss.
Um die Vereinigung der Schwestern zu feiern, planten die Mädchen ein gemeinsames Essen. Bei der Wahl des Restaurants drängte Lara auf eine Bude, welche Fish and Chips anbot. Augenblicklich gerieten Maelle und Nica in Ekstase. Hanna fand auf Google ein passendes Fast Food Lokal. Chuck drangsalierte eine nach der anderen so lange, bis er mitkommen durfte. Abfahrbereit warteten acht Mädchen plus zwei Haustiere noch auf ihre furchtlose Anführerin.
Jessica stand am Fenster, blickte hinaus in die Ferne und dachte nach.
Vier Hohepriester beisammen. Eine Wächterin zur Unterstützung. Drei Elementkrieger gefunden. Ausschließlich ein Krieger fehlte.
Mit Sicherheit war auch der letzte weiblich, die Frauenquote der Anwesenden sprach Bände.
Das letzte Element auf ihrer Liste: Feuer!