Bezwingen des Drachentors
Ein Akt reiner Willenskraft
„Niemand weiß, was er kann, bevor er’s versucht.“
Publilius Syrus
Zum ersten Mal seit er denken konnte, eiferte ihm ein anderer nach, nahm ein anderer ihn sich zum Vorbild. Kaum, dass Kai gesprungen war, tat Magnus es ihm gleich. Und die Strategie funktionierte!
Kai gelangte auf den richtigen Pfad, den Wasserpfad steil aufwärts. Unmengen an Wassermassen peitschten überall in und um seinen mageren Fischkörper. Ihm erschien es, als versuchte der Strom ihn niederzudrücken.
Wie hätte es anders kommen sollen? Was hatte er erwartet? Der Wasserfall präsentierte sich den Karpfen, weil sie die Reise bewältigt, allen Mühen getrotzt hatten. Insofern würde das Drachentor sich allein dem zeigen, welcher die letzte und schwierigste Herausforderung meisterte. Wobei „schwierig“ dem nicht annähernd gerecht wurde. Wo genau Kai und Magnus ihre Kräfte herholten – von einer verborgenen Ressource tief in ihrer Seele? - konnte der unten wartende Oscar mitnichten nachvollziehen. Kopf an Kopf sprangen die Karpfen aus dem herunterprasselnden Wassersturm, um einen Moment später wieder in diese Flut hineinzutauchen. Weniger die physische Stärke verhalf den Kontrahenten, hinaufzusteigen, wohl eher spielte ihr Wille die entscheidende Rolle. Berechtigterweise kamen die Frage auf: Welcher Geist war klarer, wessen Geduld stärker und die Ausdauer welches Karpfens unerschöpflicher?
Kai wankte. Äußerlich wie innerlich. Die Ansammlung fallendes Wassers erdrückte ihn. Wegen des konstanten Springens, hinaus und wieder hinein, spürte er jeden einzelnen Muskel in seinem Leib. Sämtliche Schuppen auf seiner Haut vibrierten. Längst hallte Oscars Rufen ihm nicht mehr hinterher, das Tosen des Wasserturms betäubte sein Gehör. Ihm schwante, sein Trommelfell würde baldigst zerbersten (sofern man beim Gehörgang eines Fischleins von einem Trommelfell sprechen konnte). Ohnehin vermutete er, dass es besser war, nicht dem Anfeuern seines Freundes zu lauschen. Die vor ihm liegende Strecke raubte seine volle Geistesgegenwart. Demgemäß wagte er keinen noch so knappen Blick zur Seite. Gewiss interessierte ihn Magnus Leistung. Befand sich der stramme Karpfen vor oder hinter ihm? Wie er seinen Kontrahenten einschätzte, traf ersteres zu. Egal! Negative Gedanken sollten – nein, durfte! - er nicht zulassen! Denken beeinflusste die Gefühle, ebenso die Taten. Seine nächsten Handlungen entschieden den Ausgang dieser Reise. Ob gewinnen, verlieren, zum Drachen werden oder Koi-Fisch bleiben, Kai wollte einen würdigen, einen ihn zufriedenstellenden Abschluss erwirken.
Kurz dachte er über seinen zurückgelegten Marsch nach. Dabei rief er sich das Erlebte ins Gedächtnis. In seinem Geist tauchten die Bilder seiner ersten echten Freunde auf. Das, welches er geleistet hatte, machte Kai stolz. Zufrieden lächelte er. Endlich war er im Reinen mit der Welt und sich selbst. In Zukunft wünschte er, das Gelernte umzusetzen, hauptsächlich gütig mit seiner Umwelt zu agieren.
Seine verbliebenen Kräfte bündelnd, absolvierte er einen weiteren Sprung. Dann noch einen. Und einen weiteren. Im Augenwinkel erhaschte er den Schatten seines Rivalen. Doch er hegte kein Gefühl der Missgunst. Der Schnellere sollte gewinnen. So war es richtig.
Reinen Herzens setzte Kai zum nächsten Hüpfer an. Ein Ende war nicht in Sicht, dennoch deutlich spürbar.
Just geschah es. Himmelwärts erschien ein Lichtblitz. Aus dem Nichts wurde ein Leuchten geboren. Über den Köpfen der Kois schimmerte etwas Goldenes.
Konnte es sein? Das Drachentor?
Ja! Das Ziel war zum Greifen nahe.
Bis zur Klippe, dem obersten Punkt, der Brücke zum goldglänzenden Tor musste Kai gelangen. Nicht mehr lange, und …
Wahrlich, das Überwinden des Drachentors rückte in greifbare Nähe, von oben herab schwappte urplötzlich eine Sintflut über die Klippe. Ein Wasserstoß, vergleichbar eines Tsunamis. Kais Gedanken rasten. Was sollte er unternehmen? Herausspringen? Untertauchen?
Aufgeben, da er der Dichte an Flutwasser nicht gewachsen war?
Entscheidungen fordern Mut. Wagnisse fordern Mut. Mut bezwingt Angst. Zumindest, wenn ein tapferer Geist ihn zu beweisen vermag.
Im Falle des kleinen Karpfens entschied dieser tapfere Geist, dass es wichtigeres zu gewinnen und kaum der Rede wertes zu verlieren gab. Aus seiner inneren Haltung heraus entstand ein Wille. Sein Wille. Auf seiner Suche hatte er die Flamme, als welche er die Willenskraft beschreiben würde, schon des Öfteren wahrgenommen. Augenblicklich spürte er sie in Form eines lodernden Feuers. Dem inneren Brennen folgend, sprang er ein letztes Mal. Neben sich registrierte er den abtauchenden Magnus. Er erkannte, mit welch gnadenloser Gewalt die Flut Magnus aus dem Wasserfall hinauskatapultierte, ihn ohne Wiederkehr auf den Grund des Flusses beförderte. Der stramme Koi, sein einstiger Konkurrent, war gescheitert.