Eintreffen an der Mündung


„Hindernisse und Schwierigkeiten sind Stufen, auf denen wir in die Höhe steigen.“
Friedrich Nietzsche


Tristan hatte beschlossen, bei Abby zu bleiben. In der Schildkröte und der Krebsfrau hatte der kleine Karpfen Freunde gefunden, was ihn unfassbar glücklich machte. Wer hätte ahnen können, dass eine kurze Zeit des Kennenlernens derart intensiv zusammenschweißte? Ehe er aufgebrochen war, hatte Kai den neugewonnenen Kumpanen jedenfalls versprochen, sie alsbald besuchen zu kommen. Inzwischen durfte er die Begleitung eines weiteren, durchaus überraschenden Freundes genießen: Oscar.
Je länger das ungleiche Gespann sich dem Strom entgegenstellte, desto besser verstanden sie sich. Ein Dritter konnte ihre Bindung als intensiv kameradschaftlich betiteln. Warum das so war, erschien plausibel. Mit jedem zurückgelegten Kilometer erreichten die unterschiedlichen Abschnitte der Wegstrecke höhere Schwierigkeitsgrade. Verschieden starke Strömungen behinderten das Vorwärtskommen, teilweise undurchsichtiges, gelbes Wasser trübte die Sicht, wechselwarme Temperaturen ließen zunächst frösteln, dann schwitzen. Oft verließ den kleinen Karpfen der Mut. In jenen Situationen stand Oscar ihm zur Seite, baute ihn auf. Zum Ausgleich lauschte Kai den lieben langen Tag die Geschichten des einstigen Rüpels. Zuhören bewirkte Wunder. Es war, als redete sich der Kraken eine Last von der Seele. Er beichtete seine Vergehen, leistete Buße, indem er Gutes tat, nämlich selbstlos einen Schwächeren zu beschützen. Oder vielmehr, den wankelmütigen Geist in des Schwächeren Innern zu bestärken. Gegenseitig spendeten sie sich Trost und sprachen einander Mut zu. Wasserblase für Wasserblase kamen sie voran.
Nicht allein ihr Verhältnis zueinander veränderte sich, sondern auch die Sichtweise von ihrer Umwelt auf sie. Faktisch steckte in so manchen Redewendungen bedeutende Wahrheiten. Unter anderem in folgenden Weisheit: „Sei gerade zu den Menschen immer freundlich, die unfreundlich zu dir sind. Denn genau diese Menschen sind es, die Freundlichkeit am nötigsten haben.“ Exakt dieser Lehre folgten Kai und Oscar. Vorher hatten regionale Flusstiere sie mit Ignoranz, gar Ablehnung gestraft. Inzwischen offen für das Leben ihrer Umgebung geworden, reagierte es ebenso gelöst. Vereinzelt erntete das Duo kritische Blicke. Wer sah schon einen Koi und einen Kraken auf gemeinsamer Kreuzfahrt? Die meisten Flussbewohner sowie der überwiegende Anteil der Reisenden wirkten interessiert und erwiesen sich als kontaktfreudig. Dutzendmal unterbrachen die Abenteurer ihren Marsch, um Small Talk oder lockeren Plausch mit Entgegenkommenden zu führen. Bei diesen Gelegenheiten erfuhr Kai Wichtiges. Hauptsächlich, dass die Abneigung der Bewohner seines Teiches auch an ihm gelegen hatte. Denn hatte er sich seinen Mitbewohnern je wahrhaftig geöffnet? Etwa Ihnen die Gelegenheit gegeben, ihn kennenzulernen? Nein, das hatte er nie getan. Wieso war er verwundert gewesen, von ihnen ausgegrenzt worden zu sein? Letztlich hatte er zu keinem alternativen Ergebnis beigetragen. Er war zu keinem Zeitpunkt ein Opfer gewesen, er hatte sich zu einem gemacht und sich in seinem selbst geschaffenen Elend gesuhlt. Dem, das schwor er nun, wollte er ein Ende setzen. Obendrein rückte ihm eine tiefe Erkenntnis ins Bewusstsein. Ob er das Drachentor fand oder auf seiner Suche scheiterte, war unerheblich. Ja, das Ende beeinflusste das Ergebnis marginal. Ausschlaggebender war die Reise, der Weg, und das, was er im Verlauf lernen durfte. Zudem natürlich, welche tollen Charaktere er kennengelernt hatte plus kennenlernen würde. Das Aha-Erlebnis rührte ihn, trieb ihn gleichzeitig an. Wegen seines stetig wachsenden Enthusiasmus schätzte Oscar ihn wert. Ihre Zeit verbrachten der Koi-Karpfen und der Kraken in Harmonie, Freundschaft und dem Schaffen großartiger Erinnerungen, die sie ein Leben lang bereicherten. Die Schönheit allen Seins entsprach dem höchsten Gewinn.
Einmal endet jeder Moment. Schneller dann, sobald er in Gesellschaft wertvoller Freunde verbracht und durchgehend von Freude erfüllt wird.
Zwischen Tianjin und der Halbinsel Shandong erreichte der Fluss Huáng Hé einen Randbereich des Gelben Meeres. Dort mündete er in den Golf von Bohai. Wie viele Wochen, gar Monate seit seinem Aufbruch vergangen waren, konnte der kleine Karpfen Kai kaum schätzen. Plötzlich war er angekommen. Woher er wusste, angekommen zu sein? Eben noch waren Oscar und er einem undurchsichtigen Pfad in schmutzigem, gelbem Wasser stromaufwärts gefolgt, da erfasste eine Strömung die beiden und transportierte sie an die Oberfläche. Die Wucht hinter dem Verwirbeln schüttelte die Ärmsten durch. Auf ihrem Weg hatten sie des Öfteren ihre Köpfe herausgestreckt – nur eben nicht auf solch brutale Weise, und – meistens an sonnigen Nachmittagen. Wunderbar warm, dabei erfrischend, hatten sich die Sonnenstrahlen angefühlt. Jetzt empfing kein Sonnenschein die Badenden. Das dargebotene Bild raubte Kai den Atem. Vor ihm ragte nichts weniger auf, als ein monströser, Ehrfurcht gebietender, in prächtiges Türkis getauchter, silbern glitzernder Wasserfall. Das Monstrum einer Wasseransammlung blieb nicht das alleinige Indiz. Mit einem nicht ins Gewicht fallenden Abstand voraus, stierte Kais Konkurrent in die Höhe, wägte sorgfältig seine Chancen ab. Hatte er es bis hierher also geschafft? Natürlich! Immerhin hielt er den Titel des Superkarpfens. Magnus’ Fischmaul öffnete und schloss sich. Scheinbar brabbelte er unverständiges Zeug vor sich hin. Neben ihm hörte der kleine Karpfen jedoch nur eine Stimme, die seines Weggefährten. Die letzte Bestätigung, den Zielort erreicht zu haben und seinen Traum in greifbarer Nähe zu wissen, eröffnete Oscar ihm. In Ehrfurcht und Kameradschaft flüsterte er Kai zu: „Geh! Gib dein Möglichstes! Greif nach den Sternen! Ich werde hier unten bleiben und auf dich warten. Und falls du fällst, sei unbesorgt. Ich werde dich auffangen, mein Freund!“