Nicht aufgeben
„Man muss eine Aufgabe vor sich sehen und nicht ein geruhsames Leben.“
Leo Tolstoi
In einer Hinsicht hatte Oscar sein Ziel erreicht. Gewiss war Kai die Flucht samt ordentlicher Standpauke gelungen, doch hatte der Kraken ein Gefühlschaos in seinem kleinen Herzen verursacht. Turbulent wie eine Achterbahn fuhren seine Gemütszustände nun Amok. Mut, Freude über den errungenen Sieg und seine Freiheit, Stolz wegen seines gewagten Aufbruchs kämpften mit Angst vor dem Unbekannten, Zweifeln an seiner Stärke und Unsicherheit hinsichtlich seines Weges um die Vorherrschaft. Manchmal bezwang seine optimistische Seite den Pessimismus. Weit öfter aber, unterdrückten die schlechten, negativen Gedanken alles Gute in ihm. Je weiter er schwamm, desto härter fochten die Gefühlslagen miteinander und desto schlimmer fühlten seine inneren Kämpfe sich an. Übernahmen seine Motivation, sein Streben nach dem Erreichen seines Ziels die Führung, glitt er behände durch das Wasser, überwand die stetigen Stromschnellen, schöpfte Kraft aus seinen Tagträumen. Kontrollierten Furcht, Versagensangst, davon hervorgerufenes Schamgefühl plus Selbstzweifel sein Bewusstsein, reagierte sein Körper mit Herzrasen und Zittern. Daraus resultierende Konzentrationsprobleme stellten ihn wiederholt vor die Herausforderung, sich nicht plötzlich in einem Nebenstrom zu verlieren. In einem dieser Momente, als er verzweifelt versuchte, die Orientierung zu bewahren, schickte der Himmel ihm ein Zeichen. Genauer gesagt, vernahm er einen Hilferuf. Kai folgte dem grässlichen Geschrei. Ungefähr 50 Meter nordöstlich seiner vorigen Position krabbelte ein Krebs über die Kiesel des Flussbodens. Mehr oder weniger. Wie sich herausstellte, war die rechte Schere zwischen Gehölz eingeklemmt, weshalb das rote Krebstier kaum von der Stelle kam.
Kurz haderte der Koi, ob er dorthin schwimmen und helfen sollte. Auf seiner bisherigen Reise war er bislang ignoranten, an seiner Person wenig interessierten Flusstieren begegnet, die ihres Weges geschwommen waren, zudem einer Möwe, die ihn hatte auffressen wollen, sowie einem, ihn niedermachendem Kraken. Kurzum konnte er bislang keine angenehmen Begegnungen zählen. Warum sollte diese hier anders verlaufen?
Schon beabsichtigte er, einfach vorbeizuziehen – immerhin hatten dies alle vor ihm getan – und die arme Seele sich selbst zu überlassen, da überkam ihn das schlechte Gewissen. Zu Recht, wie er im Nachhinein dachte. Seine Mitteichbewohner hatten ihn ausgegrenzt, im Fluss umherstreifende Passanten hatten sich keinen Deut um ihn geschert. Er war auf eine überschaubare Menge von wenigen Individuen unter zig Tausenden getroffen, die es schlecht mit ihm gemeint hatten. Keinesfalls also durfte er seine Umwelt mit derselben Ignoranz strafen! Und so entschied Kai, ein guter Fisch zu sein. Postwendend kehrte er um. Flugs schwamm er eine Kurve, tauchte einige Meter tiefer, bis knapp oberhalb des Flussbodens. Eifrig, dennoch vorsichtig, paddelte er auf den sich abmühenden Krebs zu. Dieser bemerkte den Karpfen erst, als er vor seiner Nase auftauchte. Sofern man Krebse bezichtigen konnte, eine Nase zu besitzen. „Huch“, entfuhr dem Roten. Anhand der Stimme erkannte Kai, dass es sich um eine „sie“ handelte. Sie schreckte zurück, was eine leichte Verschiebung des Gerölls zur Folge hatte. „Wieso läufst du um den Schutt herum?“, fragte Kai die offensichtlich überforderte Krebsin, „sinnvoller ist es doch, ihn mit deiner freien Schere zur Seite zu schieben und die eingeklemmte zu befreien?“ Große Glupschaugen starrten ihn an. Nach etwas über zehn Sekunden entfuhr ihr ein Seufzer. Leidend berichtete sie: „Meinst du, auf die Idee wäre ich nicht gekommen? Schau dir meine linke Zange an. Sie ist halb gebrochen, deshalb schwächlich und völlig nutzlos!“ - „Wie hast du das denn angestellt“, interessierte Kai. Dass seine Frage möglicherweise unangemessen wirken könne, hatte er im Vorfeld mitnichten bedacht. Zu seinem Glück verstand die Krebsfrau seine Neugierde, befriedigte sie sogleich. Mehr oder weniger. Zunächst heulte sie los. „Schnief, schnief“, entfuhr es ihr, „meine Beute! Sie ist mir entwischt! Eben jagte ich ihr noch nach – zack – landete ich vollständig im Gestrüpp! Etwas annähernd Blödes passiert mir ständig! Wenn ich mein Essen verfolge, gerate ich in einen Tunnel. Der berühmte Tunnelblick, falls dir der Begriff geläufig ist?“ Aus höflichem Anstand nickte Kai. „Meinen Körper schaffte ich, zu befreien“, fügte die Rote hinzu, „dabei stellte ich fest, mir die Schere gebrochen zu haben.“ Sie wackelte mit ihrem Leib, trampelte mit ihren dünnen Beinchen auf dem Boden herum, um ihm zu beweisen, wie schlaff ihre Linke herunterhing. Damit er ein besseres Bild gewann, trieb Kai ein Stückchen aufwärts. Zwischen teilweise mit Dornen gespickten Hölzern waren schwerere Steine sowie leichtere Kiesel, dazu eine Wenigkeit an Treibgut verheddert. In dem genannten Arrangement klemmte die Schere. Recht ungünstig, wie Kai feststellte. Ihn durchzuckte ein Gedanke. Wie sie sagte, war sie zunächst komplett gefangen gewesen. Abgesehen von ihrem angebrochenen Körperteil wies sie keine Verletzungen auf. Glück im Unglück, konnte man behaupten. Sofern Kai die Situation richtig einzuschätzen vermochte, würde es ihm nicht gelingen, die Krabbe im Alleingang zu befreien. Seine Körperkraft wäre der Aufgabe nicht gewachsen.
Während die Krebsfrau verzweifelt auf dem Boden herumturnte, flitzte der Karpfen ein Stückchen stromabwärts. Gewissermaßen in die falsche Richtung, bemessen an seinem Ziel. Um der Dame in Not zu helfen, wollte er keine Zeit verlieren, stromaufwärts täte er dies allerdings. Außerdem war er kürzlich an einer seichten Stelle vorbeigekommen. Auf Felsplateaus außerhalb des Wassers hatte er Leben wahrgenommen. Vielleicht folgte ihm das Glück und er fand eine helfende Flosse? Am betreffenden Ort reckte er das Köpfchen hinaus. Eine windige Brise hieß ihn an der Oberfläche willkommen. Und tatsächlich! Die Viere von sich gestreckt, räkelte sich eine Schildkröte im Schein der aufsteigenden Sonne. Schlagartig verharrte sie und rührte sich nicht mehr. Ihr grün und braun gestreifter Panzer wirkte versteinert. Dann begann sie, zu schnarchen. Energisch genug, um auf sich aufmerksam zu machen, gleichermaßen behutsam, um die Schlafende nicht zu erschrecken, rief Kai: „Schildkröte! Bitte, liebe Schildkröte!“ Einen letzten Schnarcher ausstoßend, erwachte das Wassertier. „Huh?“, kam aus einem schmatzenden Maul inmitten eines weichen Gesichts mit freundlichen Zügen und warmen Augen, „wer spricht?“ - „Bitte!“, flehte Kai, „meine Freundin, die Krabbe, hat sich eine Schere eingeklemmt. Ohne Hilfe kann sie die nicht befreien!“ Wenige Sekunden dauerte es, bis die Angesprochene das Gesuch verstanden hatte. Danach erhob sie sich, ganz und gar nicht langsam, platschte ins Wasser und rauschte dem dankbaren Koi hinterher. „Danke sehr!“, sagte er, „ich bin übrigens Kai. Nenn mich Kai.“ - „Tristan“, stellte sich der Schildkröterich vor. Wie es schien, verfügten Tristans Schwimmzüge über größere Kraft. Bald überholte er den Fisch. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht, bot er ihm an, sich an seinem Panzer festzuhalten. Erleichtert nahm der kleine Karpfen das Angebot an. In Windeseile gelangte das Duo unter Kais Anweisung zur Stelle, an dem die Krebsin nun vor Verzweiflung weinte. Damit hörte sie auf, als sie die nahende Unterstützung erblickt hatte. Über dem Schutthaufen schwebend, klärte Kai Tristan über die Bestandteile der einzelnen Partien auf. Zudem diktierte er ihm, wie er welches Teilchen zu schieben hatte. Auch die Krabbe lauschte seinen Vorschlägen. Auf Kais Ratschlag hin bewegte sie sich rechts und links. Nach ungefähr viereinhalb Minuten war das Unterfangen geschafft und ihre Schere befreit! „Oh, meine Freunde!“, schniefte sie freudestrahlend, „ich danke euch!“ Mindestens genauso glücklich über das Geschaffte, sank Kai auf den Grund des Flusses, wo er im Sand erschöpft zusammenbrach.
Wie lange er schlief, hätte er selbst nicht beurteilen können. An einem Punkt erwachte er, zunächst unsicher darüber, wo er sich befand. Schnell erblickte er vertraute Gesichter. „Kai, du bist bei dir!“, sagte Tristan erfreut. Im Beisein der Krabbe machte er sich über einen beträchtlichen Haufen Plankton her. „Komm!“, schlug die Krebsfrau vor, „gesell dich zu uns! Das Abendbrot reicht für uns drei!“
Noch etwas zittrig auf den Flossen, überbrückte der Karpfen die kurze Distanz. Wie ausgehungert er war, bemerkte er erst, als er die ersten Bissen zu sich nahm. Inzwischen verriet die Gerettete ihm ihren Namen. Abby, so hieß sie.
Im Verlauf ihres Mahls plauderten sie über dies und jenes. Unter anderem berichtete Kai von seiner Reise, hauptsächlich, welche Strapazen er hatte auf sich nehmen müssen. Fasziniert von seinen Erlebnissen, klebten seine Tischgenossen ihm an den Lippen. Buchstäblich.
Da er eine Gesellschaft dieser Art nicht kannte, genoss der kleine Karpfen die Geselligkeit. So sehr, dass er sich beinahe wünschte, nie wieder fortzugehen. Wohl war Abby imstande, Gedanken zu lesen. Nur einen Moment später legte sie ihm nahe: „Bleib hier!“ Erstaunt über ihren Vorschlag, blitzte er. Derweil fügte sie hinzu: „Vor einiger Zeit trennte ein starker Strom meine Freunde und mich voneinander. Seither lebe ich völlig isoliert. Ich vermisse Verbündete! Magst du mein Mitbewohner werden? Hier, in meiner kleinen Höhle im Sand, finden wir Platz!“ - „Auch für mich?“, fragte plötzlich Tristan und fügte hinzu: „Seit meiner Scheidung von Ehegattin Nummer zwei bin ich solo unterwegs.“ Begeistert von der Idee einer möglichen Dreier-Wohngemeinschaft nickte Abby. Ihr gegenüber wurde Kai still. In der Tat, die Verlockung entwickelte sich von einem lauen Lüftchen zu einem Sturm. In Kais Fischherzchen tobte nun also dieser Orkan. Einerseits quälte ihn das Verlangen, Freundschaften zu schließen, andererseits sein Streben nach dem Erreichen seines Ziels. Einmal wollte er etwas Großes vollbringen. Wiederum zehrte das Reisen an seinen Kräften. Er war ein kleiner Karpfen, ja ein unbedeutender Fisch, aus einem kaum wahrgenommenen Teich. Wieso, wenn die Belastung seine Lebenskraft aussaugte, die Anstrengung seinen Willen stahl, sollte er die Tortour fortsetzen? War es nicht sinnvoller, klein beizugeben, den bisherigen Erfolg als solchen anzuerkennen?
Aufgeben war leicht. Mit jedem vergehenden Moment schmeichelte der Gedanke an ein sorgenfreies, an ein einfaches Leben seiner Seele. Er erwog, einzulenken, bei seinen neuen Bekannten Abby und Tristan zu bleiben. Das Schicksal hatte anderes im Sinn.
Aus der Dunkelheit – im wahrsten Sinne, denn ausserhalb dämmerte die Nacht – erschien ein Freund. Zur Öffnung von Abbys Sandbau reckte ein altbekanntes Gesicht seinen Kopf hinein. Da die Erscheinung urplötzlich und ohne Vorankündigung auftauchte, erschraken Fisch, Krabbe und Schildkröte bis ins Mark. Schützend zog Tristan seinem Kopf in den Panzer zurück, Abby dagegen machte Anstalten, den Eindringling zu attackieren, ihr Zuhause zu verteidigen. „Warte“, bat Kai. Sekündlich stoppte die Hausherrin ihren Angriff.
Überrascht vom Auftauchen des Flussbewohners, mit welchem er am wenigsten gerechnet hatte, blinzelte Kai mehrfach. Ganz so, als ob er den Schatten aus seinen Augen vertreiben wollte. Unsicher und neugierig zugleich ging er sicher, richtig zu sehen. „Oscar?“ - „Der einzig Wahre!“, erhielt er zur Antwort. „Was treibt dich hierher?“, äußerte der Koi nichts ahnend. Faktisch verwirrt zeigten sich Tristan und Abby. Untereinander tauschten sie Blicke. Seelenruhig hingegen präsentierte sich der einstige Rüpel. Ein verschmitztes Lächeln in seinem Krakengesicht verkündete er: „Ich komme, mein Freund, um dich abzuholen! Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Weil ich gemein zu dir war, du mich in der Tat beeindruckt hast, will ich dir helfen!“
Somit benötigte Kai keinen Entschluss zu fassen. Ihm wurde die Last, eine Entscheidung zu treffen, abgenommen. Mit Güte hatte er den vorher miesepetrigen Kraken zum Besseren bekehrt. Jetzt wurde sein Mut belohnt. Damit, dass ihm ein Freund zur Seite stand.