Hindernisse überwinden


„Hindernisse überwinden, ist der Vollgenuss des Daseins.“
Arthur Schopenhauer


Kaum hatte sich sein Herzschlag nach der nervenaufreibenden Flucht beruhigt, pochte es erneut wie wild. Gründe hierfür fanden sich in den über ihn kommenden Stromschnellen. Die Quelle des Gelben Flusses in Tibet hatte Kai lange hinter sich gelassen, der Flusslauf führte nun in östliche Richtung durch ein gewundenes Gebirgstal. Alsbald erreichte er die Grenzen der Inneren Mongolei. Wegen des zum Teil erhöhten Gefälles, etwaiger Untiefen und standortbasierter Verengungen, welche zum Teil durch Blöcke oder Felsriegel gebildet worden waren, flossen einige Laufabschnitte des Huáng Hé reißend. Ebendiese nannte der Experte Stromschnellen. Zu Recht trugen sie ihren Namen. Stieg die Geschwindigkeit des Wassers in solchen Gebieten stark an, schoss es förmlich seinen Weg entlang. Stromschnellen. Sie erschwerten dem kleinen Karpfen Kai das Vorwärtskommen. Mühselig bahnte er sich einen Pfad hindurch. Dabei machte ihm nicht allein der Gegenstrom zu schaffen. Ein Gesteinssediment, bekannt als „Löss“, dessen Bestandteile sich aus Schluff und Karbon zusammensetzten, erzeugte die gelbliche Färbung des Wassers. Nicht umsonst trug das Fließgewässer den Namen „Gelber Fluss“. Zum Teil behinderten undurchsichtige Wegstellen Kais Sicht. Auf seiner weiten Reiseroute fiel es ihm schon schwer genug, den richtigen Flusslauf zu bestimmen. Ohne Weitsicht gestaltete sich sein Unterfangen als schier unmöglich. Und trotz körperlicher Erschöpfung, unzähliger Hindernisse und wachsender geistiger Leere hielt er durch. Während manche Reisende um Rat gefragt hätten, war Kai einer geraumen Zeit keiner Seele mehr begegnet. Lag dies an seinem getrübten Blick? Womöglich verirrten sich keine klugen Fische hierher, in unwirtliches Terrain.
Am Abend eines weiteren vergangenen Tages passierte er die mongolische Grenze. Natürlich wusste er das nicht. Er gelangte in eine Gegend, wo das Flussbett tiefer wurde. Jäh spürte er hinter sich eine Regung. Erschrocken fuhr er herum. Ein neuerliches komisches Tier schwebte vor ihm im Wasser. Es besaß eine sackartige Kopf-Körper-Form. Aus Kais Sicht ließ sich der Kopf nämlich nicht vom Körper unterscheiden. Beides war eine Masse. Eine weich erscheinende Masse. Zudem hielten acht Arme – oder Beine? - seinen Leib aufrecht. Bedrohlich daran wirkten die als Ringe getarnten Saugnäpfe. „Was bist du denn?“, fragte Kai neugierig. Unheimliche Linsenaugen beäugten ihn. „Ich“, antwortete es nach einer Weile, „bin ein Kraken, mein Name lautet Oscar.“ - „Ich heiße Kai. Was ist ein Kraken“, hinterfragte er. Der Kraken begann, Kreise um ihn zu ziehen. Erst nach Ablauf einer geschlagenen Minute erbarmte sich dieser einer Antwort: „Unwichtig. Viel interessanter finde ich die Frage, weshalb ein ungewöhnlich aussehender Karpfen, wie du, sich hierher verirrt hat?“ - „Auf meiner Suche nach dem Drachentor gelangte ich hierher.“ - „Das bedeutet, du befindest dich auf der Durchreise?“, interessierte Oscar. Kontinuierlich umkreiste der Kraken den Karpfen. Seine Tentakel, acht an der Zahl, entfachten Luftbläschen, die an die Oberfläche aufstiegen. Die Art und Weise, auf welche der Achtarmige den Fisch dabei anvisierte, erzeugte in Kai ein mulmiges Bauchgefühl. Der Blick ähnelte dem Daisys, das Verhalten erinnerte an ein, seine Beute umkreisendes Raubtier. Mehr noch weckte er in Kai unschöne Erinnerungen an damalige Ereignisse in seinem Teich, als er von den gleichaltrigen Fischen zum Opfer erklärt und schikaniert, ja regelrecht terrorisiert wurde. Tag für Tag. Gleiches schien der Kraken im Sinn zu haben. Mit einem seiner Tentakelarme stupste er den körperlich Kleineren an. „Wo soll dieses Drachentor liegen?“ - „An der Mündung des Huáng Hé“, antwortete der Karpfen, den geradewegs ein noch mieseres Gefühl beschlich, prompt, „ich muss den Gelben Fluss vollständig durchqueren, also sollte ich keine Zeit verlieren. Ich hoffe, du verstehst das.“ Schon wollte er sich abwenden, der unangenehmen Situation entrinnen, da versperrte ihm ein laut auflachender Oscar den Weg. „Du?“, spie er, „ein schmächtiges Kerlchen, wie du, denkt, einen derart weitläufigen Fluss überwinden zu können?“ Ehe der Jüngere Raum für eine Erwiderung fand, foppte der Ältere ihn stärker. „Schau dich an, Fischlein! Im Vergleich zu Vertretern deiner Rasse ist deine Körperlänge zu kurz geraten! Deine Flossen wirken eingeschränkt, beeinträchtigen wahrscheinlich deine Schwimmgeschwindigkeit? Habe ich nicht recht?“ Kai schwieg bedrückt. Beschämt starrte er auf Richtung des Flussbodens. Ja, Oscars Unterstellungen trafen zu. Er wusste es, der Kraken auch. Letzterer zählte munter sämtliche Handicaps des Ersteren auf: „Deine Schuppen schauen leer, wahrlich nach nichts aus. Kein schönes Farbmuster ist darauf erkennbar. Mit deinen kugligen Knopfaugen wirst du kaum einen Zentimeter weit sehen! Und Bartfäden sucht einer in deinem Gesicht vergebens!“
Was dem armen Koi nicht geläufig war, Oscar unterhielt den Ruf der gemeinste unter seinesgleichen zu sein. Im Umkreis mieden sowohl seine Artgenossen als auch die einheimische Flussbevölkerung ihn. Selbst Verwandten gegenüber verhielt er sich gönnerhaft. „Schikane“ zählte zu seinen liebsten Worten. Erniedrigte er sein Umfeld, fühlte er sich mächtig. Ableger seines herablassenden Geschwätzes durfte Kai momentan erfahren. Ab einem gewissen Punkt starrte der kleine Koi in die Leere, während sein Gegenüber engere Kreise um ihm herum zog und dabei alles an ihm kritisierte, ihm darüber hinaus zahlreiche Gründe darlegte, weshalb er sein Ziel niemals würde erreichen können. Gleichzeitig umwickelten die Tentakel seinen zitternden Leib, ihre Saugnäpfe zerrten an seinen Schuppen. Oscar hatte ihn gefangen genommen. Er gab seine Beute erst wieder frei, nachdem er ihre Moral vollständig zerstört hatte. Getreu dieser Leitlinie lebte er. Indem er seine Opfer demoralisierte, erstarkte er. Doch dann geschah etwas. Mit Kai. In Kai. Obgleich jung und unerfahren, befiel ihn eine Weisheit, über die gewöhnlich die Alten verfügten. Plötzlich rückte ihm eine Erkenntnis ins Bewusstsein. Oscars Verhalten legte nahe, dass der Kraken in der Vergangenheit möglicherweise selbst das Opfer von Schikanen geworden war. Eventuell hatte er keine oder nur wenige Freunde, vielleicht auch keine ihn liebenden Eltern gehabt? Traf eine der Vermutungen zu, unter Umständen mehrere, sollte Kai keine Angst empfinden, eher Mitgefühl. Letztlich verbanden solche Erfahrungen, welche dieselben waren, sie miteinander. Als das Tier mit dem weichen, sich im Strom des Wassers biegenden Kopf vor ihm auftauchte, sah Kai ihm in die klugen, dennoch Furcht erregenden, genauso einsamen Augen. Sein Blick zeigte Verständnis. Eine Art des Verstehens, die Oscar überrumpelte. Worte schienen unnötig zu sein. Die Saugnäpfe lösten sich von den Schuppen, Kai konnte atmen. Ohne genauere Details über seine Vergangenheit zu wissen, sagte er zu Oscar: „Es tut mir leid, was dir widerfahren ist.“ Jedes Wort war wahr. Kaum zeigte das Gesagte Wirkung, lockerte sich die Umklammerung. „Auch, wenn ich nachvollziehen kann, welche Auswirkungen Ausgrenzung und Einsamkeit haben, sie geben dir nicht das Recht zur Grausamkeit.“ In seinem Leben hatte Kai nicht oft Mut aufgebracht. Einer der Momente, war jetzt. „Du solltest schlauer agieren als die Tiere, die gemein zu dir waren. Sei besser als sie. Nicht fieser.“ Er erkannte es in Oscars Augen, innerlich zerbröckelte eine Mauer. Hoffend auf eine verheißungsvollere Zukunft für seinen Seelengefährten wider Willen, erklärte Kai abschließend: „Was mich betrifft, liegst du mit manchem richtig. Mein Körper mag schwächlich erscheinen. Umso stärker leuchtet mein Wille! Sieh zu, wie ich die Mündung erreiche und zum Drachen werde!“ Geschmeidig entwand er sich dem losen Griff des Kraken, schwamm eifrig davon, schaute sich nicht um. Hinter ihm blieb Oscar zurück. Beeindruckt von der Begegnung, wünschte er seinem Freund, dem Karpfen, eine gelungene Reise.