Hürden meisten
„Wer noch nie einen Fehler gemacht hat, hat noch nie etwas Neues ausprobiert.“
Albert Einstein
Kurz nachdem er aufgebrochen war, hielt Kai inne. Wohl überlegt, war sein Aufbruch nicht gewesen. Er blickte um sich, kreiste auf der Stelle und suchte Antworten auf ihn einströmende Fragen. In welcher Richtung lag die Mündung? Wohin sollte er schwimmen? Wie konnte er sicher gehen, keinen Fehler zu machen und versehentlich einen Nebenfluss zu erwischen?
Was hatten die Alten gleich gesagt, worin die Schwierigkeit beim Finden des Tors lag? Kai meinte sich zu erinnern. Der Grund, weshalb die überwiegende Anzahl an Karpfen auf ihrer Reise scheiterten, war die beschwerliche Route. Denn, er führte stromaufwärts. Stromaufwärts! Das war die Lösung! Es galt, sich gegen die Strömung einen Weg zu bahnen. Seinen Weg.
Mit neuem Mut machte er sich auf.
Abseits seiner Heimat erlebte er eine völlig neuartige und farbenfrohe Unterwasserwelt. Schon nach kurzer Zeit erblickte er Pflanzen und Flusstiere, die er nie zuvor hatte sehen dürfen. Ausschließlich Karpfen hatte Kai bislang kennengelernt. Meeresalgen kitzelten seine Flossen, er bestaunte Kopffüßer und verschiedene Krebse. Fischschwärme, bestehend aus kleineren Fischen, kleiner sogar als er es war, zogen Kreise um ihn. Pausen erwiesen sich als essenziell für den kleinen Karpfen. Die Belastung durch ein permanentes Vorwärtsschwimmen, hauptsächlich gegen den Strom, erschöpften bald seine körperliche Kraft. Um frische Energie zu tanken, rastete er. Derweil orientierte er sich bestmöglich. Manche Tiere fragte er nach dem Weg. Er wollte sichergehen, sich noch auf dem Hauptfluss zu befinden, nicht in einen Nebenstrom abgebogen zu sein. Zu seinem Pech gaben ihm die Befragten keine verwertbare Auskunft. Fische schwammen nicht stromaufwärts. Von den hiesigen Einheimischen hatte noch keiner die Mündung des Huáng Hé leibhaftig zu Gesicht bekommen. Kai hoffte auf ein wenig Glück. Hatte er ausreichend gerastet, paddelte er weiter. Unterwegs beschaffte er sich seine Nahrung. Insektenlarven sowie tierisches Plankton dienten ihm zur Mahlzeit. So weit, so gut.
Tage und Nächte strich ins Land. Der Abenteurer schwamm, fraß, rastete, schwamm, fraß, schlief, dann wiederholte sich das Ganze. Konstant entfernte er sich von seinem einstigen Zuhause, permanent veränderte sich seine Umgebung. Ab einem gewissen Zeitpunkt zählte er die dahinschwindenden Wochen nicht länger. Die Orientierung, welche er versucht hatte, beizubehalten, verlor er endgültig. Seit einer Weile wusste er nicht mehr, wo er sich befand und ob er jemals zurückfinden könnte. Als ob er das gewollt hätte! Nahrung fand er reichlich. Verhungern würde er kaum müssen. Was ihn besorgte, war das Nachlassen seiner Ausdauer. Täglich legte er größere Pausenblöcke ein. Vor Erschöpfung ausgestoßene Luftbläschen drangen aus seinem Maul an die Wasseroberfläche. An einer besonders seichten Stelle blickte er hinauf zum Himmel. Fasziniert bestaunte er die goldgelbe Sonne. Sie warf warme Strahlen hinunter auf den Fluss. Kais Schuppen leuchteten. Zeitgleich empfand er das Gefühl auf seiner Haut als wohltuend. Jäh erhaschte ein Schatten seine Aufmerksamkeit. Neben seiner Position landete eine weiße Gestalt, setzte ihren üppig genährten Körper auf einen aus dem Flussbett ragenden Stein. Neugierig geworden, reckte er sein Köpfchen aus dem Wasser. „Hallo, kleiner Fischjunge“, sprach das gefiederte Etwas. Unfähig es einer Tierart zuzuordnen, antwortete der Karpfen aus Höflichkeit: „Einen schönen guten Tag wünsche ich!“ - „Was treibt ein einzelner Karpfenfisch, wie du, hier draußen so allein? Du bist doch allein unterwegs, oder?“, wollte die Dame wissen. Offensichtlich handelte es sich um eine solche, ihrer Stimme nach zu urteilen. „Ich befinde mich auf der Suche nach dem goldenen Drachentor“, erklärte Kai, „weißt du, wo es liegt?“
Unter Zuhilfenahme ihrer seltsam aussehenden Flosse, deren Oberfläche Federn anstatt Schuppen zierten, kratzte sich die Landbewohnerin am Kinn. „Drachentor“, säuselte sie, wiederholte das Wort, glotzte dabei gen Himmel. „Keinen Schimmer. Nie davon gehört.“ - „Schade!“, seufzte der Karpfen, enttäuscht über seinen Misserfolg, „danke trotzdem. Auf Wiedersehen!“ Gerade wendete er sich ab, da hielt ihn das Federvieh auf. „Warte, warte, warte! Verrate mir, der in vielerlei Hinsicht gebildeten Daisy, in welcher Richtung du deine Suche fortzusetzen gedenkst. Vielleicht kann Daisy dir helfen?“ Eine Spur hoffnungsvoller blickte Kai hinauf. „Angeblich erscheint es, wenn ich die Mündung des Huáng Hé erreicht habe. Meine Befürchtung ist, dass ich mich in einem Nebenfluss verirre.“ - „Die Mündung, huh?“ Sie legte ihren Kopf schief, ein Grinsen erschien auf ihrem Maul, das einem Schnabel gleichkam. „Wie wäre es, dreh dich einmal um und mach ein paar Schwimmzüge vorwärts. Da vorn, wo das Wasser nicht ganz so seicht ist, der Boden mit seinen spitzen Steinen nicht ganz so nah, dort zeige ich dir, wohin du schwimmen, auf welchem Pfad du bleiben musst. Vertraue mir.“ Eifrig nickte der kleine Fisch. Geblendet von der Sonne, erkannte er den gierigen Blick der Möwe nicht, die in ihm nur ihr nächstes Mahl sah. Naiv in seinem Bestreben trieb auf die tiefere Wasserstelle zu. Hinter ihm erhob sich der Raubvogel in die Lüfte. Im Spiel des Windes glitt sie dahin, bis ihr Körper sich direkt über seinem befand. Sobald er das seichte Gewässer verlassen hatte, verschwand Daisys Schatten, verschluckt vom Blau der Tiefe. Darauf hatte die Möwe abgezielt. Seelenruhig wartete sie auf die perfekte Gelegenheit, zuzuschlagen. Ergeben würde sie sich spätestens, wenn das Fischlein verharrte, um ihren Rat anzuhören. In Erwartung ihres Snacks sammelte sich Speichel, der aus ihrem Schnabel tropfte. Diese natürliche Reaktion rettete der Beute das Leben. Aus den Augenwinkeln bemerkte Kai die vibrierende Wasseroberfläche, ausgelöst von den herab fallenden Speicheltropfen. Noch rechtzeitig stierte er hinauf zu seiner Wegbegleiterin. Daisy befand sich im Sturzflug, bereit, zuzuschlagen. Für einen Moment setzte Kais Herzschlag aus. Seinem Instinkt nachgebend, tauchte er so schnell und so tief er nur konnte. Um Haaresbreite verfehlte der Vogelschnabel sein Ziel, der Karpfen spürte die Spitze schon an seiner Schwanzflosse. Zumindest glaubte er das. Unbeeindruckt schlug Daisy mit ihren Flügeln, erhob sich galant in die Höhe. Anschließend attackierte sie erneut. Geschwind huschte der Verfolgte in ein Gestrüpp aus Algen, versteckte sich zwischen aufgebahrten Felsbrocken. Er harrte aus, minutenlang. Oberhalb zog die Möwe ihre Kreise. Appetit verleitete Daisy, auf die Flucht des Fisches zu setzen. Kam er hervor, gäbe es weit und breit kein besseres Versteck. Bei ihrer Hatz zeigte sie Ausdauer. Bis in die Abendstunden hinein spähte sie ihr Mahl aus. Wie sie wand auch Kai all seine Geduld auf. Die Sonne versank hinter dem Horizont. Das Bild wirkte, als würde der Gelbe Fluss den feuerroten Ball verschlucken. Mit dem Sonnenuntergang brach langsam die Nacht an. Mutter Natur gesellte sich auf Kais Seite. Nächtliche Schwärze verbarg den Fisch im Wasser. Nicht länger war Möwe Daisy imstande, ihr Abendessen anzuvisieren. Im Schutz der Dunkelheit verließ Kai das Steingemenge, bahnte sich seinen Fluchtweg durch das Algenarrangement und flüchtete weiter stromaufwärts. Er drückte seine Flossen, dass er die richtige Wegstrecke ansteuerte. Immer gegen den Strom. Einer Möwe namens Daisy würde er in diesem Leben jedenfalls nicht mehr begegnen.