Startschwierigkeiten


„Morgen nennt man den Tag, an dem die meisten Fastenkuren beginnen.“
Gustav Knuth


Beeinflusst durch die eindeutige Kampfansage seines Konkurrenten, hatte Kai die gesamte Nacht über nicht ergiebig geschlafen. Erst am frühen Morgen überwältigte ein unruhiger Schlummer sein Gemüt. Zwar fiel er lediglich in eine leichte Trance, eine von der Sorte, die nicht erahnen ließ, ob man nun wach lag oder träumte, dennoch bemerkte er Magnus’ engste Kumpanen nicht, als sie seinen Schlafplatz aufsuchten. Genauer gesagt, registrierte er ein vorgehendes Treiben, ihm fehlte jedoch eine klare Geistesgegenwart. In seinem augenblicklichen Schwebezustand zwischen Schlafen und Aufwachen unterschied er das Vorkommnis nicht von einem entfernten Albtraum. Leise kichernd, umwickelten drei Jungfische Kais Schwanzflosse mit besonders klebrigen Algen, banden die unterschiedlichen Schlingen zusammen, sodass ein fester Strick entstand. Das Ende knoteten sie an einen Felsen. Unterdessen gab der kleine Karpfen Zuckungen von sich. Tat er dies, hielten die Schergen kurz inne, für den Fall seines möglichen Erwachens. Doch Kai schlummerte weiter. Unerkannt beendeten die Teenager mit Flausen im Kopf ihren Streich.
Die Sonne war aufgegangen, damit der Tag des Aufbruchs angebrochen. Behäbig öffnete Kai seine Augen. Heute sollte es so weit sein, er würde sich auf die Reise machen. Drang der Gedanke erst in sein Bewusstsein vor, begann sein Herz schneller zu schlagen. Zunächst vor Aufregung. Dann versuchte er, seine Position zu verändern, den Schlafplatz zu verlassen. Er konnte nicht. Etwas schnürte seine Schwanzflosse ein, hielt ihn vom Fortkommen ab. Umherblickend suchte er nach der Ursache, fand sie bald in der Ansammlung Geröll. Das Ende des Algenseils verschwand inmitten des sich hinter ihm befindenden Steinhaufens. Ihm drohte gewiss keine Gefahr, der Streich war zu harmlos, trotzdem jagte Kais Puls in eine ihm unbekannte Höhe. Seinen Sinnen beraubt, rüttelte er mit dem ganzen Körper an der Binde. Erfolglos. Er zog, zerrte, probierte in sämtliche Richtungen zu schwimmen. Allmählich verließen ihn die Kräfte. Natürlich mieden die anderen Fische Kai, hielten sich dementsprechend von seinem Schlafplatz fern. Niemanden konnte er um Hilfe bitten, Rufen brachte ihm keinen Erfolg. Ohne eine Wahl zu haben, wurde er ruhig, sein Herzschlag verlangsamte sich. Auf die Weise gelang es ihm, nachzudenken. Er startete einen Neuversuch. Schlauer, als er zuvor gewesen war, entknotete er die Stricke mit seinen Vorderflossen. Das Unterfangen gestaltete sich als schwierig und es dauerte lange. Endlich schaffte er den letzten Knoten. Hunderte Steine fielen von seinem Herzen, die Anspannung von ihm ab. In Freiheit schwamm er davon, einzig, um gleich ein zweites schlechtes Omen an diesem frühlingshaften Morgen zu erhalten. Während er festgesteckt war, war ein ihm wohl bekannter Nachbarjunge längst zu einem Abenteuer aufgebrochen. Aus dem aufgeregten morgendlichen Geplapper der Teichbewohner erfuhr der kleine Karpfen den Klatsch des Tages. Er paddelte von einer Tratsch-Gruppe zur nächsten und tat das, was er am besten konnte: Lauschen. Nun musste er bloß die gehörten Informationen zusammenfügen. Addiert ergaben sie ein eindeutiges Bild. Magnus hatte seine Idee, seinen Plan gestohlen. Und damit seinen Traum.
Entrüstet von der Tatsache, dass der Haudegen aufgebrochen, während er noch festgebunden gewesen war, glitt Kai mutlos durch das seichte Wasser. Der Vormittag siechte dahin. Der kleine Karpfen drehte seine Runden, durchquerte den Heimatteich einige Male. Er überlegte, gar nicht erst loszugehen. Gegen einen schnellen, jedes Wettschwimmenden gewinnenden Magnus blieb ihm keine Chance. Der Superkarpfen würde die Mündung etliche Tage vor ihm erreichen, falls er überhaupt je ans Ziel gelangte. Ebenso würde der Hecht früher das Drachentor finden und passieren. Nein, den Magnus zu einem Drachen werden sehen, das wollte Kai seinem Gemüt nicht zumuten! Sein verbliebenes Quäntchen Selbstbewusstsein, wenn man es so nennen wollte, wäre dadurch endgültig zerstört. In der Manier trauerte der Kloß vor sich hin, brütete und überlegte. Weder gab es einen bestimmten Grund noch einen Auslöser. Plötzlich packte eine immense Wut den kleinen Weißschuppigen. Wut über die Ausgrenzung seiner Person, Wut über die ihm gemeine Streiche spielenden Teenager und Wut über den einen Kerl, der ihm seine bisher einzige Traumvorstellung weggenommen hatte. Aus dem Zorn entflammte ein Wille. Zudem eine Überlegung. Womöglich mochte Magnus zeitiger ans Ende des Gelben Flusses vorrücken. Noch lange hieß dies nicht, dass er imstande war, den Wasserfall zu erklimmen! Ob sein Vorsprung ihm nützte, würde die Zeit zeigen. Jeder Karpfen verdiente eine Chance. Kai inbegriffen.
Ohne auch nur einem Bewohner Bescheid zu geben – ohnehin würde es keinen scheren – begab er sich an die Grenze seines Heimatteiches, wenngleich mit einem halben Tag Verzögerung. Bereit zum Aufbruch, warf er einen kurzen Blick zurück. Keinerlei Wehmut kam auf, seine Erinnerungen waren durchdrungen von Einsamkeit. Rasch schüttelte er aufkeimende Zweifel ab, überquerte die Schwelle vom Teich zum Fluss und betrat das Gewässer des genannten Huáng Hé, ehe er es sich anders überlegte.