Konkurrenz schläft nicht


„Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diese Fehler ausnutzen.“
Kurt Tucholsky


Kais Vorhaben blieb nicht lange geheim. Obwohl der kleine Karpfen eine überschaubare Menge an Worten mit seinesgleichen teilte, machte das Gerücht über seinen möglichen Aufbruch ins Unbekannte rasch die Runde. Gewiss, ein Jüngling, welcher Fragen zu Strömungen sowie den besten Tageszeiten für ein Aufbrechen stellte, fiel auf. Wie es überall auf der Welt üblich war, liebte eine Gesellschaft Klatsch und Tratsch. Vorwiegend in dürftiger beseelten Gemeinden.
So begab es sich, dass Rüpel Magnus am Vormittag vor Kais geplanter Abreise den bleichen Fisch anrempelte und ihn daraufhin zur Rede stellte: „Mir ist etwas zu Ohren gekommen!“ Schüchtern richtete Kai seinen Blick nach unten. Zwischen dicht gewachsenen Algen lugten die Knopfaugen des jüngsten Fischnachwuchses hervor. Mitsamt einer großen Portion Neugier unter den Schuppen beobachteten die Fischjungen das Geschehen. Selbst Zöglinge wussten von dem Grundsatz, sich besser nicht mit dem Magnus anzulegen! „Stimmt es? Du planst, von hier fortzugehen?“, schnatterte der Besagte und weiter: „Versteh’ mich nicht falsch, ich werde dich in keiner Weise vermissen, du Memme. Aber erkläre mir, warum du unseren warmen, sauberen Teich verlassen willst! Sind wir dir zuwider? Glaubst du, erhabener zu sein als wir?“ Zu keiner klaren Aussage fähig, stotterte der um ein einige Monate Jüngere: „Ich …, äh … ich …?“ Was hätte er schon erzählen sollen? Dass er erwog, das mysteriöse Drachentor zu finden, dessen Legende fast vergessen und dessen Sage mitten in der Nacht von Fremden erweckt worden war? Ein Tor, dessen reale Existenz fraglich erschien. Was, wenn Magnus oder einer seiner vielfältigen Anhänger bohren würden? Abgesehen von seiner fixen Idee, seine Heimat zu verlassen und auf gut Glück den Gelben Fluss stromaufwärts zu schwimmen, hatte Kai keine Details, gar Feinheiten ausgearbeitet. Berichtete er dem stattlich gebauten Rüpelfisch von seinem Wunschtraum, würde dieser ihn für verrückt erklären! Andererseits log er nicht. Nie. Sprach er, dann die Wahrheit. Auch dieses Mal. „Ich mache mich auf die Suche nach dem goldenen Drachentor“, wisperte er verlegen. „Wie war das?“ Magnus zog seine Stirn in Falten. Sofern man die Stelle bei einem Fischgetier „Stirn“ nennen konnte. Unsicher, ob er den Satz wiederholen oder lieber schweigen sollte, schloss Kai sein Maul. Als er keine Regung verlautbarte, schrie sein Gesprächspartner in einem Anfall lächerlicher Hysterie: „Habe ich mich eben verhört? Du möchtest zum Drachentor reisen? Dem Irrgespinst aus Geschichten?“ Durch seinen Schrei weckte er die Aufmerksamkeit der Ansässigen. Jung und Alt bildeten einen Kreis, horchten interessiert zu. Derweil schnatterte der Bullige: „Was genau stellt dieses Drachentor deiner Meinung nach dar? Was bedeutet es? Welchen Wert hat es für dich, dorthin zu reisen?“ Ein Greis meldete sich zu Wort. Er war einer aus der Gruppe, die mit den Fremden gesprochen hatte. Das Thema belächelnd und nicht Ernst nehmend, erläuterte er: „Entsprechend der Überlieferung unserer Koi-Vorfahren liegt es am Ende des Gelben Flusses, an seiner Mündung, oberhalb eines schier unüberwindbaren Wasserfalles. Schafft ein Karpfen, es zu passieren, ist er in der Lage, sich zu einem Drachen zu entwickeln.“ Kaum hatte er seinen Satz zu Ende gesprochen, brach schallendes Gelächter aus. Am lautesten lachte Magnus. „Kailein“, hüstelte er, verschluckte sich beinahe an seinem Grölen, „nehmen wir an, dieses Teil existiert, was ich infrage stelle. Wie beabsichtigst du, magerer Kerl, dahin zu gelangen? Du kommst keine 100 Meter weit! Allein!“ Vor Scham liefen Kais weiße Schuppen puterrot an. Doch sein Widersacher war längst nicht fertig. „Davon abgesehen“, quiekte er vergnügt, „einen Wasserfall erklimmen? Du? Ausgerechnet du? Überlege dir, wie lahm du schwimmst! Dir fehlen Konstitution und Kraft!“ Weiterhin schweigend, rührte sich Kai kein Stück. Er fühlte die durchdringenden Blicke der Teichbewohner, registrierte die Anfeindungen gegenüber seiner Person. Niemand mochte ihn. Es war ein offenes Geheimnis. Nachdem seine Elterntiere früh von der Welt geschieden gewesen waren, hatten die Ansässigen ihn lediglich toleriert. Er hatte bleiben dürfen. Das war alles gewesen, der größtmögliche Akt an Freundlichkeit. Schikaniert infolge seines Äußeren, seines offensichtlichen Makels, nicht zur Gemeinschaft gehörend, hatte Kai sein Leben in Einsamkeit verbracht. Weshalb sich also nicht einsam auf den Weg machen? „Ja“, vermeldete er mit erstarkter Stimme und einem Hauch hinzugewonnenem Selbstbewusstsein, „ich werde den Gelben Fluss durchqueren! Erst bei Erreichen des Tors werde ich anhalten! Ich werde es finden! Du wirst sehen!“ Das Aufmucken des Schwächeren verleitete den Stärkeren, für den Bruchteil einer Sekunde zu stutzen. Bislang hatte keiner gewagt, ihm ein Mindestmaß an Gegenwehr zu liefern. Den Affront durfte er nicht auf sich beruhen lassen, Magnus’ makelloser Ruf hätte einen winzigen, trotzdem spürbaren Schandfleck erhalten. Bald fand der Bursche seine Stimme wieder. „Du denkst wahrlich, ein Drache werden zu können?“ Stille senkte sich über die im Wasser treibenden Karpfen. Gespannt erwarteten sie Kais Antwort. Mutiger, als er gedacht hatte, zu sein, erwiderte Kai: „Du wirst sehen!“ Leider geschah das Gegenteil von dem, was er sich erhofft hatte. Mit einem abgrundtief bösartigen Grinsen auf dem Schmollmund entgegnete der große, hünenhafte Magnus: „Herausforderung angenommen! Bevor du in seine Nähe kommst, werde ich das Drachentor erklommen haben und zum Drachen geworden sein! Du mickrige Version eines Kois, das wirst du dann sehen!“