Himmel und Meer


„Wer einmal sich selbst gefunden hat, kann nichts mehr auf dieser Welt verlieren.“
Stefan Zweig


„Wähle“, sprach eine Stimme ohne Absender. Ob weiblich, ob männlich, das Geschlecht zu identifizieren, schien unmöglich.
Unerheblich. Was sie sagte, hörte Kai, doch er verstand das Gesprochene nicht. Noch nicht.
„Himmel oder Meer“, hallte in seinem Geist wider.
Die Bedeutung der Worte erschloss sich seinem Horizont nicht. Höchstens ihren Sinn ableiten, das versuchte er.
Kai schwebte durch weißen Nebel. Undurchsichtige Rauchschwaden umgaben ihn. Oder das, was von ihm übrig war. Bei Passieren des Drachentors war er seines Körpers entledigt. Übrig blieb sein Bewusstsein. Seine Seele. Er roch nichts, schmeckte nichts, sah nichts. Außer jene Stimme drangen keine Geräusche zu ihm vor.
Wählen. Himmel oder Meer. Worauf sollte seine Wahl fallen?
Mangels Wissen über den Sinn der verfügbaren Optionen übertrug er die Entscheidung seiner Intuition. Sein Instinkt hatte ihn den Wasserfall überwinden und das Drachentor durchspringen lassen.
Der Entschluss war eindeutig.
„Ich wähle das Meer!“
Kaum, dass der Wunsch geäußert war, erhielt er seinen Körper zurück. Genauer gesagt, nicht seinen „alten“ Körper. Der kleine Karpfen namens Kai vollzog eine Metamorphose. Sein Leib wuchs. In die Länge. In die Höhe. In die Breite. Wo sich vorher seine Schwimmflossen befunden hatten, sprossen Arme mitsamt zwei Klauen bespickten Händen. Vorher farblos, schimmerten seine Schuppen je nach Sonneneinfall abwechselnd in leuchtendem Türkis oder samtigem Meergrün. In dreierlei Schichten aus sonnigem Orange, pulsierendem Rot und blumigem Gelb peitschte sein Schwanz durch die Luft. Die Schläge wirbelten das Wasser unter ihm sowie die Wolken über ihm auf. Passte er nicht auf, entfachte er einen regelrechten Sturm. Als er sich seine Kraft bewusst machte, warf er einen Blick hinunter auf die Wasseroberfläche, begutachtete sein Spiegelbild. Für einen Sekundenbruchteil erschrak er. Nachdem er den ersten Schock verdaut hatte, klopfte sein Herz vor Freude. In seinem Abbild erkannte Kai nicht länger einen Koi Fisch. Elegant schwebte der Meeresdrache über die Klippe, den Wasserfall hinunter und den spiegelglatten Fluss hinweg. Im Flug zog er Kreise um die Stelle, an welcher Oscar weiterhin auf seinen Freund wartete. Selbstverständlich hatte er den majestätischen Drachen von vornherein ins Auge gefasst. Dennoch dauerte es Minuten, bis er Kais Präsenz spürte. Nachdem ihm bewusst geworden war, um wen es sich bei dem Sagengeschöpf handelte, begann der Kraken, zu jubeln. Applaudierend reckte er seine Tentakel in die Höhe, ein Zeichen des Triumphes. Wenige Meter entfernt blies Magnus Trübsal. Die Schönheit in seinem Herzen verhinderte, Kai Schadenfreude empfinden zu lassen. Das Gegenteil war der Fall. Trotz ihrer Vergangenheit hoffte er für seinen ehemaligen Rivalen, eines Frühlings die Reise beenden und das Drachentor ebenfalls passieren zu dürfen. Zum jetzigen Zeitpunkt empfand er Dankbarkeit, den strammen Karpfen zwar enttäuscht, zudem traurig, dafür gesund vorzufinden. Über den Rückschlag käme der selbstbewusste Koi eines Tages schon hinweg. Gegensätzlich zu Magnus’ Verwünschungen, stieß Oscar ehrlich bekundete Freudenrufe aus. Ihm nickte Kai zu. Auf die Art gab er seinem Freund das Versprechen, bald zurückzukehren. Vorerst jedoch, würde er sich der Aufgabe annehmen, die ihn zum Drachen erklärte. Fortan wollte er den Schwachen helfen, Stärke zu finden und die Bedeutsamkeit von Mut kennenzulernen.
Oscar, der begriffen hatte, winkte dem am Horizont verschwindenden Drachen zum Abschied. Es war kein „auf Wiedersehen“, sondern ein „bis bald, mein Freund“.