Die Suche nach dem goldenen Drachentor
„Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.“
Laotse
Jede herausragende Geschichte beginnt mit einem „Es war einmal“.
So auch diese.
Es war einmal ein kleiner Koi-Karpfen in einem großen Teich voller kunterbunter Fische. Man mochte ihn deshalb für klein befinden, da seine Statur, im Gegensatz zu jenen Staturen seiner Teichgenossen, deutlich schmächtiger ausfiel. Fast kränklich. Es war anzunehmen, dass Kai schon bei Geburt ein kärgliches Bild eines Fisches abgegeben hatte. Das, obwohl Koi zu den schönsten Fischtieren unter der Sonne zählten.
Kai war im Winter vor fünf Jahren in einem gewöhnlichen Teich in Tibet geboren worden. Damals war wenig Regen gefallen, die meiste Zeit hatten Sonnenstrahlen das Gebiet in Helligkeit und Wärme gehüllt. So erzählten es die älteren Fische.
Während die Schuppen seiner bildgewaltigen Artgenossen von reichhaltigen Facetten verschiedenster Farbtöne glitzerten, schimmerten Kais schlicht weiß. Kahl, behaupten böse Mäuler. Keine bronzenen, orangefarbenen, nicht einmal schwarze Sprenkel zierten seine ohnehin kümmerliche Gestalt. Gleichaltrige rissen gern Witze auf seine Kosten. Hauptsächlich zogen sie ihn wegen seines Pastell-Porzellantons auf. Schließlich könne er sich am Meeresboden im Sande vergraben und würde nicht mehr gesehen werden. Seine blass-weißen Schuppen würden mit den Kieseln verschmelzen, sagten sie. Nicht wenigstens ein silberner Schein war ihnen an Glanz gegeben. Mitten ins Herz trafen die gemeinen Scherze Kai. Aufgrund seines Aussehens hatten alte sowie junge Kois ihn stets wie einen Außenseiter betrachtet und ebenso behandelt.
Kai, der kleine Karpfen ohne Schuppenmuster. Unscheinbar. Wenig kostbar. Geradezu wertlos.
Ausgeschlossen von der Gruppe, bewältigte Kai seinen tristen, meist langweiligen Alltag allein. Sehnsüchtig beobachtete er die Nachbarkarpfen beim Spielen, Toben, Wettschwimmen. Besonders stach ein Schwimmer unter ihnen heraus: der Magnus. Groß, üppig gebaut, von Mutter Natur mit einem Schuppenmuster aus goldenem Orange, Nachtschwarz und Alabaster gesegnet. Einzeln leuchteten seine Glieder wie feinstes Perlmutt. Zusammen ergaben sie ein Bild aus komplexem Marmor. Wenn Sonnenstrahlen den Teich erhellten, richteten sich sämtliche Augenpaare auf den stattlichen Jüngling. Voll Wehmut schaute Kai dem um ein Jahr Älteren beim Sonnenbaden zu. In solchen Momenten wünschte er sich, „einfach normal“ auszusehen. Nicht außergewöhnlich, just normal. Ausschließlich deshalb, um Anschluss zu finden und mit seinen Altersgenossen schwimmen zu dürfen.
Kai war aus dem Kindesalter herausgewachsen, doch nicht gänzlich im Alter eines Teenagers angelangt. Hingegen kamen Magnus und sein Anhang frühreif daher. Ihre Körperlängen reichten an jene der erwachsenen Karpfen heran. Üblicherweise hatte sich Kais Masse kaum entwickelt. Schmächtig und schüchtern hielt er sich im Hintergrund. Weil er gerade nur die nötigsten Worte wechselte, hörte er umso aufmerksamer zu. Eines Morgens wohnte er der Unterhaltung zweier Alteingesessener bei. Unsichtbar, wie er für die Teichbewohner war, bemerkten sie seine Anwesenheit nicht. Flüsternd unterhielten sie sich über eine beinahe vergessene Legende. Besucher auf der Durchreise, Fische unterschiedlicher Arten – die gastfreundlichen Alten hatten sie für eine Weile beherbergt – hatten im Rahmen eines gemütlichen Nachtmahls die Sage um das Drachentor zum Gesprächsthema ernannt. Laut der Überlieferung traten die mutigsten Karpfen ihre Reise im Frühling eines Jahres an, pilgerten den Gelben Fluss hinauf, bis sie seine Mündung erreichten. Dort befand sich angeblich ein magischer Wasserfall, dessen höchster Punkt vor einem Tor endete. Wer das Tor zu passieren schaffte, der durfte auferstehen. Als ein Drache.
Gänsehaut überzog Kais Schuppen. Nie zuvor hatte er einer ähnlich wunderschönen Geschichte gelauscht. Und derart überraschend die Legende, wie Karpfen zu Drachen wurden, an seine Ohren gedrungen war, dermaßen spontan reifte in ihm ein Entschluss.
Sobald ein Winter sich seinem Ende zuneigte und dem anstehenden Frühling wich, begann Jahr für Jahr eine magische Zeit. Es schien, als läutete der Wandel der Gezeiten einen Zeitpunkt neuer Ideen und Entwicklungen ein. Immer schon war es so gewesen.
Spätestens mit Beginn der reifenden Blüten an den Bäumen wollte der kleine Karpfen Kai, aus dem Fischteich nahe der Quelle des Gelben Flusses in Tibet, dem Ort seiner Trauer entkommen und sich auf die Suche nach dem goldenen Drachentor begeben.