Tom - Eine Leseprobe


Toms Parallelklasse besuchte ein Kerl, der einer bekannten Gang angehörte, Iron Head. Genauer gesagt, Iron Head Junior. Die originale Vereinigung bestand ausschließlich aus Erwachsenen. Halbstarke bildeten, mit deren Erlaubnis, eine Untergruppierung.
Artur benahm sich wie Graf Rotz, seit er ihrer Gefolgschaft beitrat. Lässig stolzierte er in Jeansjacke, viel zu engen Hosen und klappernden Schuhen durch den Schulflur. Die Hinterseite seiner Jacke zierte das Logo der Bande, ein silbern schimmernder Schädel.
Neidvoll beäugte Tom dieses Zeichen der Zugehörigkeit. Er überlegte, dass eine eigene Jacke mit Gangnamen richtig cool wäre und befand, sie brachte selbst ein hässliches Entlein wie Artur zum Glänzen. Denn eins war gewiss. Ohne die Mitgliedschaft, blieb Artur ein Akne übersäter, speckiger Schleimbolzen. Allein schon deswegen, da er seine längeren, dunkelblonden Haare nach hinten gelte. Wahrscheinlich benutzte er eine vollständige Tube Gel am Tag! Gleichwohl verfügte Artur über die erste Banden-Angliederung der ganzen Schule. Alle huldigten ihm ehrenvoll, begafften ihn, wie einen König. Außer Tommaso de Conti. Den interessierten ausnahmslos hübsche Mädchen.
Weil er ihm wenig Respekt zollte, hatte ihn Artur umgangssprachlich gefressen! Deshalb schikanierte er Tom, wo immer er nur konnte, gab dabei den großen Macker!
Begegneten sich die beiden in den Gängen, brüllte Artur: „Hey Spaghettifresser, schau bloß weg! Sonst haue ich dir die Brille von der Nase!“ Stand Tom mit Kumpels zusammen, hielt etwas in Händen, schlug ihm Artur hinterrücks das Utensil aus der Hand. Oft landeten Bücher auf dem Linoleum, manchmal aber auch Trinkflaschen, oder Comichefte. Einmal zerbarst eine Glasflasche Cola light. Ihr Inhalt bedeckte den Flur. Schüler klebten mit den Schuhen fest.
Aß Tommaso Schokoriegel, Backwaren, sein Pausenbrot, riss ihm Artur den Snack aus der Hand und kaute an Toms Stelle munter weiter.
Klar ärgerte ihn das unmögliche Verhalten. Vor allem provozierte er den Gleichaltrigen nie dazu! Doch solange der nicht handgreiflich wurde, kassierte Tom die Anfeindungen. Schließlich gedachte er nicht, sich mit einem Mitglied von Iron Head (Junior) anzulegen!
Andererseits kroch er ihm bestimmt nicht in den Arsch! So gut er konnte, vermied er einfach weitere Begegnungen.
Der April brachte eine Menge Regen. Dichte Wolken zogen ebenfalls am freien Wochenende auf. Tommaso schaffe relativ gut, das Wetter vorauszuahnen. In der kurzen trockenen Phase kauften Mara und er in einem regionalen Edeka ein. Wäre er allein gewesen, hätte er sicherlich nicht viel Geld ausgegeben, sondern das meiste Zeug geklaut! Mit seiner Freundin im Gepäck musste er schön brav bezahlen.
Maras Eltern gingen tagsüber aus. Demnach bot sie an, einen Filme-Nachmittag bei ihr Zuhause abzuhalten. Leider enthielt das Wort Filme Nachmittag keinen versteckten Hinweis auf Sex, sondern bedeutete wahrhaftig Videos schauen! Zumindest lieh ihre Mutter vielversprechende Streifen einer nahegelegenen Videothek aus. Star Wars, plus Shining empfand Tom sehenswert.
Mara gedachte zu kochen, hinterher gab es Naschzeug. Momentan organisierten sie die Zutaten. Edeka offerierte hierfür genügend Auswahl. Einen kritischen Blick auf den Kassenzettel werfend, verfluchte Tom innerlich, Mara mitgeschleift zu haben.
Draußen vor dem Geschäft roch Tommaso kommenden Regen. Bald fielen erste Tropfen. Frischer Wind sorgte für unangenehm nasskalte Kühle. Mara setzte die Kapuze ihrer Weste auf. Gemeinsam schlenderten sie die triste Straße entlang. Dunkle Wolken, durch die keine Sonnenstrahlen brachen, hüllten die Umgebung in schummriges Licht. Just kippte Toms Stimmung, nahm gewissermaßen die Farbe des Wetters an. Von der Ferne erkannte er drei Gestalten in seine Richtung laufen. Eindeutig handelte es sich bei der einen um Artur! Großartig, der fehlte Tom gerade noch zu seinem Glück! Geduldig watschelten seine Kumpels hinter Mister Großkotz her,
Tommaso sah keineswegs ein, die Richtung zu wechseln. Selbstbewusst, trotzdem klopfenden Herzens, fasste er die Hand seiner Freundin, umklammerte mithilfe seines anderen Arms die Papiertüte voller Einkaufssachen und lief festen Schrittes weiter. „Wenn das nicht unser Gelato ist!“, rief Artur, als sie beinahe auf gleicher Höhe angelangten. Fing ja gut an! „Artur“, grüßte Tom höflich, nickte dem Delinquenten. Ansonsten ignorierte er ihn, genauso dessen Freunde.
Seine Gleichgültigkeit ärgerte Artur. Frech kehrte er um, stellte sich Tom dreist in den Weg. Stirnrunzelnd musterte Tommaso seinen Mitschüler. „Was willst du, Artur?“, fragte er. „Zoll mir gefälligst Respekt, Italiener!“, bekam er zur Antwort. Jäh schlug Artur Tom die Tüte aus der Hand. Tomaten, Äpfel und frische Brötchen kullerten über den Erdboden, die rohen Eier platzten und hinterließen feuchte Flecken im Papier. Teilweise aus aufgestauter Wut, andererseits aufgrund seines Beschützerinstinktes Mara gegenüber, packte Tom Artur am Kragen seiner Jeansjacke. Genug war genug! „Hau bloß ab und lass mich in Ruhe, hörst du?“, zischte er. In seiner Stimme schwang ein warnender Unterton, welchen er selbst kaum begriff. Artur kaufte Tommaso die unterschwellige Drohung ab, die Pupillen furchtvoll geweitet. Grob schubste Tom den Kerl weg. Er verharrte noch kurz, überdachte seine nachfolgende Handlung. Dann bedeutete er seinen Kumpanen, die vor Schreck wie versteinert herumstanden, mittels Kopfnicken ihr Gehen. Die drei dufteten ab. Mara starrte Tom lange an, er selbst wirkte durch seinen Ausbruch leicht aufgewühlt. Hinterher sammelte sie die Lebensmittel zusammen. Tom legte die Hand auf ihre Schulter. „Ich gehe neue Eier und Brötchen holen!“ Wenig später kehrte er zu seiner Freundin zurück. Neben den angekündigten Lebensmitteln besorgte er zusätzlich Würstchen. Nebenbei sei erwähnt, dass er den aktuellen Einkauf nicht bezahlte.
Indessen sie Videos schauten, reifte ein Entschluss in Tom. Weder von seinem Alten, noch von irgendwelchen dahergelaufenen Möchtegern-Idioten wollte er sich je wieder etwas gefallen lassen! Der letzte Film besiegelte seinen Entschluss. Rocky brachte Tommaso die Erkenntnis, um stark zu werden, musste er trainieren! Im Plot enthaltene Trainingsszenen inspirierten ihn.
An diesem Abend versuchte er nicht, Mara rumzubekommen. Stattdessen lief er heim, respektive joggte. Zu Hause hüpfte ein, mit angezogenen Knien die Treppen hinauf. In seinem Zimmer machte er Liegestützen und Bauchübungen. Außerdem hievte er seine Matratze an die Wand, schlug wie ein Wilder darauf ein.
Mittlerweile zogen die de Contis innerhalb des Wohnblocks, sogar des gleichen Stockwerks, um. Vier Jungs kamen nicht mehr in einem Raum unter. Daher mieteten Alberto und Greta eine frei gewordene vier Zimmer Wohnung. Tommaso teilte seine Schlafkammer mit Bernardino, Saverio mit Samuele.
In den Schulpausen trug Tommaso den dicksten Jungen der Klasse, Friedrich Eberlein, quer durch den Pausenhof spazieren. Seiner Ansicht nach, stärkte der Akt die Muskulatur, vordergründig in Beinen und Rücken. Friedrich lachte sich halb tot. Wahrlich boten die beiden ein groteskes Bild. Tommaso, etwa die Hälfte von Friedrich, plus der Dicke über seiner Schulter hängend.
Bauchpressen absolvierte Tom für die Bauchzone, Liegestützen für Brust sowie Bizeps. Sogenannte Dips an der Bettkante reizten den Trizepts. Zum Techniktraining hielt die Bettmatratze her.
Selbst wenn die provisorischen Übungen keinesfalls professionell moderierte Schulungseinheiten ersetzten, Tom fühlte sich großartig! Er verstand, warum so viele Menschen Sport, ferner Kampfsport ausübten.
Bis dato dachte er nicht daran, eine Schule für Kampfkünste, oder zumindest ein Fitnessstudio aufzusuchen. Eigengewichtsübungen genügten ihm vorerst.
Dann geschah jenes Ereignis, welches den Schlüsselmoment seines bisherigen Lebens darstellte.
Die große Pause neigte sich beinahe gen Ende. Tommaso öffnete in seinem Klassenzimmer die Fenster, zum Durchlüften. Unbewusst schaute er auf den Schulhof hinunter. Artur schlenderte in Toms Blickrichtung, im Schlepptau seinen Kumpel Manuel, neustes Mitglied bei Iron Head Junior. Der Junge mit übertriebener Gelfrisur spähte hinauf, entdeckte seinen eigens benannten Feind, reckte die Faust in die Höhe und brüllte: „Ich komme gleich hoch zu dir!“
Toms Herz sackte in die Hose. Was wollte Artur bloß von ihm? Eigentlich dachte er, der Kerl ließe ihn künftig in Frieden! Minutenlang überlegte Tom, ob er etwas Konkretes anstellte. Aber ihm fiel partout nichts ein! Grundsätzlich vermied er jegliche Begegnungen oder generellen Kontakt. Kaum wurde ihm bewusst, dass er ehrlich unschuldig war, stand Artur bereits an der Tür des Zimmers. Wie in solchen Situationen üblich, verweilte sonst kein Mensch in dem Raum, nur Tom allein. Manuel bezog ausserhalb Position. Wahrscheinlich stand er Schmiere. „Du hast Iron Head beleidigt, Spaghettifresser!“, unterstellte ihm Artur plötzlich. „Was hab ich?“ Verwirrt glotzte Tom Artur an. Gedanken rasten durch seinen Schädel. Nein! Definitiv tat er so etwas bescheuertes mitnichten! Doch Artur blieb bei seiner Behauptung. „Du Arschloch lachst über unsere Gang, redest hinter unserem Rücken!“ - „Absoluter Schwachsinn! Ich hab nichts gemacht!“, wehrte Tom den verbalen Angriff ab. Stur behauptete Artur: „Einige hörten dich reden! Sie erzählten es mir! Ich weiß das also mit Sicherheit!“ Sämtliches Blut schoss in Toms Kopf, der beinahe zu zerplatzen drohte. Was bildete sich der Schnösel ein, ihm diese dreiste Lüge aufzutischen? „Richte deinen Kontaktmännern aus, sie sollen Brillen kaufen gehen. Vielleicht sehen sie den angeblichen Redner nächstes Mal besser! Und jetzt hau ab! Das ist mein Klassenzimmer! Deins liegt den Gang runter, falls du vergaßt!“ Tom wollte sich schon abwenden, als er Artur aus den Augenwinkeln auf ihn zukommen sah. Ihm dämmerte eine Theorie. Womöglich provozierte Artur ihn bewusst, ausschließlich um einen dämlichen Streit anzufangen! Dieser Vollidiot!
Tatsächlich beabsichtige Artur, auf Tom loszugehen. Seine Miene sprühte vor Zorn. Weil Tom nie auf seine Provokationen einstieg, entfachte er damit augenblicklich einen regelrechten Vulkanausbruch! Dank der regelmäßigen Übungen wich Tom instinktiv aus. Unmittelbar packte er den vorbei hechtenden Artur, indem er ihn in einen Schwitzkasten nahm. Fest drückte Tom den Kopf des Angreifers runter, würgte ihn schon beinah. Folglich marschierte er mit ihm an einen Tisch und hämmerte Arturs Stirn darauf. Wieder und wieder. Dabei beteuerte er mehrfach: „Ich hab nichts getan! Ich hab nichts getan! Ich hab nichts getan!“ Er spulte den Satz in Endlosschleife ab. Vor der Tür beäugte Manuel ungläubig das Geschehen, kam seinem angeblichen Freund allerdings nicht zu Hilfe.
Artur blutete. Ein Rinnsal lief die Schläfe abwärts. Gefühlt wehrte er sich kaum. Jedenfalls spürte Tommaso keinerlei Gegenwehr. Rote Blutstropfen landeten auf dem hellbraunen Holztisch. Zu Arturs Glück vernahm eine Lehrerin das ungewöhnliche Klopfen. Flugs erreichte sie den Schulraum, blieb dann kurz stehen. Perplex realisierte sie die gebotene Szene. Unter Tränen schlug Tommaso de Conti, Artur Hennings Schädel auf ein Pult. Eiligst rannte sie zu den Jungen, zerrte an Tom, sprach ihm gleichzeitig ins Gewissen. Sein Unterbewusstsein erfasste ihr Flehen, er befreite den Mitschüler schließlich von dessen Gefangenschaft. Artur schaute Tom nicht mehr an. Hastig stürmte er aus der Zone der Qualen, Manuel hetzte ihm hinterher. Abermals sagte Tom: „Ich hab nichts gemacht!“
Aufgrund der Schwere des Vorfalls musste die Lehrerin Tom zur Rektorin begleiten.
Eigentlich war Frau Müller eine strenge, dennoch angenehme Person, jedoch verabscheute sie Handgreiflichkeiten! Sie stammte aus gutem Haus, erwarb Schulabschluss und Studium, unterrichtete viele Jahre diverse Fächer, arbeitete sich schließlich hoch. Ihrer Ansicht nach, gehörten Fleiß, genauso Disziplin, zu jedermanns bedeutsamsten Eigenschaften. Ebenso Höflichkeit, Contenance, Ehrfurcht. Die harten Arbeitsjahre voller Selbstbeherrschung zeichneten sie. Tiefe Falten durchzogen ihr Gesicht, dunkle Ringe umrahmten ihre grauen Augen, was ihre Autorität untermalte. Sie bedachte die beiden Eintretenden mit versteinerter Miene. Manierlich bot sie Sitzplätze vor dem massiven Nussholztisch an. Nachdem Lehrerin und Schüler Platz genommen hatten, schilderte erstere kurz den vergangenen Zwischenfall. Tom weinte. Rektorin Müller fuhr mit der Hand durch das kirschrot gefärbte Haar. „Tom, was sagst du dazu?“, wollte sie wissen. „Ich hab nichts gemacht!“ Toms Stimme versagte, er schluchzte pausenlos. Minuten vergingen. Unvermittelt zierte ein sanftes Lächeln das Gesicht der strikten Frau. Immerhin beruhigte die Geste Tom insoweit, als er seine Version der Geschichte erzählen konnte. „Ich glaube dir“, beteuerte Frau Müller. „Ich auch“, pflichtete die Lehrerin bei. Tom durfte zurück zum Unterricht. Das erste Mal bekam er für eine Handlung (bei der man ihn erwischte) keine Strafe. Vielmehr vertrauten Erwachsene endlich seinen Worten. Das entsprach einer gänzlich neuen Erfahrung! Tom lächelte. Außerdem schalt er sich selbst, niemals mehr zu heulen!
Als ob der Tag nicht schon genug zum Kotzen verlief, machte ihm Mara nachmittags eine heftige Szene. Vorwurfsvoll beschuldigte sie ihn, lieber mit seiner Ersatzfamilie, den Kumpels abzuhängen, ihnen sämtliche Details des morgendlichen Überfalls haarklein zu berichten, anstatt ihre Begleitung beim Shoppen zu sein. Toms Meinung nach, gab Mara soviel Geld für Blödsinn aus, das konnte sie getrost allein tun! Vielleicht hatte sie gerade ihre Tage. Jedenfalls warf sie ihm vor, unter Anflügen von Gebrüll und Tränen, er vernachlässige sie, ziehe generell seine Freunde vor. Eigentlich lag Tom eine ganz bestimmte Erwiderung auf der Zunge: „Dann vögel halt mit mir, Herrgott!“ Aber er behielt die scharfe Aussage für sich. Besser so!
Er wäre geneigt gewesen, Mara den Gefühlsausbruch zu verzeihen, beginge sie nicht einen groben Fehler. Mara stellte Tom ein Ultimatum: entweder sie, oder die Clique.
Tom grinste sie an, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wortlos davon. Ihr Pech!
Am nächsten Tag stand ein Wäschekorb vor der Haustüre der de Contis, vollgepackt mit jedweden Geschenken von Tom an Mara. Das war ihr Schlussstrich. Er machte seinen gestern.
Nun, da er gewissermaßen frei war, tobte er sich völlig ungeniert, ganz offiziell aus.
Darüberhinaus fasste er einen weiteren, lebensweisenden Entschluss, welchen er unmittelbar in die Tat umsetzte. Keiner spielte mehr mit ihm, dafür sorgte er! Motiviert und angestachelt suchte Tommaso de Conti den nächstgelegenen Boxclub auf.

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