Nobunaga
Der Dämonenkönig des sechsten Himmels
Wann stirbt ein Mensch? Wann erlangt der Mensch Unsterblichkeit?
Diese Fragen stellte er sich, während er sein Spiegelbild voller Ehrfurcht betrachte. Nur er allein durfte einen Blick auf den seiner Körperlänge angepassten Spiegel werfen. Nur er allein war im Begriff, ein leibhaftiger Kami zu werden. Ein Gott. Deshalb galt einzig er für würdig.
„Heute findet mein irdisches Dasein sein Ende“, verkündete er, ehe er sich zu seinem Gast sowie einem treuen Untergebenen zuwandte. Ungeachtet der Schwere der gesagten Worte hatte seine Tonlage schon fast feierlich geklungen. Der Grund hierfür lag auf der Hand: Obschon er seine sterbliche Hülle hinterließe, würde er in die Riege der Götter aufsteigen. Warum sonst hatte er Unsummen für die Renovierung dieser überflüssigen Shintō-Schreine investiert? Dass er nach seinem Ableben in der Tat in sämtliche Geschichtsbücher einging, hatte er zu dem Zeitpunkt nicht wissen können. Doch scheinbar hatte er damals Ähnliches erahnt.
Als er das betroffene Gesicht seines Gefolgsmanns betrachtete, lachte er. Im Gegensatz zu seinem Samurai wirkte die Eingeladene teilnahmslos, beinahe ignorant. Ah! Anderes hätte er von der Gemahlin seines besten Samurais nicht erwartet! Für seinen Geschmack unterhielt sie eine zu füllige Körpermitte. Gewiss erschien ihr Busen üppig und prall, gleiches galt jedoch für ihren Hintern. Bezog sich der Ausdruck „rund“ auf einen knackigen, muskulösen Arsch, konnte er das herausstechende Merkmal an einer Frau akzeptieren. Breite Hüften, eine fehlende schmale Taille sowie fleischige Pobacken widerten ihn an. Ob bei seiner Ehefrau oder seinen zahllosen Geliebten, er verdiente nicht weniger als Perfektion. Immerhin hielt er der Dame ihren herausragenden Intellekt zugute. Zeitgleich bewunderte er den Einfluss, welchen sie auf ihren Mann ausübte. An die ihn optisch nicht reizende, dafür nützliche Vollbusige gerichtet, sagte er: „Wenn dieser beschissene Verräter Mitsuhide, dieser Vollpfosten, seinen Willen erhalten hat, will ich, dass du Hideyoshi unverzüglich Bericht erstattest.“ - „Ja, Oda-sama!“ Untertänig verbeugte sie sich. Das einzig erlaubte Verhalten ihm gegenüber.
Oda Nobunaga, seines Zeichens Daimyō, mächtigster Feldherr Japans, nickte zufrieden. Von Anfang an war er sich dem Verrat eines seiner Generäle gewahr gewesen. Akechi Mitsuhide, ein mäßig fähiger Krieger und völliger Idiot, hatte ihm die Frechheiten, die er seiner Person gegenüber regelmäßig entgegenbrachte, nie verziehen. Jede passende Gelegenheit hatte Nobunaga genutzt, ihn öffentlich bloßzustellen. Dasselbe Verhalten zeigte er jedem gegenüber, der in seinen Augen unwürdig und verachtenswert erschien. Ausschließlich General Akechi wagte, aufzubegehren. Alle weiteren von Nobunagas Tiraden Betroffenen verspürten große Furcht vor seinem Zorn. Beherrschte er eine Sache unter Duzenden exzellent, dann zweifelsohne Rache. Einerseits erwies Mitsu-Shit sich als Mann mit größeren Eiern, wie Fürst Oda ihm zugerechnet hatte. Anderseits würde sein Verrat aus ihm kurzfristig einen Narren machen. Allein deswegen, weil das Rindvieh dachte, ihn verraten zu können! Glaubte die Arschgeige tatsächlich, ihn zu überraschen? Besser, ihn zu überrumpeln? Hatte er im Laufe der Zeit nichts gelernt? Der geistig wie intellektuell überlegene Oda Nobunaga verfügte überall über Augen und Ohren, ebenso wie über einen scharfen Verstand und Weitsicht.
Aus drei Gründen ließ Nobunaga das Unausweichliche geschehen:
Erstens, er plante schon jetzt seine Rache. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 % würde sein Racheplan erfolgreich verlaufen. Eine ihm von den Göttern verliehene Fähigkeit bezog sich auf taktisch einwandfreie Kriegsführung. Mehr als seine Grausamkeit fürchteten Odas Feinde seine von ihm oft unter Beweis gestellte Intelligenz.
Zweitens befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Herausragende Gegner, allesamt große Namen, hatte er aus dem Weg geräumt, Feldzüge gemeistert, Armeen niedergestreckt. Dazu hatte er Burgen eingerissen, eigens eine mächtige Burg bauen lassen, das Christentum toleriert, somit den Buddhismus bekämpft. Wieso? Weil es ihm gefiel, gegen die Regeln zu spielen. Er liebte seine Rolle als terroristisches Arschloch. Der Bösewicht zu sein, erfüllte sein Ego. Unlängst hatte er seinen Samen verstreut, Frauen beglückt, Kinder gezeugt, Nachkommen hinterlassen. Selbst die dümmsten Hinterwäldler kannten seinen Namen. Vor einer Weile war er sich klar geworden, einen Punkt erreicht zu haben, an dem es kaum weiter aufwärtsging. Abgesehen davon hasste ganz Japan ihn. So oder so, zu einem Zeitpunkt wäre auf jeden Fall ein Attentat auf ihn verübt worden. Ein Akechi Mitsu-Shit fand sich in jeder Ecke. Das Ding war, einfach abzutreten, ein ruhiges Rentnerleben zu führen, entsprach in keiner Weise Nobunagas Willen, noch weniger seinem bisherigen Lebensstil.
Was zum dritten Grund für seine Entscheidung geführt hatte.
Lange befand Oda Nobunaga, einem Gott zu gleichen. Um als Kami Verehrung zu finden – jene, die er unbedingt verdiente – musste er das irdische Reich verlassen. Auf seine Weise. Ein Mord an ihm war mitnichten verhandelbar. Aketchis Tötungsplan spielte in seine Karten. Darum hatte er den heutigen Abend inszeniert.
Absichtlich ließ er Mitsuhide im naiven Glauben, ein Gelage in seinem Tempel Honnō-ji abzuhalten. Sollte der Vollidiot gewiss davon ausgehen, den Fürsten unvorbereitet und durch Alkohol berauscht zu erwischen! Den Racheakt, der nahtlos erfolgte, würde er als Kami in seinem eigenen Himmelreich verfolgen. Und er würde jeden einzelnen Moment genießen!
„Mein Herr“, initiierte die Frau die Frage, welche ihn aus seinen Gedanken holte, „weshalb wähltet Ihr meinen Gatten als Euren Nachfolger?“ Eine Sekunde lang druckste sie herum, fügte alsbald hinzu: „Bitte, versteht mich richtig, ich freue mich für Hideyoshi. Sicherlich verdiente er sich Eure Nachfolge als mächtigster Mann in Japan. Bloß überlege ich, wie Eure Wahl auf ihn fiel, anstatt auf …“ – „Ieyasu?“, vermutete er. Devot neigte sie das Haupt, lediglich ihre Augen schauten auf. „Motive der Sympathie beeinflussten meine Entscheidung minimal“, bekundete er offen, „hauptsächlich gründet sie in den unterschiedlichen Niveaus hinsichtlich der Kriegsfertigkeiten. Tokugawa ist nicht so weit, Toyotomi ist ihm kriegerisch überlegen. Im Moment jedenfalls.“
Einen Gedanken verschwieg er. Aktuell überlagen Toyotomi Hideyoshis Künste jenen von Tokugawa Ieyasu. Doch es kam der Tag, da war Nobunaga sicher, an dem Letzterer sich im Glanz des Triumphes sonnte.
Für den Augenblick präsentierte sich ein künftiger Wandel unbedeutend. Wichtiger gestaltete sich die augenblickliche Situation im Hinblick auf Odas Strategie.
Neben Toyotomis Ehefrau Kōdai-in bezog sein Plan einen zweiten Spießgesellen ein. Ihm schenkte Oda seine Geistesgegenwart. „Bist du bereit, an meiner Seite zu sterben?“, fragte er unverblümt. Ranmaru, sein wahrscheinlich treuster Diener, gekleidet im formellen Yoroi der Samurai, erwiderte ohne zu zögern: „Ja, mein Herr!“ Natürlich. Eine andere Antwort hatte er nicht erwartet. Optimistisch dem Kommenden gegenüber lächelte der Daimyō. Er begann, innerhalb des Raumes auf und ab zu laufen. Lediglich der Spiegel zählte zu dessen Inventar. Ansonsten fehlte Mobiliar. Wobei er keines benötigte. Ihm genügte es, an seinem letzten Tag sein Spiegelbild zu betrachten. Nach einigen Sekunden verharrte er. „Werte Dame“, mit diesen Worten initiierte er den Abschied, „reise nun zu deinem Mann. Verkünde ihm die Nachricht über meinen Tod und flüstere ihm zu, was er zu unternehmen hat!“
Wie jeder Mann von Range nahm auch Hideyoshi sich zahlreiche Geliebte. Dank ihnen stillte er seine Begierden. Ungeachtet dieser fleischlichen Komponente, beachtete er die Ratschläge seiner Angetrauten. Meisterlich beherrschte sie es, ihn durch geschickte Manipulation zu beeinflussen. Ja, wahrlich, allein Frauen beherrschten eine solche Kunst. Kōdai-in würde Toyotomi Hideyoshi raten, unverzüglich hinter Akechi Mitsuhide herzuhetzen.
Keineswegs bliebe Mitsu-Shit allzu lange der Herrscher über Odas über lange Jahre hinweg mühselig aufgebautes Reich. In den vergangenen 30 Minuten ihres Besuches hatte Nobunaga die von ihrem Ehemann sogenannte Nene detailliert instruiert. Er konnte von Glück sprechen, das Schicksal hatte sie mit überdurchschnittlicher Intelligenz gesegnet. Gierig, wie sie darüber hinaus war, lechzte sie danach, an der Seite eines Anführers zu stehen. Sie würde blinden Gehorsam zeigen. Dies erkannte er in ihren Augen, als sie sich zum Gehen aufmachte, genauso in ihrer an den Tag gelegten Attitüde, als sie den Tempel verließ. Nunmehr verblieben er und Ranmaru. „Trinken wir etwas. Zum Abschied“, wies der Fürst seinen Untergebenen an, „immerhin haben wir ein triumphales, wertvolles, ertragreiches Leben zu feiern!“
Oda Nobunaga feierte ein Trinkgelage. Gemeinsam mit Verbündeten und Vertrauten resümierte er seine siegreichen Schlachten. Ausnahmslos Mori Ranmaru hatte Kenntnis über den Ausgang des Abends. Abgesehen von ihm vertraute er niemandem. Zudem hielt er seine Gefolgschaft für schwach und feige. Kein anderer ginge für ihn in den Tod. Oder mit ihm.
Während sich die Männer weiter betranken wie Hunde, zog Nobunaga sich in seinen persönlichen Raum zurück. Ein letztes Mal betrachtete er seine Person im Spiegel. Ein Lächeln zierte sein ansehnliches Gesicht.
Ob zu Lebzeiten oder nach seinem Tod, er hatte Japan geprägt und die Geschichte des Landes verändert. Was immer die Menschen über ihn dachten, was sie von seinem Charakter hielten, er hatte getan, was von ihm erwartet worden war. Aus dem Haus eines Fürsten stammend, hatte er seine Provinz beschützt, sein Herrschaftsgebiet erweitert, die unter seinem Dienst Stehenden reichlich entlohnt. Von seiner Grausamkeit konnten die Narren der Welt halten, was sie wollten, doch vor ihm war keinem nur annäherndes gelungen. Durch Kriegslisten war er imstande gewesen, zahlenmäßig überlegene Gegner zu täuschen, die Bürgerkriege niederzustrecken, privilegierte Gilden abzuschaffen. Im Gegensatz zu den verbohrten Alten hatte er die westlichen Technologien eingeführt sowie ihren Gebrauch erlernt. In sämtlichen Punkten sah er sich dem hiesigen Gewürm gegenüber überlegen. Ungeachtet, welche Mittel er gebraucht hatte, welche Maßnahmen er hatte ergreifen müssen, über wessen Leichen er gegangen war, seine Taten hatten ihm den Triumph beschert. Und ihn zu dem gemacht, was er heute im Spiegel erblickte. Als Mensch mochte er von dieser Welt scheiden, einen physischen Leib zurücklassend. Dennoch blieben seine Ideale zurück. Weiterhin schallte sein Name durch die Lande. Ewig würde er als Kami währen.
Oda Nobunaga. Der große Teufel des sechsten Himmels.
Nein, das ginge besser!
Oda Nobunaga. Der Dämonenkönig des sechsten Himmels.
Ja! Genau das war er!
Ein Schrei durchbrach die Stille seines Raumes.
Ah, es begann!
Zumindest einigermaßen überrascht wollte er sich zeigen. Mitsu-Shit durfte keinen Verdacht schöpfen. Genüsslich sollte er sich in seinem Erfolg sonnen. Bis Toyotomi über ihn kam und ihm den Gar ausmachte. Hoffentlich hetzte sein bester Feldherr den Verräter zu Tode! Hoffentlich gewährte er ihm keinen angenehmen, geschweige denn einen schnellen Tod!
Um das Vorgehen zu überprüfen, trat Nobunaga vor den Tempel. Schauspielerisch so gut er konnte, tat er überrumpelt. Einen Betrunkenen zu imitieren, fiel ihm schwer. Alkohol vertrug er in rauen Mengen. Die wenigen Becher Sake genügten nicht ansatzweise, ihn entfernt zu beschwipsen. Da die Nacht hereingebrochen war, der verdeckte Mond unzureichendes Licht spendete, erschienen seine Schauspieltalente zweitrangig. Sobald er draußen erschienen war, durchbohrten Pfeile seine fleischliche Hülle. Schmerz verspürte er kaum. Wenigstens diesen Dienst leistete der Alkohol, verbunden mit dem ausgeschütteten Adrenalin. Sogleich erschien Ranmaru, zerrte ihn hinein. Indessen Fürst und Diener Richtung Spiegelraum verschwanden, brach die Hölle los. Akechis treulose Halunken schlachten die Anhänger Odas gnadenlos ab. Absehbar und ein notwendiges Übel. Mit der Massentötung der Anhängerschaft waren die Eindringlinge ein Weilchen beschäftigt. Inzwischen verfolgte Nobunaga seinen Plan. In vollkommener Seelenruhe, als ob er über alle Zeit der Welt verfügte und den Rauch frisch züngelnder Flammen von einem sich anbahnenden Feuer nicht roch, kniete er vor seinem Spiegel nieder. „Nimm dir meinen Kopf“, wies er Mori an, „begrabe ihn. Begrabe mich. Lass keinesfalls zu, dass Mitsuhide ihn erhält. Ihm steht keine Trophäe zu. Bestenfalls schaffe meinen Leib hinfort. Niemand darf begreifen, welches Schicksal mich ereilte, ob ich tot bin oder unter den Lebenden weile.“ Wortlos bestätigte sein Untergebener, den Befehl verstanden zu haben. Schweigend zog er sein Schwert, bereit, das Haupt, in dem die Seele wohnte, vom Körper zu trennen. Auch der Daimyō zog eine Klinge, jedoch eine weit kürzere. Aus einer pechschwarzen Scheide befreite er ein Tantō, ein Kampfmesser. Behutsam drapierte er das Werkzeug vor sich auf dem Boden. Den Atem ausstoßend, entledigte er sich seines Oberteils. Nackten Oberkörpers verbeugte er sich vor dem Spiegel, vor seinem Spiegelbild, gewissermaßen vor sich selbst. Er nahm den Dolch, richtete die scharfe Spitze auf seinen Bauch. Er grinste. Aus dem Grinsen entstand ein Lachen. Als es versiegt war, bleckte er die Zähne. Kampfschreie drangen an seine Ohren. Bewusst blendete er sie aus. Ungefähr sechs Zentimeter unterhalb des Bauchnabels setzte er den Schnitt an. Von links nach rechts schlitzte er sich den Bauch auf, die Mundwinkel aufgerichtet. Seine Höllenqualen ignorierte er. Im Gegenteil, er verfolgte seinen Suizid im Spiegel. Mit einer Aufwärtsführung der Messerklinge vollendete er sein Werk. Weder moralischen Zuspruch vonseiten seines treuen Mori Ranmaru noch eine Hilfestellung bei der Durchführung hatte er benötigt. Wie er sein Leben gestaltet hatte, so beging er Seppuku. In perfekter Vollendung.
„Lebt wohl, mein Fürst“, hauchte der hinter im Stehende, „möget Ihr als Kami die Ewigkeit erreichen und alle Zeitalter überdauern!“
Seine letzten Gedanken galten der wichtigsten Person zu seinen Lebzeiten: ihm selbst.
In dem Moment, als die Gedärme aus seinem Bauchraum sprudelten, Blut sowie Organe den Grund besudelten, Mori Ranmaru ihn mit weinenden Augen enthauptete, verspürte er grenzenlose Freude.
Auf dem Höhepunkt seiner Macht schied Oda Nobunaga freiwillig aus dem Leben, anstatt sich einem seiner zahlreichen Feinde auszuliefern. Dann war er neu geboren. Ferner lebt er heute fort, als der Dämonenkönig des sechsten Himmels.