Im Bann der Geisha


Der Oktober brach an und mit ihm kam frostiger Wind. Bis zum letzten Septembertag hatte sich der Sommer gehalten, neben Sonnenschein Wärme gespendet. Sobald der Monatswechsel vonstattengegangen war, veränderte sich das Wetter. Und die Stimmung der Hamburger Bürger. Nicht ins Positive!
Gegensätzlich zu seiner Lebensgefährtin fand Kilian Stahl keinen Gefallen am Herbst. Leonie hingegen liebte die sich färbenden Blätter der Bäume, den Duft nach regen sowie die heimischen Lebensmittel. Insgeheim bevorzugte sie einen wolkenverhangenen Himmel gegenüber dem wolkenlosen. Ob es daran lag, dass sie die Farbe Grau mochte? Nein, vermutlich begründete ihre empfindliche Haut ihre Sommerantipathie. In der prallen Sonne erlitt sie innerhalb von Sekunden einen deftigen Sonnenbrand. Eine Rolle spielte mit Sicherheit ihr für Frauen typischer Sinn nach Romantik. Kaum fielen die Temperaturen unter eine Marke von 15 Grad, befeuerte Leonie den Kaminofen. Betrat Kilian die gemeinsame Wohnung im Anschluss an seine Schicht, traf ihn der Hitzeschlag. Zig Dutzend Duftkerzen verströmten jedwede nur erdenkliche Geruchsarrangements. Die Namen erschienen ebenso wagemutig wie die bunt verzierten Gläser. Feurige Wildkirsche, süße Winterkaktusfeige, goldenes Schneepflaumenmus. Ernsthaft, wer dachte sich den Schwachsinn aus?
Kerzenschein gehörte zur besinnlichen Stimmung der Jahreszeit. Behauptete Leonie. Eher pragmatisch betrachtete Kilian die Situation - die Dinger sparten Strom. Simpel ausgedrückt, entsprach er nicht dem Typ Mann der großen Gefühlsduseleien. Zurückgeführt auf seine berufliche Laufbahn. An ein sehr gutes Abitur absolvierte er den Wehrdienst. Immer schon hatte er eine Polizeikarriere angestrebt. Heute, im Alter von 38 Jahren, auf eine vorbildliche Entwicklung zurücksehend, trug er das Dienstgradabzeichen Erster Polizeihauptkommissar. Zahlreichen Überstunden verdankte Kilian, von seinem Vorgesetzten bald als Polizeiratsanwärter berücksichtigt und vorgeschlagen zu werden. Damit würde er seine gesetzten Ziele erreichen. Die frohe Kunde warf dunkle Schatten, nämlich auf seine Beziehung. Der Enddreißiger investierte sein Herzblut in seinen Job. Für Leonie blieb kaum Herz übrig. Ihr gefiel das ganz und gar nicht. Tat es nie. Regelmäßig führte Kilians Beruf zu Streitereien.
Berufung schien der passendere Begriff. Für ihn war es eine solche.
Ein Streitgespräch erwartete den Polizeihauptkommissar kurz vor dem Wochenende. Am Freitag ließ er ausnahmsweise pünktlich den Stift fallen, kaufte auf dem Weg vom Polizeipräsidium zu seiner Wohnung einen Strauß roter Rosen. Er ersehnte einen Abend mit seiner Freundin. Sogar überlegte er, sie samstags in ein Restaurant auszuführen. Ihr endlich den Heiratsantrag zu machen, auf den sie seit Jahren pochte.
An seinem 30. Geburtstag waren sie zusammengekommen. Der Altersunterschied von 24 Monaten hatte ihn nie gestört. Sie schon. Leonie zweifelte an ihrer Erscheinung, ihrer Autorität, ihrem Ansehen. Ständig. Auf der Suche nach Komplimenten bemäkelte sie in Dauerschleife ihre Figur, ihr Aussehen, ihre Kleiderwahl, hinterfragte ihre Stelle im Lehramt an der öffentlichen Realschule. Bei Kilian biss sie auf Granit. So wenig er sich einen Romantiker nannte, so selten verlor er sich in Schmeicheleien. Entsprechend gedachte er, Wiedergutmachung zu leisten. Das wollte er.
Er steckte den Schlüssel zu seiner Eigentumswohnung in das Schlüsselloch. Sie befand sich im Ortsteil Winterhude im ersten von drei Stockwerken eines Mehrfamilienhauses mit sechs Parteien. Ehe er aufschloss, zwickte sein Bauch. Die Art eines mulmigen Gefühls beschlich ihn, welches für gewöhnlich ein Omen darstellte. Kilians Magen rebellierte, seine Nackenhärchen standen aufrecht. Sein Mund fühlte sich trocken an. Ihm schwante Böses. Jahrelange Erfahrung lehrte ihn, seinen Instinkten zu vertrauen. Geistig auf Unvorhergesehenes vorbereitet, betrat er sein Apartment. Erstes Indiz, es brannte keine Kerze. Sich umschauend, schlüpfte er aus seinem Flanellmantel. Er vermisste den Geruch von Essen. Ebenfalls ein Beweis für sein flaues Bauchgefühl, Leonie hatte nicht gekocht. Vom Flur gelangte er ins Wohnzimmer. An die Stube grenzte die offene Küche und er behielt recht, der Herd blieb kalt. Neben der samtigen Couch erleuchtete eine Stehlampe den Wohnbereich gerade genug, sodass Kilian keine Deckenleuchte anschalten musste, auch nicht über seine Füße stolperte. Das monströse Teil in Form einer Pflanze, aus deren Blüte die Glühbirne herausragte, hatte sie unbedingt haben wollen, er dagegen fand es hässlich.
Zunächst durchsuchte Kilian das Duschbad, danach das Schlafzimmer. Von seiner Lebensgefährtin fehlte jede Spur. Zumindest hinterließ sie eine Nachricht, abgelegt auf dem Kissen auf ihrer Seite des Bettes. Der rechten. Ein Anflug von Aufregung erfasste ihn. Ungeduldig zerriss er den Umschlag, holte den selbstgeschriebenen Brief heraus. Wenig überraschend erklärte sie darin, ihrer Beziehung eine Pause zu gönnen. Leonie zog zu ihrer Mutter. Sie brauchte Zeit, gewisse Dinge zu überdenken. Kilian sollte sie weder kontaktieren, gar aufsuchen.
Lag es an seinem Charakter oder stumpfte er im Zuge seiner Arbeit als Polizist ab? Was der Grund war, Emotionen der Traurigkeit traten nicht auf. Nichtsdestotrotz empfand er beim Klang eines just eingehenden Anrufs Erleichterung. Ablenkung, die beste Art der Verdrängung. „Stahl“, meldete er sich. Schweigend hörte er der Person am anderen Ende der Leitung zu. „Verstehe. Ich bin gleich da.“ Er legte auf. Denselben Weg, den er gekommen war, stampfte er zurück. Gefühllos packte er seine Jacke, zog sie über und die Haustüre hinter sich zu. Die Arbeit, unter dem Deckmantel seiner Leitzentrale, der Grund für die - hoffentlich - temporäre Trennung, rief.

Sein nächster Fall führte Kriminalhauptkommissar Stahl zu einem Hamburger Nachtclub. Wobei der Begriff dem Etablissement nicht gerecht wurde. Kilian hob eine Augenbraue. Von außen betrachtet, wirkte die Fassade verschlissen. Der bräunliche Putz, der an eine Eierschale erinnerte, bröckelte. Unscheinbar für Laufkundschaft befand sich der Laden in einer Seitenstraße abseits der Partymeile. Neben der Eingangstüre aus brüchigem Holz prangte ein Schild, das einzige Zeichen, der den Zweck des Schuppens preisgab. „Geisha Dreams“ lautete der Firmenname. Man brauchte kein Experte für japanische Unterhaltungskünstlerinnen sein, um zu erahnen, welche Form der Gastfreundschaft den Besucher im Innern erwartete.
Frösteln aufgrund des unüblich kalten Winds veranlasste Kilian, den Reißverschluss seiner Jacke zu schließen und den Kragen aufzustellen. Sein Arbeitskollege und Partner, Erich Richter, sollte innerhalb weniger Minuten eintreffen. Das Urgestein arbeitete mittlerweile seit 45 Jahren im Polizeidienst. Nicht verwunderlich, dass er im kommenden Kalenderjahr seinem Ruhestand entgegensah. Unter Erichs prüfendem Blick absolvierte der junge Polizeianwärter seine Ausbildung. Nachdem der ursprüngliche Partner seinen Kampf gegen den Krebs verloren hatte, wurde der frisch gebackene Kommissar seinem ehemaligen Tutor zugewiesen. Dieses Ereignis lag ein halbes Jahrzehnt zurück. Auch wenn sie jetzt gleichberechtigte Kollegen waren, Kilian verspürte Erich gegenüber denselben Respekt wie zu Ausbildungszeiten. Und er empfand es als eine Ehre, ihn in seinem letzten Berufsjahr zur Seite zu stehen.
Mit dem Glockenschlag, der 20 Uhr ankündigte, traf Erich ein. Ein weiteres Mal in dieser Woche bemerkte Kilian sein Humpeln. Unter normalen Umständen ließ sich der Mittsechziger nicht in die Karten blicken. Das bedeutete, er sprach nicht über seinen Gesundheitszustand. Unmöglich verschweigen konnte er seine 25 Kilogramm Übergewicht, die ihm das Rennen, Klettern, selbst das Bücken erschwerten. Ansonsten wirkte der baldige Rentner fit. Erst die letzten Wochen klagte er beizeiten über Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme, gelegentliche Knieschmerzen. Diese äußerten sich dadurch, dass er ab Montag sein Bein nicht mehr strecken konnte. Gerne wollte Kilian Erich nach seinem wahren Befinden fragen, aus Taktgefühl unterließ er es. Den alten Starrkopf hätte er unnötig vor den Kopf gestoßen. Stolz zählte zu seinen größten Schwächen.
„Kilian“, grüßte Kommissar Richter. „Erich“, erwiderte er den Gruß. Kopfnickend deutete der Ältere auf das „Geisha Dreams“, wischte mit dem Finger seine triefende Nase ab und verlangte zu wissen: „Weißt du näheres?“ Leer auf die brüchige Tür blickend, entgegnete er: „Lediglich, was uns der Streber mitgeteilt hat.“ Hinter dem „Streber“ steckte ein blutjunger Streifenpolizist. Für sein Leben gern machte Aaron Müller Überstunden. In Kilian erkannte er sein großes Vorbild. Allen Hindernissen zum Trotz erwog der frisch gebackene Polizeiabsolvent, mit Anfang 20 die Karriereleiter in Blitzgeschwindigkeit emporzuklettern. Doppelschichten und Wochenendarbeit inbegriffen. Vor 2 Stunden erhielt die Leitzentrale einen anonymen Anruf aus dem „Geisha Dreams“. Die Person besaß eine weibliche Stimme. Vermutlich hatte es sich bei der Anruferin um eine Angestellte gehandelt, da Gäste überwiegend männliche Herrschaften waren. Sie berichtete von einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei Besuchern. Der zunächst verbale Konflikt mündete in einer Schlägerei. Aus eigener Kraft schafften die Damen des Hauses nicht, die Streithähne zu treffen, woraufhin sie um polizeiliche Unterstützung baten. Streber Müllers Streife traf am Ort des Geschehens ein, zu dem Zeitpunkt hatte der eine den anderen ins Jenseits geschickt. Im wahrsten Sinne. Aus dem banalen Ereignis wurde ein Fall für die Kriminalpolizei. Wen holte Aaron am liebsten aus dem Feierabend? Richtig! Kilian stieß einen Seufzer aus. Angrenzend betraten er und Erich den Tatort. Und damit eine neue Welt.

Es duftete nach gedämpften Äpfeln, Zimt und Rosinen. Der Geruch erinnerte an Weihnachten. Bereits der Flur glich in keiner Weise dem schalen Außengebäude. Vollkommen in Flieder und Violett getaucht, erstreckte er sich über 10 Meter in die Länge. Er war schmal, Kilian und Erich konnten kaum nebeneinander hergehen. Bald erreichten sie eine offene, nicht durch eine Tür abgesperrte Eingangsstelle. Sie traten ein, endeten vor einer Theke aus rötlichem Nussbaumholz. Das Rot stand in Kontrast zum Lilaton des von unzähligen Deckenlampen ausgehenden Lichts. Hätte man Kilian gefragt, wäre er zu dem Entschluss gelangt, hier herrschte das ganze Jahr über weihnachtliche Stimmung. Fehlte der Nikolaus. Für die eingeschüchterte Empfangsdame stellten er sowie sein Partner offensichtlich die Reinkarnationen des Weihnachtsmanns samt Christkinds dar. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Darüber hinaus hörte er quasi sämtliche Felsbrocken von ihrem flatternden Herzen fallen. "Die Polizei!", stieß sie erleichtert aus. Nickend stellte sich Erich vor, Kilian inbegriffen: "Kriminalhauptkommissar Richter. Das ist mein Kollege Stahl." Automatisch ließen beide ihre Blicke schweifen, inhalierten die Details ihrer Umgebung. "Sie sind?", fragte der Ältere währenddem. Schüchtern kam die junge Frau im Studentinnenalter hinter dem Tresen vor. Enge Jeans betonten ihre dünnen Beinchen. Gründete ihr Untergewicht in Stress, weil sie neben einem vermeintlichen Studium des Nachts arbeitete? Beendete sie kürzlich eine Beziehung? Was hinter ihrer Erscheinung steckte, gesund war es in keinem Fall! "Miriam Gartner", nannte sie ihren Namen, winkte dann ab, "Milly. Nennen Sie mich Milly." Nun, das würden die Beamten nicht tun. Kilian betrachtete das halbe Kind. Er, das wusste er, würde seine Tochter mitnichten in einem Männerparadies arbeiten lassen! Vorher bezahlte er Studium einschließlich aller anfallenden Kosten!
Erich verwickelte Milly in eine lockere Unterhaltung, eine Form der versteckten Befragung. Das umsichtige Vorgehen führte zu einem Auftauen ihrerseits. Allmählich legte sie ihre Vorsicht ab, beantwortete die Fragen, erzählte nebenbei von Täter und Opfer. Ihre Ablenkung durch den erfahrenen Kriminalpolizisten nutzte Kilian, um ins Innere vorzudringen. Möglichst geräuschlos schlenderte er einen weiteren Flur entlang. Am anderen Ende drang Musik aus einem von einer Doppeltür versperrten Raum an sein Ohr. Seltsame Klänge, die er keiner Musikrichtung zuzuordnen imstande war, die er für eine Art Folklore hielt. Im Hintergrund vernahm er die Stimmen seines Partners und dem des Mädchens. Sofern er die Gesprächsfetzen richtig zusammenfügte, gelangten sie bei dem Punkt an, wo einer der zankenden Männer die Oberhand im Zweikampf gewonnen, den anderen zu Boden geschlagen und verprügelt hatte. Die Security konnte ihn wohl überwältigen, ihm vom wehrlosen Opfer fortzerren. An den Folgen des Sturzes, im Zuge dessen der Verstorbene mit seinem Hinterkopf auf den Fließen aufschlug sowie den kassierten Prügeln, starb er. Stellte sich für Kilian die Frage, wenn der Laden über Sicherheitspersonal verfügte, warum schritt der Wachmann so spät ein? Mit dem Gedanken betätigte Stahl die Klinken beider Türen. Erfolglos. Er rüttelte daran. Genauso chancenlos. Sie war abgesperrt. Die Geschäftsleitung hatte das „Geisha Dreams“ für den heutigen Abend sicher geschlossen. Gut, dann widmete er sich eben der Zeugin. Schon drehte er auf dem Absatz, da erklang ein Knacken. Stirnrunzelnd wandte er sich nochmals um. Ein Spalt breit war der Eingang geöffnet. „Okay“, grunzte Kilian. An Gruselgeschichten hatte er nie geglaubt. Kurzerhand quetschte er sich durch die Enge. Als er die Schwelle passiert hatte, fiel ihm der veränderte Duft auf. Nicht alleine das Odeur, die gesamte Atmosphäre war verquer. Es heißen ihn keine Lilatöne willkommen, Rot beherrschte das Ambiente. Ein Steg verlief von der Raummitte bis zum hinteren Teil, endete in einer Bühne, vor der Wand. Dazu nahm dieser Bühnenbereich die Wandfront fast vollständig in Beschlag. Um das Arrangement herum standen runde Glastische mit weinroten Tischdecken. Zu je einem Tisch gehörten vier Stühle. Karminrote Polster dienten dem Komfort. Rechts von Kilians Position befand sich eine großzügige, hervorragend bestückte Bar, gefertigt aus demselben Material wie der Empfangstresen im Eingangsbereich. Wandregale offerierten einen Blick auf die vielfältige Auswahl an Spirituosen. Eine teuere Flasche stand neben der anderen. Kilian schnappte würzige Duftnoten auf. Komponenten aus Alkohol, Tabak, Zitrus, Rosenblüten und Minze. Die Mischung berauschte ihn. Gleichzeitig bescherte ihm die hektische Musik Kopfschmerzen. Ziellos und ein bisschen benebelt von der schweren Luft wanderte er zwischen den Tischen umher.
Die Folklore stoppte und er tat es ebenso.
Seine Augen richteten sich auf die Bühne. Leise ertönte ein neues Lied. Er erkannte die darin gesungene Sprache nicht. Unterbewusst nahm er wahr, dass das Licht schwand.
Nur einen Moment später erschien sie. Eine Göttin.

Klack, klack, klack.
Das Klopfen von Schuhen auf Boden veranlasste Kilian, die Gestalt zu betrachten, die aus dem für Besucher unzugänglichen Bereich auf die Bühne heraustrat.
Ein vergleichbares Individuum hatte er vorher noch nie gesehen, geschweige denn war er einem begegnet! Ein weibliches Wesen erschien, das in puncto Grazie Vertreter gleichen Geschlechts weit in den Schatten stellte. Ihren Gang als elegant zu bezeichnen, entsprach zu 0 Prozent einem angemessenen Vergleich. Ihm stand der Mund offen, er war sprachlos. Die Frau setzte ihre langen, symmetrisch geformten, schlanken Beine eins vor das andere. Bestens gewährte ihm ihr bodenlanger, rosafarbener Kimono, mit Blümchen verziert und einem vorderen Schlitz versehen, einen Blick darauf. Ihre Füße steckten in eine Art Sandalen aus Holz. Solche, die in Japan vorkamen, deren Namen er nicht wusste. Hüftlanges Haar fiel in offenen Wellen über die schmalen Schultern. Die Farbe war weiß. Vor einer Minute hätte er sich niemals träumen lassen, dass es das in unterschiedlichen Tönen geben konnte. Inzwischen erkannte er, wie falsch er lag. Das Schimmern erinnerte ihn an den Vollmond, wenn er sich auf der Meeresoberfläche bei Nacht spiegelte. Malerisch. Wunderschön. Wie die zarte Blässe ihrer Haut. Oder die Tiefe ihrer Augen. Von der Ferne schien es Kilian unmöglich, den dunklen Glanz der Iris einer Farbkategorie zuzuordnen. Leicht geöffnet war ihr Mund, die Lippen voll und rosig. Zu Boden richtete sie ihre Augenlider. Auf ihn wirkte ihre Körpersprache starr, ihre Miene verträumt. Die Schönheit ihrer feinen Züge wurde einzig von ihrer Sinnlichkeit überstrahlt. Das Gesamtbild raubte Kilian den Atem. Unter dem Saum ihres breiten, orangefarbenen Gürtels holte sie einen Fächer hervor. Dann begann sie zu tanzen. Zur märchenhaften Musik im Hintergrund. Gefangen in ihrem Bann vergaß Kilian Zeit und Raum. So war es keineswegs verwunderlich, dass er seinen Kollegen Erich nicht hereinspazieren hörte. Von hinten kommend gesellte sich der Alte neben ihn. Stumm begaffte er die Tänzerin. Wiederum schien sie ihre Umgebung vollständig auszublenden. Ihr Körper wiegte sich im Takt des Liedes, grazil schwangen ihre Arme den Fächer.
Ihn kostete es Überwindung, die Sicht von der Künstlerin zu lösen, dennoch begutachtete Kilian seinen Kollegen für einen Augenblick. Bei seinem gierenden Gesichtsausdruck lag die Vermutung einer festen Partnerschaft fern. In Wahrheit war Erich Richter seit 35 Jahren verheiratet. Hätte Marianne das Gesicht ihres Mannes gesehen, die Art und Weise, wie er die junge Schönheit betrachtete, wäre sie zum Scheidungsanwalt gerannt! Kilian machte es ihm nicht zum Vorwurf. Er konnte diese Begierde in den Augen seines Freundes nachvollziehen. Obwohl er das tat, registrierte er einen Stich der Eifersucht. Was völlig absurd war!
Die Musik stoppte, die Künstlerin beendete ihren Tanz. Unmittelbar bemerkte sie die Eindringlinge und fuhr erschrocken zusammen. Beide Polizisten hüpften einen Satz nach vorne in der Absicht, ihre Furcht zu beschwichtigen. Ungeschickt stieß Erich gegen einen Stuhl. Polternd fiel er zu Boden. „Kriminalpolizei“, sagte Kilian rasch, damit sie ihr vermeintliches Bestreben aufgab, die Flucht zu ergreifen, „wir haben nur ein paar Fragen an Sie.“ - „Die werde ich Ihnen beantworten!“, dröhnte es von der Türe, zu der die Männer hereingekommen waren. Indes der Alte sein schmerzendes Schienbein rieb, wandten sich er und sein jüngerer Partner dem Eintretenden zu. Besser formuliert, der Eintretenden. Eine Frau, mindestens genauso exotisch in ihrer Erscheinung, abgebrühter in ihrem Auftreten, stolzierte auf die Herren zu. Hinter ihrem Rücken verbarg sich schüchtern das Mädchen vom Empfang. Ehe einer der Kommissare die Chance bekam, zu sprechen, riss die rothaarige, mandeläugige Frau das Wort an sich: „Fox! Genug geprobt! Du darfst auf dein Zimmer gehen!“ Meinte sie die Tanzende? Das leiser werdende Klopfen von Holzschuhen bestätigte seine Mutmaßung. Sie war im Begriff, den Raum zu verlassen! Schade! Ein Gefühl des Verlusts keimte in Kilian. Er schluckte einen Kloß. Gerne hätte er ihr nachgesehen. Jahrelange Berufserfahrung verleitete ihn, sein Augenpaar auf den Neuankömmling zu heften. „Reiko Inarizuma“, machte sie sich bekannt, „Geschäftsführerin.“ Oh, das glaubte er sofort! Ihre Attitüde schrie förmlich nach CEO! Bei den Beamten angelangt, fragte sie: „Wie kann ich helfen?“

Die Befragung dauerte eine halbe Stunde. In der Zeit bestätigte sich Killians Bild von der Dame: Reiko Inarizuma war die Arroganz in Person!
Zweifelsohne unterstrich die Optik ihren egozentrischen Charakter. Rot lackierte Fingernägel, passende schwarze Nietenpumps und Lederkleid, inklusive sichtbarer halterloser Strümpfe, gehörten einer 1,80 Meter großen Diva mit mokkafarbenen Mandelaugen und feuerrotem, zu Cornrows geflochtenem Haarschopf. Der gewaltige Schuhabsatz ließ sie eine Höhe erreichen, an die kaum ein Mann heranreichte. Alleine damit schüchterte sie jedes männliche Geschlechterexemplar ein, von weiblichen Leidensgenossinnen ganz zu schweigen. Während sie ihre Aussage zu Protokoll gab, zeigten ihre Mundwinkel nach unten, was ihr im schummrigen Licht ihres Büros eine teuflische Fratze verlieh. Über die Dauer hatte es Kilian bereut, ihr in die Höhle des Löwen gefolgt zu sein. Dem Territorium der Hexe. Das Faible für Rot erkannte er in der Einrichtung wieder. Sowohl der Kundenbereich war in verschiedenen Rottönen gehalten, als auch das abgeschottete Großraumbüro im hinteren Gebäudekomplex, für das Investmentbanker die gebürtig aus Japan stammende Reiko Inarizuma beneiden würden. Wenn er sich hier umsah, konnte er sich gut vorstellen, dass ihr Arbeitsplatz größer war wie manche Studentenwohnung. Für eine hoheitliche Persönlichkeit gerade angemessen.
Zum aktuellen Fall steuerte sie wenig Neues bei. Kombinierte man die Aussagen der Angestellten mit jener der Chefin, ergab sich daraus eine logische Geschichte. Die beiden Herren zählten zu den ersten Gästen an diesem Abend. Fox, die schöne Tänzerin, eine sogenannte Geisha, präsentierte ihre Show. Als Unterhaltungskünstlerin oblag es ihrer Verantwortung, das Publikum zu begeistern, es zu halten und neue Zuschauer anzulocken. Wen zog sie nicht in ihren Bann, fragte sich Kilian zurecht. Bemessen an ihrem Probeauftritt musste sie ein Publikumsmagnet sein. Anziehend empfanden sie jedenfalls die Streithähne. Kellnerinnen sollen den Beginn des Zanks bemerkt und CEO Inarizuma informiert haben. Hintergrund der plötzlich lautstarken Auseinandersetzung war die Geisha. Jeder von ihnen wollte einen Einzeltanz buchen. Offensichtlich bot das „Geisha Dreams“ Showeinlagen dergleichen an. Da ausschließlich eine Reservierung für ein Einzel pro Abend berücksichtigt wurde, debattierten die Interessenten darüber, wer den Zuschlag erhielt. Der Zwist artete aus. Frau Inarizuma kam dazu, als das Opfer am Boden gelegen war. Sie rief den Sicherheitsdienst. Die Empfangsdame, welche durch flüchtende Kunden von der Sache erfahren hatte, folgte Sicherheitschef Thorsten Rau aus blanker Neugierde zum Bühnenbereich. Sie informierte die Polizei, derweil fasste Rau den Täter und Reiko versuchte, ihre Kundschaft zu beschwichtigen. Für den Rest des Abends sollte das „Geisha Dreams“ geschlossen bleiben. Miriam "Milly" Gartner behielt ihre Stellung am Empfang, um Eintreffende auf den morgigen Termin zu vertrösten. Inarizuma schickte die Kellnerinnen, Bardamen und Sicherheitsmann aka Türsteher Thorsten Rau nach Hause. Blöd für die Kommissare, welche die Aussagen im Nachgang aufnehmen mussten. Erich ließ sich Adressen und Kontaktdaten geben, Kilian die Erzählung Revue passieren. Intuitiv hegte er den Verdacht, die Geschäftsführerin im Domina-Look erzählte längst nicht alle ihr bekannten Details.

Der Fall war klar. Die übrigen Angestellten bestätigten die Story, der Täter legte ein Geständnis ab. Reumütig erklärte er, nicht zu wissen, was in ihn gefahren war. Kilian tat es. Fox!
Er hatte das Mädchen ein einziges Mal gesehen, ihre Ausstrahlung für maximal fünf Minuten genießen dürfen. Eine Woche war vergangen und seit dem Abend kriegte er sie nicht mehr aus dem verfluchten Schädel! Beschämend, denn er vergaß, Leonie anzurufen. Die Frau, welcher er am letzten Freitag einen Heiratsantrag machen wollte. Fox schaffte es, ihre Präsenz aus seinem Hirn zu tilgen. Wurde er deshalb den Verdacht nicht los, die Ursache hinter dem unglücklichen Sturz mit Todesfolge übersehen zu haben? Oder hielt er am Bauchgefühl fest, weil er die Tänzerin erneut sehen wollte? Wahrscheinlich lag die Wahrheit dazwischen. Welcher Grund auch überwog, er führte Kilian am Samstag in eine vertraute Gegend. Bis er vor dem „Geisha Dreams“ landete, hatte er sich eingeredet, ein Feierabendbier nach einer harten Arbeitswoche trinken zu gehen. Irgendwo im Hamburg. Ausgerechnet dort. Thorsten Rau, der Sicherheitsmann, zum Türsteher abberufen, erkannte ihn sofort. Von einigen Metern Entfernung. "Herr Kommissar!", rief er lächelnd, sein Dialekt traten stimmlich zum Vorschein, "Sie hier? Sagen Sie nicht, Sie schleppen mich gleich auf die Wache! Ey, die Chefin hat heute richtig miese Laune, ich darf ich ausfallen!" - "Nein, nein!", beschwichtigte Kilian den Hünen, traf inzwischen am Eingang ein, "heute komme ich zum Trinken!" Als Reaktion auf sein "Nein" fielen Rau Felsbrocken vom Herzen. Das konnte er allzu gut verstehen. Erinnerte er sich an die positive Stimmung Frau Inarizumas bei ihrer ersten und einzigen Begegnung, mochte er sich keinesfalls vorstellen, wie sie heute drauf sein musste! Armer Thorsten! Es dauerte weitere 60 Sekunden, ehe die restlichen Worte des Polizisten die Synapsen im Kopf des bulligen Riesen erreichten. Nachdem er Kilians Intention kapierte, lachte er und stieß grunzend aus: "Ah, Herr Kommissar! Sicher! Treten Sie ein! Bitte, bitte!" Betrachtete man die Erscheinung des Rausschmeißers, passten der gebügelte, schwarze Anzug, das faltenfreie weiße Hemd, auf Hochglanz poliertes Schuhwerk und die gestriegelte Frisur zu null Prozent zum bröckelnden Putz der Hausfassade. Wer mit Innenbereich und -einrichtung vertraut war, den verwunderte Thorstens Präsenz nicht. Übertrieben höflich hielt er Kilian die Türe auf. Dankbar nickte der 38-jährige und passierte die Schwelle ins Reich der Träume.

Ähnlich erschrocken verhielt sich die Empfangsdame. Ebenfalls ihren Hader erstickte Kilian. Aus Respekt vor seinem Beruf bot sie an, auf das Eintrittsgeld zu verzichten. Das Angebot lehnte er ab. Unter keinen Umständen lag er auf den Taschen der Domina-Geschäftsführerin, beziehungsweise blieb ihr Geld schuldig! Stolze 100 Euro berappte er.
Er schlenderte den Gang entlang, den Eingang zum Tanzsaal fixierend. Die Tür stand offen. Angestellte kamen ihm entgegen oder rauschten geschwind an ihm vorbei. Kellnerinnen und Barpersonal. Im Gegensatz zum vergangenen Besuch drang keine Musik, sondern lautes Gerede an sein Ohr. Seine Nase schnappte Schweißgeruch auf. Die Quelle dessen identifizierte er einen Moment später. Vollgestopft mit Menschen, Männern, präsentierte sich der Veranstaltungsraum. Sämtliche Tische waren belegt. Nicht sitzende Herren verteilten sich stehend. Wobei "verteilten sich" das falsche Wort war. Körper drängte an Körper. Die Szene erklärte, weshalb draußen keine Menschenschlange wartete. Thorsten verwehrte weiteren Einlass. Für Kilian machte er eine Ausnahme. Beim Eintreten vernahm er das aktuell laufende Musikstück. Folklore. Gänzlich an seinem Geschmack vorbei. Glücklicherweise übertönte das Geschnatter von unzähligen Männern den hastigen, Kopfschmerzen verursachenden Rhythmus.
Das in rötlich und lila Laserstrahlen schimmernde Licht erlosch. Dunkel wurde es im Raum. Schlagartig versiegte das Gerede. Die Vorführung begann.

Die Frau mit dem ungewöhnlichen Namen Fox betrat die Bühne. Ungewöhnlich dahingehend, da er in Deutschland selten vorkam und ihr Aussehen, mit dem eines Fuchses wenig gemein hatte.
Ihr weißes Haar steckte sie zu einem Knoten hoch. Eine lose Strähne strich sie hinter ihr Ohr. Hochhackigen Holzsandalen und Kimono blieb sie treu, wählte eine knalligere Farbe. Von der Decke fiel lila Licht auf sie. Dazu harmonierte das Orange ihres Kleids perfekt. Den Fächer tauschte sie gegen ein ungewöhnlich aussehendes Saiteninstrument. Sicherlich stammte es aus dem asiatischen Raum, verschaffte dem Auftritt einer Geisha dadurch Authentizität. Tage später sollte Kilian den Namen des Instruments erfahren. Shamisen.
Für den Augenblick genoss er das Spiel der Künstlerin auf ihrer Laute. Ihm gefielen die seltenen Klänge. Je länger die Vorführung dauerte, desto stärker lullte das sachte Tempo ihn ein. Gleich erging es dem Rest der Gesellschaft. Jedwede Unterhaltung stoppte. Außer dem rhythmischen Zupfen der Saiten waren keine Geräusche zu vernehmen. Dass sie ihr Musikstück beendet hatte, nahm Kriminalkommissar Stahl erst Minuten später wahr. Enttäuschung kroch ihm die Kehle hinauf. Vordergründig, weil Fox hinter der Bühne verschwunden war. Nach Ablenkung suchend bahnte er sich einen Weg zur Bar. Selbige Gedanken teilten ein Dutzend Durstige. Insofern wartete er 25 Minuten auf seine Bestellung. Keinerlei Vorwurf den Bardamen! Die mit knappen Shirts und engen Jeans bekleideten Frauen unter 30 rannten von einer Ecke zur anderen. Um die Bedürfnisse der Allgemeinheit zu stillen, gaben sie Gas. Fast eine halbe Stunde stand Kilian eingepfercht zwischen verschwitzten, Schweißgeruch absondernden Bikern, wollüstigen Opas und gelangweilten Geschäftsleuten.
Wieder schwand das Licht. Ein Bier in der Hand, wandte sich Kilian zur Bühne. Der Himmel erhörte seine Hoffnung, Fox gewährte ihren Fans eine Zugabe. Applaus folgte ihrem Eintreffen. Jubelrufen maß sie keine Bedeutung bei, ihr Gesichtsausdruck wirkte unberührt.
Musikboxen stimmten eine Mischung aus Violinenspiel und Folklore an. Foxs Tanz erkannte Kilian direkt. Ihn studierte sie beim letzten Mal ein, als er das „Geisha Dreams“ besucht hatte. Ohne seine Augen von ihr zu nehmen, fragte er: „Treten weitere Künstlerinnen auf oder beschäftigt Frau Inarizuma ausschließlich sie?“ Noch während er sie stellte, überlegte er, an wen er die Frage überhaupt richtete. Er verbuchte seine sie unter der Rubrik Selbstgespräche. Die herumstehenden Männer würdigten ihn keines Blickes, die Barmädchen atmeten kurz durch. Sobald der Akt sein Ende fand, stürmte das zweite Dutzend Getränkesuchende an die Theke. Derweil wurde Kilians Wissbegierde gestillt. Im Laufe des Abends verfolgte er insgesamt acht unterschiedliche Performances. Nur drei davon präsentierte Fox. Vier Geishas übernahmen die restlichen fünf, deren Spektrum von Geigenspiel, Singen, Schauspielkunst bis zu Ballett reichte. Keine von ihnen verfügte über die Grazie der ungewöhnlichen Weißhaarigen. Bemessen am halbherzigen Applaus zogen alle Anwesenden dieses Resümee. Die Mehrzahl harrte aus, in der Hoffnung, einem letzten Auftritt der Talentiertesten beizuwohnen. Und, sie wurden nicht enttäuscht!
Reiko Inarizuma beherrschte ihr Handwerk - ein Männerparadies zu führen, das männliche Geschlecht um den Verstand zu bringen. Indem Fox das Abendprogramm eröffnete und abschloss, sorgte sie für einen konstant gefüllten Laden. Ergo: vollgestopftes Haus, volle Taschen!
Zwischen den Vorführungen der Geishas plünderten die erregten Herren samt erhitzten Gemüter die Bar. Ob bis Geschäftsende überhaupt noch irgendwelche Spirituosen übrig bleiben oder die Gäste den Bestand bis dato leer saufen würden, war fraglich. Großes Interesse am Lösen des Rätsels verspürte Kilian nicht. Lieber konzentrierte er sich auf den finalen Akt. Fox, schöner wie zuvor, hauchte eine Ballade. Die Sprache schätzte er auf Japanisch. Zwar war ihm der Text nicht geläufig, trotzdem versank der sonst unromantische Polizist darin. Die Muse von einer Frau sang mit tief empfundener Hingabe. Sie schaffte es, ihr Gefühl zu transportieren und jeden im Raum zu berühren. Manch einer wischte die Tränen von seiner Wange. Auch der harte Kommissar Stahl schluckte. Ebenso erging es Muskelberg Thorsten, der irgendwann am Eingang des Tanzsaals aufgetaucht war.
Fünf Minuten dauerte das Lied. Zum letzten Mal an dem Abend ertönte Jubel. Nachdem Fox gegangen war, empfand Kilian ein Gefühl des Verlustes. Sichtlich verwirrt darüber, hörte er auf zu klatschen. Er hielt inne, starrte ins Leere. Derweil pfiffen und applaudierten die umstehenden Herren weiter. Wenngleich er seine Empfindungen nirgendwo zuzuordnen imstande schien, eine Sache wusste er - er wollte Fox unbedingt wiedersehen!

In den kommenden Wochen setzte er sein Vorhaben in die Tat um. Gleich mehrfach. Freitag, Samstag, Sonntag. Jeden einzelnen Wochenendtag verbrachte Kilian im Geishaparadies. Stets zählte er zu den ersten eintreffenden und letzten gehenden Gäste.
Etliche Stunden brachte er im Tanzsaal zu, fieberte Foxs seltenen Darbietungen entgegen. Zwei bis maximal drei Male pro Abend gewährte sie dem Publikum die Ehre ihrer Präsenz. Meistens stimmte sie den Auftakt an, erschien dann wiederum zum Schluss und beendete das Programm gegen Mitternacht.
Fox verwandelte das „Geisha Dreams“ in eine Goldgrube. Sie stellte das unangefochtene Highlight dar. Dem war sich Frau Inarizuma gewahr. Zu Auftritten ihres Geldesels erschien die Geschäftsfrau persönlich. Zu jedem. Ausnahmslos.
Unabhängig von dieser Tatsache, fielen Kilian andere auf. Erstens, Fox beherrschte Gesang, Tanz, darunter Ballettstücke, eine Mischung aus Singen und Tanzen, Pantomimenspiel zu Musikstücken sowie das Spiel auf ihrer Shamisen. Ihre glockenähnliche Stimme glich der eines Singvogels. Zweitens trug sie auf der Bühne Kimonos. In unterschiedlichen Farbenvarianten. Alle standen ihr. Drittens verleitete sie die Männer durch ihre Performance zum Träumen. Viertens, der Aggressivitätspegel stieg, sobald die den Raum verließ. Bis zu ihrer Rückkehr am Ende der Show sank die allgemeine Laune. Kilian bildete keine Ausnahme. In Foxs Zauberbann fühlte er sich gefangen. Komisch, doch je mehr Zeit er zubrachte, sie zu betrachten, desto besser verstand er die Beweggründe der Streithähne, die sich geprügelt hatten. Wegen ihr. Dessen war sich Kilian inzwischen sicher.
Warum? Weil er jedem gerne eine runtergehauen hätte, der Fox anstarrte. Sprich, dem gesamten Saal! Seit geraumer Zeit kannte er sich selbst nicht mehr. Seine Wut ähnelte einem animalischen Instinkt, keinem menschlichen. Innerlich entsprach er dem Äquivalent eines Tieres in der Paarungszeit, das buhlte und sein Weibchen verteidigte.
Zum Glück sah sein ehemaliger Ausbilder ihn nicht auf diese Weise. Drei Wochen nach dem tödlichen Zwischenfall im „Geisha Dreams“ kam Erich ins Krankenhaus. Dort wurde er an Knie und Hüfte operiert. Seither war er regelmäßig ausgefallen. Immer öfter schwirrte das Gerücht herum, er würde nicht wieder zum Dienst erscheinen. Anfangs war die Botschaft für Kilian schmerzlich gewesen, schwer zu verkraften. Mit dem Voranschreiten der Zeit empfand er Dankbarkeit. Bisweilen hatte er es nicht geschafft, sich einen Reim darauf zu bilden, was mit ihm geschah, wie Fox auf ihn wirkte.
Welchen Fluch sie über ihn legte, unter dem Zauberbann stand er neben sich. Nicht allein an Wochenenden. Im Dienst versagte seine Konzentration. Wochen vergingen, er löste keinen seiner Fälle. Sein Vorgesetzter hatte Kilian angedroht, ihn zu beurlauben. Viele Chancen für eine Wiedergutmachung verblieben nicht. Er war im Begriff, es zu vermasseln. Seine Karriere. Die, welche ihm einmal alles bedeutet, weswegen er seine Beziehung geopfert hatte. Der Grund? Eine für ihn unerreichbare Frau.
Unerheblich! Kilians Lebenspfad führte bergab. Dessen machte er sich tagein, tagaus bewusst. Trotz dieser Talfahrt endete er freitags zur Happy Hour in demselben Etablissement. Beobachtete dieselbe Frau. Langsam kam er sich wie ein Voyeur vor!
Doch das Gefühl verging. Ähnlich dem Winter. Der Frühling brach an. Knospen der Erneuerung Sprossen aus allen Ecken. Blumen blühten. Die herrliche Frische des Grases erfreute die aus ihrem Winterschlaf aufwachenden Menschen mit seinem wohligen Duft. Tage wurden länger, Temperaturen wärmer. Dann, an einem Sonntagabend, geschah das schier Unmögliche: Fox Augen, die während ihres Showakts für gewöhnlich zu Boden gerichtet waren, beziehungsweise auf einen unbekannten Punkt im Nirgendwo zielten, wanderten zu Kilian. Zufall oder nicht, sie blickte ihn direkt an. Und raubte ihm den letzten Rest seiner Seele!

Diese Augen! Ein Meer aus ineinandergreifenden Farben. Von der Ferne, über die Menschenmasse hinweg, drangen sie in seinen Geist hinein. Für einen Moment vergaß Kilian das Atmen. Vor dem Erstickungstod bewahrte ihn der in ihm verankerte Reflex. Geräuschvoll schnappte er nach Luft. Zu dem Zeitpunkt bemerkte er den fehlenden Sauerstoff erst. Aufgrund seiner Überraschung blinzelte er flatterhaft. Im Bruchteil einer Sekunde erlangte er seine Fassung, doch als er seine Aufmerksamkeit wieder auf Fox lenkte, hatte sie die ihre abgewendet.
Hinterher passierte es. Das Unausweichliche. Gefühle der Enttäuschung und des Verlusts, welche Kilian immer verspürte, sobald die faszinierendste Frau aus seinen Augen entschwand, der er jemals begegnet war, überwältigten ihn. Die negativen Emotionen wurden übermächtig. Nicht länger in der Lage, seinen aufkeimenden Zorn zu unterdrücken, ließ er sich von ihm verschlingen. Im Detail hieß das, er explodierte. Ein Ventil fand sich schnell. Hinterrücks rempelte ihn ein Biker an. Ob Absicht dahinter steckte oder nicht spielte keine Rolle. Auf dem Absatz drehte sich Kilian um, donnerte dem Mittfünfziger in zerrissenen Jeans, Lederjacke, Cowboystiefeln, mit langen Haaren und Spitzbart seine Faust ins verdutzte Gesicht.

Am nächsten Tag erinnerte sich der Kommissar bruchstückhaft an den vergangenen Abend. Er hatte getrunken, so viel stand fest. Gnadenlose Kopfschmerzen empfingen ihn beim Erwachen um 06:30 Uhr morgens. „Verdammter Mist!“, fluchte Kilian, der sich an seinen dröhnenden Kopf fasste. Aus seinem Angriff auf den Rocker war eine Massenschlägerei entsprungen. Innerhalb von Minuten verdrosch jeder jeden. Der gesamte, menschliche Inhalt des Tanzsaals befand sich in Aufruhr.
Wie viele Nasen hatte er gestern gebrochen? Er erinnerte sich nicht! Langsam - seine Glieder fühlten sich steif an - entstieg er dem warmen Bett. Tabletten. Zwingend brauchte er eine! Eine Viertelstunde lang durchsuchte er das Bad. Erfolglos. Auf einmal dämmerte ihm, Leonie hatte die Schmerzmittel in den Küchenschränken verstaut. Selten benötigte er welche, sodass ihm die Tatsache schlicht entfallen war. Auf dem Vormarsch in die Küche, unter körperlichen Qualen, nahm er sich vor, künftig dem „Geisha Dreams“ fernzubleiben. Und Fox!
Kilians Vorsatz dauerte bis zum Abend.
Was wäre es für eine Erleichterung gewesen, hätte ihm Thorsten Hausverbot wegen seines Verhaltens erteilt! Problem gelöst.
Weit gefehlt, der Türsteher outete sich als des Polizisten Fan!

Die Nachricht über sein ausschweifendes Fehlverhalten erreichte im Verlauf der kommenden Woche die Polizeiwache. Mittwochs musste Kilian bei seinem Vorgesetzten vorsprechen. Mit verheerenden Folgen, er wurde suspendiert! Im Prinzip, Glück im Unglück. Schlimmstenfalls hätte sein Chef ihn abmahnen, gar kündigen können. Ein Diener der öffentlichen Hand durfte sich seinen Aufwallungen nicht hingeben. Das Gegenteil war der Fall, er musste sich beherrschen. Immerzu. Außerhalb des Dienstes hatte er Professionalität zu wahren.
Unter seinen Kollegen kursierte schon längere Zeit das Gerücht, Kilian sei unzurechnungsfähig. Sie verglichen ihn mit einem Pulverfass voll angestauter Emotionen. Zusehends fiel ihnen ein Umgang schwerer. Auf beruflicher und persönlicher Ebene. Wortkarg marschierte Kilian die Flure auf und ab. Nicht ein kleines Nicken zur Begrüßung schenkte er seinem langjährigen Kollegium, würdigte die Männer und Frauen keines Blickes. Schweigsam saß er am Schreibtisch, grübelte vor sich hin. Seit Monaten schob er ungelöste Fälle vor sich her. Von seiner ekelhaften Laune kamen seinem Partner Erich Richter, der sich die meiste Zeit im Krankenhaus oder Krankenstand zuhause befand, Gerüchte zu Ohren. Die Realität sparte er sich. Zum Glück!
Jemand anderem blieb Kilians Verhalten nicht verborgen: Der Führungsebene!
Zahlreiche Gespräche unter vier Augen im Büro des Bosses ergaben nur einen minimalen Effekt. Besserung stellte sich bis zum nächsten Wochenende ein. Zu Wochenbeginn ging der Eiertanz von vorne los.
Kilian Stahl, Kommissar auf Zwangsurlaub, sollte den Boden küssen. Durch Idiotenglück schlitterte er einer Beendigung seines Arbeitsverhältnisses davon. Dennoch bedeutete die Suspendierung einen Einschnitt in seiner bravourösen Karriere. Wenn er dachte, nicht tiefer zu sinken, lag er daneben. Wo fand er sich freitags wieder? An dem Ort, der ihn verhext hatte! Wegen des Fluches dieser betörenden Geisha steckte er im härtesten Schlamassel seines Lebens! Trotzdem war er hier, im Tanzsaal des "Geisha Dreams" und wartete auf sie. Was für ein Häufchen Elend er doch darstellte!
Nein, kein Häufchen. Einen Haufen!

Zu seiner erneuten Enttäuschung tauchte Fox den lieben langen Abend nicht auf. Ihre Kolleginnen übernahmen Auftakt und Schlussakt des Showprogramms. Da ihm Ablenkung in Form der bezaubernden Weißhaarigen fehlte, schaffte er es, sich im Raum umzusehen. Mehrstündige Beobachtungen führten ihn zu ernüchternden Ergebnissen. Um ihn machten Gäste und Angestellte einen Bogen. Zwar gewährte Thorsten ihm Eintritt, wie einst vor Kilians Auftritt und Anstoß zur Massenprügelei suchte er nicht den Kontakt. Der Türsteher sprach zwei Worte mit ihm, die waren „Hallo“ und „Tschüss“. Das Barpersonal beschränkte sich auf die Entgegennahme seiner Bestellungen. Zu seinem Glück setzte Reiko Inarizuma ihren Rundgang aus. Ihr wollte er am wenigsten begegnen! Die anwesenden Herren vermieden Augenkontakt. Vermutlich aus Furcht vor seinen Fäusten. Ein Minimum an sozialer Interaktion später und ohne seine Muse gesehen zu haben, trat Kilian den Heimweg an. Kleinlaut verabschiedete er sich von Thorsten Rau, der ihm kälter entgegentrat als der recht frische Wind. Für die Jahreszeit kam es ihm kühl vor. Doch bald verging das Kältegefühl. Er durchschritt einen, in der Mitte zwischen dem „Geisha Dreams“ und seinem Viertel liegenden Park. Hastiges Rascheln der Baumkronen holte ihn aus seiner Melancholie. Just schaute er auf. Gleichzeitig sackte ihm das Herz in die Hose.

In einem weißen Kleid, das der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Kälte nicht trotze, verharrte, nur 20 Meter entfernt, Fox.
Verschiedene Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Unter anderem empfand er es befremdlich, sie außerhalb ihres Arbeitsplatzes anzutreffen. Noch nie durfte er sie in einem gewöhnlichen Outfit bewundern, stets trug sie ihre Kimonotracht. Wind blies, verwuschelte ihre offenen Haare. Im Schein des Vollmonds schimmerten sie silbern statt Weiß. Wie das sich auf der Wasseroberfläche spiegelnde Mondgesicht.
Sie öffnete die Lippen. Auch hatte er zuvor lediglich ihrer Gesangstimme gelauscht, nie ihrer Sprechstimme. Die aus ihrem Mund kommenden Worte klangen lieblich. „Kommissar Stahl“, hauchte sie, „ich habe Sie in Schwierigkeiten gebracht! Das tut mir Leid!“
Perplex blinzelte er. Woher wusste sie …?
„Äh“, stammelte er, „nein. Ist nicht …. Schon gut!“
Grundgütiger! Er fühlte sich wie ein Teenager, der seinen Schwarm nach einem Date fragte!
Von seiner Darbietung keineswegs überzeugt, legte sie ihren Kopf schief und bat: „Ist es nicht. Nehmen Sie bitte meine Entschuldigung an, Herr Stahl!“ - „Es gibt nichts zu entschuldigen“, winkte Kilian ab. Vorsichtig näherte sich ihr. Beschwichtigend hob er die Hände, beteuerte, in friedlicher Absicht vorzurücken.
Für seinen Geschmack verlief ihre Kommunikation seltsam. Gewöhnlich fiel ihm das Flirten leicht. Fox brachte ihn aus dem Konzept. Der Mann in ihm schwitzte vor Nervosität. Der Kriminalkommissar mahnte ihn zur Vorsicht. Einerseits schien sie sich völlig im Klaren darüber, ihm den Verstand vernebelt zu haben. Hundertprozentig wusste sie um ihre Wirkung auf Männer. Speziell auf die Besucher des „Geisha Dreams“. Zusätzlich erlangte sie Kenntnis, dass Kilian wegen seiner Nachlässigkeit, seiner geistigen Abwesenheit, Ärger bekommen hatte. Wusste sie möglicherweise von seiner Suspendierung? Woher kannte sie überhaupt seinen Namen? Stellte Sie Erkundigungen hinsichtlich seiner Person an?
Ungeachtet der beunruhigenden Tatsachen trat er ihr entgegen. Plötzlich stand er seiner Muse gegenüber. Nah bei ihr, Gesicht an Gesicht, bewunderte er ihre tiefen Augen. Deren goldener Bernsteinschimmer war ihm entgangen. Jetzt sog er das Leuchten auf, zusammen mit ihrem Duft nach Pfirsich und Vanille. Aus heiterem Himmel, ohne nachzudenken, plapperte er drauflos: „Erweist du mir die Ehre und gehst mit mir einen Kaffee trinken?“

Was für einen Unsinn quatschte er da?
Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Fast unhörbar flüsterte sie: „Ich trinke keinen Kaffee.“
Schon schluckte er seine Enttäuschung hinunter, wenngleich die Antwort ihn nicht überrascht hatte. Dann folgte die Äußerung, die seine Welt völlig auf den Kopf stellte: „Aber picknicken! Das mache ich gerne!“
In dem Moment öffnete sich für ihn die Tür ins Paradies. Mühsam versuchte er, sich nicht von seinen Gefühlen übermannen zu lassen. So beherrscht wie möglich nickte er. „Ein Picknick? Fabelhafte Idee!“ Sie strahlte, was ihn veranlasste, hinzuzufügen: „Nenn mich Kilian!“

Erst am Folgetag, als er ausgeschlafen und nüchtern war, plus seinen handschriftlich geschriebenen Zettel vorfand, worauf er gestern vor dem Zubettgehen Zeit und Ort des Treffens notiert hatte, glaubte er das Wunder.
Neuerdings motiviert huschte er ins Bad, duschte, wusch sich die Haare. Aus dem Schrank zog er seine beste Jeans und sein einziges, gebügeltes Hemd weißer Farbe. Farblich passende Sneaker rundeten das leger sportliche Outfit ab.
Gerade war er im Begriff, Parfüm aufzulegen. Schlagartig blitzte eine Erinnerung auf. In der letzten Nacht hatte er eine weitere Begegnung gehabt! Eine groteske, überaus verstörende dazu.
In seiner Küche schaltete Kilian die Kaffeemaschine ein. Stirnrunzelnd holte er seine Lieblingstasse aus dem Schrank.
Reiko Inarizuma höchstselbst hatte ihm vor seiner Haustür aufgelauert. Nach Foxs Entschuldigung verwunderte ihn ihr Wissen über seine Adresse mitnichten. Was ihm zugesetzt hatte, war ihre Drohung gewesen.
„Herr Kommissar Stahl“, grüßte sie. Ihr Empfang, unfreundlich. Ihre Stimme und ihre Ausstrahlung, eisig. Nickend erwiderte er den Gruß: „Frau Inarizuma?! Was verschafft mir die Ehre? Ist alles in Ordnung?“ - „Nein!“, fauchte sie. Wortwörtlich fletschte sie die Zähne. Ihre Feindseligkeit drängte ihn, einen Schritt zurückzuweichen.
Wenn er sich nicht irrte, hatten ihre Iris rot geglüht. In seiner Vorstellung war ein derartiger Glanz real unmöglich.
Im Geiste ging er die vergangene Konversation durch. Derweil trank er einen Schluck heißen Kaffees und verbrannte sich die Zunge. Der Schmerz, den er empfand, war nichts im Vergleich zu seiner verstörten Psyche.
Die Geschäftsführerin hatte ihm nicht nachvollziehbare Vorwürfe an den Kopf geworfen. Angefangen mit: „Verfügen Sie über einen solchen beschränkten Horizont? Merken Sie nicht, wie mein Füchschen Sie des Verstandes beraubt? Fox ist fast am Ziel! Und Sie lassen sie gewähren!“ Konsterniert grätschte Kilian dazwischen. „Ich verstehe Bahnhof!“, bekannte er, „wovon zum Teufel Sprechen Sie?“ Zugegebenermaßen traf sie ins Schwarze - Fox beraubte ihn seines Verstandes! Daran knüpfte die rothaarige Domina an. „Sie sind ein Idiot“, beleidigte sie ihn ungeniert, „wenn Sie sich einbilden, das Füchschen würde sich für Ihre Person interessieren!“ Weshalb verabreichte sie Fox diesen dämlichen Spitznamen? Nichtsdestotrotz sprang Kilian auf den Zug auf. Seine Stimme erhebend, wollte er wissen: „Ob sie an mir interessiert ist oder nicht, was geht Sie das an? Beeinträchtigt das eine Ihr Geschäft? Ich …“ - „Ja!“, fuhr sie mitten in seinen Satz, Reikos Ehrlichkeit suchte ihresgleichen, „ich warne Sie! Gehen Sie mit ihr bloß keinen Schritt weiter!“
Mit „einem Schritt weiter“ meinte sie …?
Aus dem Wortgemenge entstand eine hitzige Diskussion. Nach wie vor kapierte Kilian rein gar nichts, indes Frau Inarizuma mit seltsamen Anspielungen um sich warf. „In gewisser Weise,“ krisch sie, „ist Fox mein letztes Einhorn. Quasi das Äquivalent davon.“ - „Verflucht, was wollen Sie mir sagen?“, schrie Kilian.
Aus laut wurde leise. Das Unheil verheissende Vibrieren von Inarizumas Flüsterstimme drang dem gestandenen Mann durch Mark und Bein. „Wenn Sie Fox aus Ihrer Dummheit heraus befreien, Herr Kommissar! Ich schwöre Ihnen! Falls ich meine Letzte wegen Ihnen verliere, jage ich Sie bis ans Ende der Welt!“
Anschließend verließ sie die Showbühne.

Kilian stellte seine Tasse in den Geschirrspüler. Kurz streckte er seinen Kopf aus dem Fenster, prüfte die Temperatur. Warmes Sonnenlicht schmeichelte seinen Wangen. Eine Jacke erwies sich als unnötig. Insofern packte er Schlüssel und Geldbörse, schlüpfte aus der Wohnung. Bei dem Metzger seines Vertrauens legte er einen Zwischenstopp ein. Nach seiner Dusche hatte Kilian einen Picknickkorb samt gut bürgerlicher Leckereien bestellt. Diesen holte er ab. Er bezahlte und machte sich mit klopfendem Herzen auf dem Weg in den Park. Auf eine Art konnte er Reiko Inarizuma verstehen. Foxs Verlust verhieße einen enormen finanziellen Einbruch. Allein aufgrund der weißhaarigen Geisha tummelten sich Männer in Scharen.
Die Reste ihres nächtlichen Gelabers verdrängte Kilian. Lieber konzentrierte er sich auf seine bevorstehende Verabredung.
Und dort wartete sie. Am selbigen Platz wie gestern. Vor einer Eiche. Sie sah ihn an, das kuriose Aufeinandertreffen war vergessen. Nur das Füchschen existierte!
Kilian verbrachte den wunderbarsten Tag seines Lebens.
Die Sonne wanderte Richtung Zenit, läutete die Mittagszeit ein. Schwatzend und lachend schlenderten er und Fox über die gepflasterten Pfade der Parkanlage, auf der Suche nach einem geeigneten Plätzchen für das ausstehende Picknick. Noch nicht ganz 12 Uhr, konnte die Mahlzeit als Brunch, einem Zustand zwischen Frühstück und Mittagessen definiert werden. Auf Passanten wirkten die beiden Turteltauben wie ein frisch verliebtes Pärchen. Innerlich jubelte Kilian! Fox verhielt sich offen und kommunikativ. Überhaupt zeigte sie keinerlei Scheu, gar Abneigung.
Wäre der Kommissar im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten gewesen, hätte er gewisse Tatsachen bemerkt. Pausenlos erzählte er von seiner Vergangenheit, seinem schulischen und beruflichen Werdegang, ehemaligen Hobbys, der gegenwärtigen Situation, sogar seinen Liebschaften. Das schwierige Verhältnis zu seinen Eltern erwähnte er. Sonst teilte er die privaten Details mit niemandem! Interessiert hörte Fox zu, lächelte ihn an, fast schon bewundernd. Sie tat das, was sich ein Mann von (s)einer Frau wünschte. Auf Wolke 7 schwebend, missachtete er ihre Verschwiegenheit über ihr Leben. Was sie betraf, erfuhr er null nennenswerte Informationen. Ferner nannte er sie bei ihrem - wie er vermutete - Künstlernamen. Wie sie richtig hieß, betonte sie mit keiner Silbe. Ihm war das egal, er genoss das Hier und Jetzt. Wenn er ehrlich war, vergaß er, sie nach ihrem wahren Namen zu fragen. Oder ihrer Herkunft. Selbst diese scherte ihn kein Stück. Kilian plapperte ununterbrochen und Fox stellte bohrende Rückfragen. An ihrer Seite kam er sich mächtig wichtig vor. Mitten auf einer saftigen Wiese, das Gras erschien ihm heute besonders grün, besetzte das Paar einen Picknicktisch samt Bänken. Ungeduldig packte Kilian die Utensilien aus, drapierte fein säuberlich Brötchen, Wurst, vegetarische Fleischalternativen, Käse und Getränke. In die Karten spielte ihm die Beziehung zum örtlichen Metzger. Jahrelang kaufte er bei ihm ein. Insofern hatte der Fleischermeister seine kurzfristige Bestellung gerne entgegengenommen, sie unverzüglich ausgeführt, außerdem neben Fleischwaren alles eingepackt, was zu einem üppigen Mahl dazu gehörte.
Beim Essen sprach ausnahmslos er. Beherzt griff Fox zu, ihre Portion blieb dennoch überschaubar. Daher rührte ihre zierliche Figur.
Nachdem sie sich gestärkt hatten, parkte Kilian den Picknickkorb unter einer Buche. Mitzuschleppen gedachte er ihn nicht. Fox und er unternahmen einen Spaziergang, zunächst durch die Grünanlage, hinterher erkundeten sie die Stadt. Je länger er Zeit mit ihr verbrachte, umso sorgloser wurde er. Die negativen Empfindungen der vergangenen Monate fielen von ihm ab. Wann hatte er sich annähernd wohlgefühlt, wie in ihrem Beisein? Ja, er hatte sich verliebt! Und als der Abend hereinbrach, sie den gesamten Mittag und Nachmittag miteinander verbracht hatten, hielten sie Händchen. Ihre Haut fühlte sich sanft an. Warm. Immer noch wanderten sie umher. Kilian wollte - konnte - diese erste Verabredung einfach nicht beenden. Bei Anbruch der Dunkelheit kehrten sie in den Park zurück. Einsam stand der Korb unter dem Baum, angelehnt an dessen Stamm.
Der Moment des Abschieds war gekommen, der Augenblick perfekt. Fox sah es ähnlich, sie schmiegte sich an ihn. Im Innern gierig, äußerlich einigermaßen gefasst, zog er sie in eine zärtliche Umarmung. Über seine Lippen kamen die Worte, die er fühlte. „Ich liebe dich!“, wisperte er. Verrückt, denn die Frau war ihm quasi unbekannt. In seinen Augen hatten sie genügend Zeit, einander kennenzulernen.
Zu seiner Enttäuschung wiederholte Fox die Liebesbekundung nicht. Ihr wunderbares Lächeln sprach Bände. Jedenfalls bildete er sich das ein. Mutig wagte er einen Vorstoß. Daumen und Zeigefinger legte er an ihr Kinn, hob es leicht an. Sie gab keine Gegenwehr. Bestätigt dadurch beugte er sich nach vorne. Bis seine Lippen die ihren berührte, ihre Münder zu einem Kuss verschmolzen.
Der Tag war perfekt. Der schönste seines Lebens.

Bis er abrupt endete!
Donner über ihnen. Ein Blitz schlug in den Baum hinter Kilian. Erschrocken fuhr er zusammen. Zu Sinnen gelangt, stellte er Foxs spurloses Verschwinden fest. Eben hatte sie in seinen Armen gelegen!
"Was zur Hölle?"
Regen setzte ein. Am Nachmittag, ebenso vor wenigen Minuten, hatte bestes Frühlingswetter geherrscht. Von einer Sekunde zur nächsten verdeckten Wolkentürme den strahlend blauen Himmel. Sturmböen tobten, die vorher milde Temperatur sackte ins Bodenlose. Im Bruchteil eines Wimpernschlages erstarkte der Regen. Kilians menschlicher Verstand brachte es nicht fertig, zu verarbeiten, was vonstattenging.
Ein Leuchten zog seinen Blick an. Instinktiv neigte er den Kopf, wandte sich der Quelle des Scheins zu. Aus der Richtung, aus der Fox und er gekommen waren, auf der Lichtung hinter dem Hügel, tauchte ein Tier auf. Täuschten ihn Kilians Sinne nicht, handelte es sich um einen ... Fuchs? Jedoch um kein gewöhnliches Exemplar. Eines mit einem weißen Fell und ... mehreren Schwänzen? Automatisch zählte sein Verstand die buschigen Ruten. Neun? Neun Schwänze, aufgeschlagen zu einem Fächer.
Die Wahrheit fiel ihm wie Schuppen von den Augen!
Im hintersten Winkel seines Hirns hatte er ein Märchen begraben. Eine Erzählung, stammend aus seiner Kindheit, an manchen Abenden am Bette vorgelesen von seiner Großmutter.
Kitsune?
Laut der Legende waren sie Zauberwesen, die in die Gestalten schöner Frauen schlüpften und Männer verführten.
In seinem Geist vernahm er eine vertraute Stimme. Sie gehörte Fox. „Ich danke dir!“, begann sie. Kilian drehte sich im Kreis, hoffte, die Menschenfrau irgendwo zu entdecken. „Danke, dass du mich aus meiner Gefangenschaft befreit hast!“, fuhr sie fort. Ihn beschlich der Verdacht, das Füchschen nahm wahrhaftig telepathischen Kontakt zu ihm auf! „Vergib mir“, bat die Kitsune und drängte ferner: „Ich werde nie in der Lage sein, dich zu lieben, wie du mich liebst! Meine Art ist für das Gefühl der Liebe nicht geschaffen. Vergiss mich! Lebe dein Leben! Finde dein Glück! Gehab dich wohl!“
Der schneeweiße Fuchs verschwand. Mit seinem Gehen beruhigte sich das Wetter, doch es hinterließ in Kilian ein Gefühl der Leere. Erneut.
Er rief sich Frau Inarizumas Drohungen ins Gedächtnis.
Frau Inarizuma.
Inarizuma?
Grundgütiger!
"Verfluchter Scheißdreck!", keuchte er. Kilian erstarrte. Die Geschichte, die ihm seine Großmutter aus dem alten Märchenbuch vorgelesen hatte, enthielt ein bedeutendes Detail. Darnach folgten Kitsune einer bestimmten Gottheit. Bemessen an den Erlebnissen lautete der korrekte Sachverhalt: sie gehörten ihr – der Göttin Inari!
Heiß und kalt lief es ihm die Wirbelsäule hinunter.
Kilian Stahl hatte sich von einem real existierenden Fabelwesen, einem Fuchs mit neun Schwänzen, einer Kitsune, verführen lassen, hatte ihr unbeabsichtigt die Freiheit geschenkt, dabei alles verraten, was ihm wichtig war!
„Der Kuss der wahren Liebe“, so betitelt Märchengeschichten, erhielt eine gänzlich neue Bedeutung. Geistesabwesend schaute er hinauf zu den Sternen. Von Wolken keine Spur.
„Oh!“ Jählings aus seiner Erstarrung erwacht, rannte er nach Hause. Wenn ihn seine Instinkte nicht wieder trogen, würde ab sofort eine Göttin Jagd auf ihn machen!