Eine Nacht im Bunker

Rache ist weiblich


Sie behauptete, den Ernstfall proben zu wollen. Dass die Welt von Schreckensnachrichten überschwemmt wären, diese als Vorboten für Schlimmeres dienten. Mit Omen kenne sie sich aus.
Sie vergaß zu erwähnen, selbst dem schrecklichsten aller Szenarien zu entsprechen.


An einem Sonntagmorgen weckte Frida Valentin ihren Mann in aller Herrgottsfrühe. Unsanft, durch Rütteln. Gähnend rieb Georg seine müden Augen. Auf die Nachfrage seinerseits, was ihr den Anlass dazu gegeben hatte, ihn zu einer unsittlichen Uhrzeit aus dem Tiefschlaf zu holen, antwortete sie: „Liebling, hast du die Nachrichten verfolgt?“ - „Nein“, erwiderte er grummelnd, „selbstverständlich nicht! Warum? Weil ich bis eben meinen künftigen Enkelkindern beim Spielen zusah!“
Nicht, dass ihm seine karrierebewusste Älteste Anlass für diesen Traum gegeben hätte. Ginge es nach ihrem Starrkopf, bliebe sie kinderlos bis zur Bevölkerung des Neptuns durch den Menschen. Also noch etwa 999 Jahre.
„Fein, dann hopp!“, animierte die Hausfrau ihren Gatten. Aufgrund mütterlicher Überfürsorge hatte sie ihre gemeinsamen Nachkommen ins Singledasein getrieben. Glaubte zumindest Georg, der geradewegs erwog, sich auf der Matratze umzudrehen und das Kissen über seine Ohren zu stülpen. „Aufwachen!“, stutzte sie ihn zurecht, „ich muss dir etwas Wichtiges zeigen und wichtigeres mit dir besprechen!“

Eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand, hatte Georg Valentin die vergangenen 30 Minuten damit zugebracht, die jüngsten Ereignisse auf dem Nachrichtensender seines Vertrauens zu verfolgen, währenddem seiner Gemahlin zu lauschen. Am kommenden Samstag würden sie 29 Jahre lang verheiratet sein. Ergo kannte er Frida und ihre Launen in- und auswendig, wusste ferner, wann sie sich von einer „Laune“ mitreißen ließ oder ihre Hirngespinste für Ernst nahm. Gegenwärtig traf letzteres zu. Sie fragte: „Findest du nicht, wir sollten den Ernstfall proben?“ Unter „Ernstfall“ verstand sie das Eintreffen militärischer Streitkräfte in ihrem von Laub übersäten Vorgarten. Wochenlang hatten Medien den Puls der hiesigen Anwohnerschaft in ungeahnte Höhen katapultiert, ihnen täglich brutale Szenerien aus Kriegsgebieten serviert. Pünktlich zu Frühstückskaffee und Croissant verbreiteten die Morgennachrichten das Sterben hunderter Seelen. Krieg, Zerstörung, Ausrottung. Überall, wo der Zuschauer hinblickte. Neben den Kriegshandlungen beschäftigte eine Virusplage ungeahnter Ausmaße die Bevölkerung. Zusammengenommen strapazierten die Geschehnisse das Hirn der Frau Valentin. Hinter jeder Ecke der Nachbarhäuser erkannte sie hervorkriechende, mit Todesviren infizierte Soldaten.
„Entweder Gewehrkugeln erwischen uns oder die Viren tun es!“, mahnte sie. Georg holte Luft. Als er sie ausgestoßen hatte, schloss er seinen Mund. Lieber den Konter sparen, dachte er. Wenn seine Frau sich einen Furz in den Kopf gesetzt hatte, war sie vom Wahrheitsgehalt seines Gestankes nicht abzubringen. „Wofür unterhalten wir einen Bunker im Keller?“, drängte sie ihn weiter, „lass uns den Ernstfall proben, ja?“ Wäre sie eine Zeichentrickfigur gewesen, hätte sie zu seinen Füßen gekniet und an seinen karierten Schlafanzughosen gezogen. Amüsiert über dieses Bild schmunzelte er. Bezogen auf ihre vorige Aussage kam er nicht umhin, eine sarkastische Bemerkung abzugeben: „Reden wir davon, vor eine dampfende Gewehrmündung zu laufen, als Kollateralschaden in einem Kugelhagel zu enden oder von virusbeladenen Alt-Zombies in Neu-Zombies verwandelt zu werden?“
Sekunden des Schweigens. Nein, vielmehr herrschte eisige Stille. Puterrot liefen die pausbackigen, durch Diäten und anschließende Jo-Jo-Effekts aufgequollenen Wangen seiner Frau an. Die Bombe detonierte drei Wimpernschläge später. „Fein“, krisch Frida, wirbelte auf dem Absatz herum, rannte fuchtelnd ins angrenzende Wohnzimmer, „wenn ‚Sir‘ zu bequem ist, prüfe ich die Beschaffenheit unserer Sicherheitsvorrichtung, unseres Rückzugsortes wohlgemerkt, selbst! Bin es gewohnt, jeden Scheiß allein zu erledigen! Aber ich warne dich, komme mir bei einer feindlichen Belagerung nicht mit einem ‚Schatz, was jetzt? Wie schließe ich die Tür? Wofür stehen die Knöpfe auf der Fernbedienung?‘, denn dann ist der Zug abgefahren und Kawumm!“
Georg seufzte, stellte seine Tasse mit der Aufschrift „Best Dad“ unter den Auslauf, startete den überteuerten Vollautomaten, welchen seine Frau unbedingt haben wollte, und wartete, bis die schwarze Plörre durchgelaufen war. Als die Maschine ihr abschließendes Röcheln von sich gegeben hatte, rief Georg Frieda hinterher: „Gewährst du mir Ruhe und Frieden, sofern ich deiner Bitte Folge leiste, einen Notfallplan durchzugehen?“
Das Wort „Bitte“ schien untertrieben, „Anordnung“ traf auf Fridas Gezänk eher zu.
Apropos Frida. Wegen seiner Zustimmung hatte sich ihr Puls von 180 auf 90 stabilisiert. Zufrieden streckte sie ihren Kopf zur Küche herein. Zum ersten Mal an diesem Tag registrierte er ihre Lockenwickler. Wofür sie die Dinger benötigte? Selbst nach ganztägigem Tragen erhielten ihre Strähnen keine Form, die annähernd Wellen gleichkam. „Danke, Liebling!“, schnurrte sie. Augenrollend erwiderte er: „Ja, ja!“
An der Stelle ahnte er noch nicht, wie fatal seine Einwilligung seien würde.

Das Kellergeschoss unterhalb des Einfamilienhauses umfasste drei verschieden große Räume. Der kleinste war zu Lagerungszwecken von haltbaren Lebensmitteln vorgesehen, der größte zur Unterbringung von Gegenständen, insbesondere Handwerksausrüstung. Im Laufe des zurückliegenden Jahres hatte Georg (natürlich) auf Drängen seiner Frau die mittelgroße Kammer zu einem Bunker umgebaut. Nein, das stimmte nicht – er hatte sie umbauen lassen. Der Ex-Freund seiner Jüngsten arbeitete – soweit er wusste auch weiterhin – bei einer Firma für Sicherheitssysteme. Nach Aufbringung einer ordentlichen Summe Bares, dem vorigen Schlachten des Valentin-Sparschweins, hatte die Umgestaltung sowie Aufrüstung insgesamt vier Monate Arbeitsaufwand beansprucht. Schweiß, Dreck und Trommelfell erschütterndes Bohren inklusive. Ein völlig normales Winterprojekt. Ausgestattet mit neuster Technik, vermochten die Eheleute die sich automatisch schließende Stahltür von innen zu ver- und entriegeln. Zu den netten Spielereien zählte ein Schallschutz. Notwenige Einbaumaßnahmen ergaben Wände, die vor radioaktivem Niederschlag schützen sollten. Laut seines Ex-Schwiegersohns hatte die Firma den Bunkerraum gegen das Eindringen biologischer und chemischer Kampfmittel abgedichtet. Derweil versorgte die Belüftungseinrichtung Insassen mit Sauerstoff.
Um die Funktionalität der Schließeinrichtung und Belüftung auszutesten, hatten Georg und Frida sich morgens geeinigt, gegen Nachmittag einen Probelauf zu starten. Beinhalten sollte die Probe das Verriegeln und Entriegeln der Sicherheitstür, ebenso das Einschalten der besagten Luftzufuhr. Jeher lautete das Motto der Ehefrau: „Vorsicht ist besser als Nachsicht.“
Die „Vorsicht“ musste dann jedoch bis kurz vor dem Abendessen warten. Zur Vorbereitung auf die Befriedigung des leiblichen Wohls richtete Frida Hackfleisch in brauner Soße an. Bei Anbruch der Dunkelheit köchelte das Arrangement auf dem Herd vor sich her. Derweil waren die Ehegatten Valentin die knarzenden Stufen zum Keller hinabgestiegen und fanden sich letztlich vor der schiefergrauen, zu einem Banktresor Ähnlichkeit aufweisenden Stahltür wieder. „Ladys first“, brummte Georg, dem sämtliche Motivation fehlte. Seine ohnehin muffelige Stimmung erhielt einen weiteren Dämpfer, sobald Frida Georgs Aufmerksamkeit erkämpft und sein Sichtfeld eingenommen hatte. Schnaubend stemmte sie die Hände in die Hüften, ihre vom Kochen mit Soße besprenkelte Schürze wackelte. „Damit du mich nachher einschließt und versauern lässt?“, schlug sie vor, „mit Sicherheit nicht! Geh du!“
Welche Einfälle diese Frau in ihrem Kopf beherbergte! Grunzend rollte er die Augen. Weil sie sich von ihrer Wahnvorstellung nicht würde abbringen lassen, sprang er über seinen Schatten und betrat den Bunkerraum.
Vor einem leeren Regal befand sich ein quadratischer Tisch, gerade groß genug, damit zwei Personen Platz fanden. Auf der Tischfläche brannte eine winzige Kerze. Eine von der Sorte, die seine Frau an Halloween in ausgeschnitzte Kürbisse stopfte, um die Fratzen zum Leuchten zu bringen. Kurz dachte er darüber nach, dass er die Art Dekoration nie besonders gemocht hatte, seine Frau hingegen schon. Außerdem überlegte er, das deckenhohe Regal endlich füllen zu müssen. Ob der Supermarkt um die Ecke demnächst Konserven ins Angebot der Woche integrieren würde? Georg verweigerte, Unsummen für Reservelebensmittel auszugeben. Das waren nämlich solche, die im Keller vergammelten, da der Ernstfall bis in den Sankt-Nimmerleins-Tag ausblieb.
Die Arme vor der nicht mehr staatlichen, umso behaarteren Brust verschenkt, blickte er umher, schritt zwei, drei Schritte in die Raummitte. Dort verharrte er eine Sekunde lang. Während er anschließend auf dem Absatz kehrtmachte, bat er: „Schatz, kommst du? In 10 Minuten will ich meinen Teller gefüllt wissen und auf der Couch sitzen. Das Fußballspiel findet statt.“ - „Ohne dich!“, erhielt er zur Antwort. Im selben Moment dämmerten ihm drei Dinge. Erstens, hinter Fridas zwei kleinen Worten konnten unzählige Bedeutungen stecken. Zweitens, seine Frau hielt die alle Funktionen steuernde Fernbedienung zu dieser Einrichtung namens Bunker in der Hand. Drittens, die wunderbar geräuscharme Tür sank hervorragend geräuscharm ins Schloss.

Düsternis. Bis auf das wütende Flackern des winzigen Feuerscheins war jedwedes Licht erloschen. Wie lange der Docht brennen würde, war fraglich. Was noch viel fraglicher erschien …
„Frida!“, schrie Georg, „bist du bescheuert? Was soll die Scheiße? Mach die verdammte Tür auf!“
Keine Antwort.
„Frida!“, versuchte er sein Glück aufs Neue.
Schweigen.
Aufgebracht krisch er: „Weib!“
Zur Untermalung seiner aufkeimenden, von Wut auf seine dämliche Frau unterstützen Panik, sprang er einen Satz vorwärts und hämmerte mit seinen Fäusten gegen den Stahl.
Nicht umsonst existierte der Begriff „Eisenhart“. Abgesehen von ertönenden dumpfen „Klonks“ holte er sich lediglich Blessuren an seinen Knöcheln. Hingegen regte sich das Türwerk keinen Spalt. Trotzdem trommelte er wie wild darauf ein, rief nach seiner Gattin, zeterte und schimpfte. Auf Schimpfen folgte Fluchen, daraufhin heiseres Kreischen, zum Schluss weinerliches Betteln. War er mit seinen diversen Gefühlsausbrüchen fertig, begann das Programm von Neuem. Insgesamt siebenmal spulte er dieselbe Reihenfolge ab. An einem Punkt angelangt, gab er auf, ließ von der Eingangstür ab und trappelte in den Raummittelpunkt. Mit aktuell nichts anderem zu schaffen, unternahm er das einzig Verbliebene: Er sah sich um.
Etwas Bestimmtes suchte er nicht, seine Handlung synchronisierte mit seinen in diverse Richtungen wirbelnden Gedanken. Dutzende Fragen spalteten sein Hirn. Darunter diese: Warum hatte seine Frau ihn im Bunker eingesperrt? Wollte sie ihn ärgern, ihm womöglich den Ernst ihrer Befürchtungen vor Augen führen?
Plan- und hauptsächlich ahnungslos, schüttelte Georg den Kopf.
Abrupt stockte er, widmete seine Geistesgegenwart einem Gegenstand. Auf einem der beiden am Tisch befindlichen Stühle registrierte er einen braunen Umschlag. Vier Schritte später hielt er ihn in Händen, riss am Papier und enthüllte seinen Inhalt. Georg keuchte. Zum Vorschein brachte er Bilder. Fotos. „Heilige Muttergottes!“, entfuhr ihm.
Hätte er sein Spiegelbild betrachten können, wäre ihm seine jüngst aufgetretene Blässe aufgefallen. Mit totem Blick starrte er auf das einzige, 1,40 Meter breite und 2 Meter lange Bett an der rechten Wand. Derweil öffnete er seine Hand, die Fotoabzüge in Hochglanz segelten auf den kalten Steinboden. Darauf war er abgelichtet – zusammen mit seiner Geliebten.

Sie wusste es! Frida wusste von seiner Affäre!
Aber wie lange schon? Das auf den Bildern eingefangene Ereignis lag, seiner Auffassung nach, ungefähr fünf oder sechs Wochen zurück. „Verflucht!“, wisperte er.
Niemals hatte seine eifersüchtige, höchst paranoide Ehefrau die Schnappschüsse geschossen. Im Umkehrschluss bedeutete dies, sie hatte einen Detektiv beauftragt. Wohlgemerkt mit seinem hart erarbeiteten, präzise angesparten Vermögen. Wenn er hier herauskam, dann Gnade ihr Gott!
Seltsam. Denselben Gedanken schien wohl Frida gehabt zu haben. Deshalb die Farce. Sie kannte seine Schwäche, eine klaustrophobische Neigung. Enge, Menschenleere, gepaart mit Überforderung, lösten seine Alarmsysteme aus. Durch das Einsperren in diesem engen Raum wollte sie ihn zweifelsohne für seine Sünde bestrafen. Dabei war es keine Sünde gewesen. Im Gegenteil, monatelang hatte sie ihm körperliche Zuwendung verweigert. Dass er seine Fühler anderweitig ausgestreckt hatte, war nur natürlich gewesen.
Tja, Ausflüchte nutzten ihm wenig. Aktuell saß sie am längeren Hebel. Er war eingeschlossen, sie gebot über den einzigen Schlüssel. Und damit über den Schaltknopf zum Abstellen der Luftzufuhr.
Als ihn die Erkenntnis getroffen hatte, schluckte er. Im Augenblick war er der Willkür einer betrogenen Frau und ihrer hoffentlich vorhandenen Güte ausgeliefert. Plötzlich verdrängte eine Überlegung die Frage, wie lange er eingesperrt blieb. Würde Frida Valentin ihn überhaupt hinauslassen?

Der Kerzenschein spendete eine überschaubare Menge an Licht, warf dafür unheilvolle Schatten an die kahlen Wände. Abgesehen von einem leeren Regal, dem Bett ohne Überzug, dem kleinen Tisch, den beiden unbequemen Stühlen, gab es nichts. Deswegen betrachtete Georg – zum wievielten Mal eigentlich? - die auf dem Boden ausgebreiteten Fotografien. Sechs verschiedene Motive waren zu erkennen. Gestochen scharf, der Fotograf hatte ganze Arbeit geleistet.
Sobald Georg seine Geliebte und sich zeitweilig begutachtet hatte, trottete er an die verriegelte Tür. Manchmal schlug er dagegen, teilweise schrie er seinen Ärger hinaus, oft rief er nach seiner Frau. Selten lauschte er, hoffend, Formen einer Regung zu hören. Vergebens. Keine Frida. Oder der Bunker war derart schalldicht konzipiert worden, dass kein Geräusch nach innen gelangte? Umgekehrt drang keines heraus. Ignorierte die Betrogene sein Rufen oder vernahm sie es schlicht nicht? Fragen, die an ihm zehrten. Minutenlang. Stunden. Waren Stunden verstrichen? Jegliches Zeitgefühl hatte er verloren.
Immerzu versuchte er sich mit Tätigkeiten abzulenken. Wie unnütz seine Unterfangen waren, sie lenkten seine Aufmerksamkeit von Angst ab.
Unruhig knurrte sein Magen. Gewiss, er hatte nicht zu Abend gegessen. Plötzlich sehnte er sich nach Fridas Hackfleischsoße. Kochen. Das beherrschte seine Geliebte nicht. Seine Frau schon. Bestimmt würde es sie erfreuen, wüsste sie, dass er ihrer Kochkünste gedachte. „Jetzt weißt du, was du an mir hast!“, hörte er sie in Gedanken sagen.
Müde vom kontinuierlichen Hin- und Herlaufen, dem permanenten gegen die Tür Poltern, dem unerwiderten Geplärre, setzte er sich auf die staubige Matratze des Bettes. Flusen stoben empor. Die Bettfedern quietschten. Obwohl es dem einzigen fremden, nicht von ihm erzeugten Geräusch entsprach, schmerzte es Georg in den Ohren. Für ihn klang es wie der Laut spitzer Fingernägel, die über eine Tafel fuhren. Wahrlich, ein bescheuerter Vergleich. Sein Gehör lief Amok, der Sinn spielte ihm einen Streich. Müde vergrub er den Kopf zwischen den Händen, die Ellbogen auf seine Oberschenkel gestützt, eine hervortretende und lange befürchtete Panik bestmöglich unterdrückend. Bis ein Taubheitsgefühl seine Beine vereinnahmte, verharrte er in der Position. Aus einem Reflex heraus blickte er auf. Im selben Moment stolperte sein Herz.

Dunkelheit. Just war das Licht der Kerze erloschen, der Docht vollständig heruntergebrannt. Schwärze umgab Georgs Gegenwart. Undurchdringliche Nacht.
Er verfluchte, sein Smartphone auf dem Küchentisch vergessen zu haben.
„Shit!“, grummelte er, in Erinnerung an die zahlreichen Ermahnungen seiner Frau. Eindringlich hatte sie auf ihn eingeredet, hier eine Taschenlampe zu verstauen. Aber nein, er hatte ihre Worte ignorieren müssen. Die Deckenleuchte würde genügen, hatte er gemeint. Ja, das stimmte wohl. Sofern man die Fernbedienung für den Raum besaß! Gleichwohl hatte seine Gattin verlangt, Reserven besser früher als später anzuschaffen. Unabhängig vom Schnäppchentag im Supermarkt. Wäre er dem seinerzeit nachgekommen, hätte er nicht hungern müssen!
Bloß nicht panisch werden, dachte er, und atmete durch.
Zu einem unbekannten Zeitpunkt, den er nicht abschätzen konnte, würde sie ihn herauslassen und er ihr die Hölle heiß machen. Hoffte er.

Er hörte nichts. Keinen noch so winzigen Laut. Kein Tropfen eines Wasserhahns, das Ticken einer Uhr, geschweige denn das Summen des Ofens oder den monotonen Dunstabzug über dem Herd. Den Fernseher, er vermisste sein Rauschen. Er schmeckte einen metallischen Nachgeschmack in seinem Rachenraum. Mundgeruch? Hatte er am Morgen seine Zähne geputzt?
Er starrte umher und sah nichts. In gebeugter Haltung hockte er auf dem Bett. Wegen seiner seit Ewigkeiten unveränderten Haltung jagten Schmerzimpulse in regelmäßigen Abständen durch sein Rückenmark. Selbst das anschließende Liegen versprach keinerlei Besserung. Ihn beschlich der Verdacht, eine Rückenverspannung heftiger wahrzunehmen als gewöhnlich. Einsamkeit unterstützte seine Fokussierung auf die Reaktionen seines Körpers. Etwa musste er auf die Toilette. Mangels Ausstattung blieb ihm die Erleichterung verwehrt, weshalb sein Unterbewusstsein das Signal verstärkte. Ihm blieb keine Wahl, er nässte sich ein. Wellen der Scham folgten. Verflucht, er war ein erwachsener Mann! In seitlicher Embryohaltung begann Georg, zu weinen. Tränen kullerten seine Wangen hinab, benetzten die vom Urin feuchte Matratze. Wie pervers es ihm erscheinen mochte, wenigstens roch er etwas anderes als das Mauerwerk. Jäh erkannte er, schwer einatmen zu können.
„Heiliger Mist!“, keuchte er, saß mit einem Mal kerzengerade aufrecht.
War seine Frau verletzt genug, die Luftzufuhr abzustellen, ihm den Sauerstoff vorzuenthalten? Ihn elendig verrecken zu lassen?
In jedem Fall, er würde es erfahren.

Allmählich empfand Georg das Atmen für anstrengend. Kalter Schweiß benetzte seine Stirn, Panik kontrollierte seinen Verstand, hielt die rationale Seite des Denkens gefangen. Abwechselnd schürten verschiedenste Empfindungen das Feuer der Furcht. Von Frustration und Zorn über Ungläubigkeit, Überforderung, Hilf- sowie Hoffnungslosigkeit, hin zu Rachedurst. Jede einzelne Emotion entfesselte einen Sturm in seinem Sein. Die Enge des Raumes ängstigte ihn, die Leere führte ihm seine missliche Lage vor Augen. Mehrfach hatte er Blase und Darm entleeren, sich sogar übergeben müssen. Das Schamgefühl war vergangen und Groll gewichen. Der sich zu Ende neigende Gehalt an Sauerstoff begünstigte die anschwellende Verzweiflung. Die unzureichende Versorgung sorgte dafür, dass Georg Geister sah. Im wahrsten Sinne. Inmitten von Schwärze bildete er sich ein, Phantome wahrzunehmen. Solche, die Schauermärchen entstammten. „Hinfort!“, keifte er, händewedelnd, „verschwindet!“
Ungelenk erhob er sich aus dem Bett, knickte ein, stürzte. Seine Stirn knallte gegen das Gestell. Auf dem Steinboden angelangt, kroch er vorwärts, über seine Ausscheidungen hinweg, unsicher, wohin er wollte. Um ihn herum tanzten Schemen, langten nach ihm. „Ich will nicht sterben!“, weinte er, wie von Sinnen, „nicht zur Hölle fahren! Nie wieder betrüge ich meine Frau, ich schwöre!“

In den Bunker fiel ein Lichtstreifen. Ausgestreckt lag Georg auf dem Grund, den Kopf zum Regal gerichtet. Langsam neigte er sein Haupt, reckte sein Gesicht der erlösenden Helligkeit entgegen. Dort stand sie. Frida. 
Er war müde, unfähig zu einer Regung. Zufrieden blickte sie auf ihn hinab – und auf die dargebotene Sauerei. Mit einem Grinsen warf sie ihm einen weiteren Umschlag zu. Auf Brusthöhe landete er. „Wir sind quitt“, schnurrte sie, fügte hinzu: „Hier, die Scheidungspapiere. Du kannst das Haus behalten. Der Bunker taugt etwas. Bei Gefahr bist du sicher. Außer vor mir. Oh, die Möbel habe ich während deiner Abwesenheit ausräumen lassen.“
Zu keiner Erwiderung war er imstande. Auch nicht, als sie sich im Gehen abwandte und sagte: „Übrigens, ich wohne bei meinem Geliebten.“