Der Fuchs und der Wanderer


Einst lebte ein Wanderer. Einsam durchstreifte er die malerische Landschaft Edos. Derzeit herrschte dichter Winter. Mit dem aufkommenden Neuschnee brach das Jahr des Feuerhasen herein. Glaubte einer den Erzählungen der Alten, verhieß der Wechsel der Sternkonstellationen Genuss, Wohlbefinden, gepaart mit einer Spur Romantik. Ob die Theorie der Wirklichkeit gleichkam, würde die Zeit zeigen.
Von Geburt an dem Schwertadel angehörend, hatte der Mann namens Yaten einem Fürsten gedient. Mit jungen 16 Jahren als fähigster Kämpfer seines Dorfes bekannt, war der Daimyō eines Tages auf ihn aufmerksam geworden. Stets auf der Suche nach treuen Soldaten hatte er den Sohn eines ehemaligen Samurais rekrutiert. Er hatte hohe Erwartungen in den Heisssporn gesetzt. Hochmütig, wie Yaten gewesen war, hatte er sich selbst für einen der besten Schwertfechter weit und breit gehalten. Hochmut kam bekanntlich vor dem Fall. Eine Lektion, welche er hatte lernen müssen. Über seine Heimat waren Feinde hergefallen. Jahrzehntelang andauernde Machtkämpfe zwischen den Fürsten spalteten das Land. Fortwährend entstanden Provinzkriege infolge politischer Unruhen. Einstweilen hatte der Streit um die Vorherrschaft seine Heimat erreicht. Nichts als Tod und verbrannte Erde waren von dem einst fruchtbaren Gebiet übrig geblieben, höchstenfalls die kopflose Leiche des ehemaligen Fürsten.
Zu feige, sich dem rituellen Selbstmord hinzugeben – Ehre sowie gleichsam Pflicht eines Rōnin – war Yaten geflohen. So begab es sich, dass er herrenlos, ziellos und beschämt umherstreifte.
Tage waren an ihm vorbeigezogen. Ebenso Nächte. Wochen waren vergangen, dann Monate. Zeit spielte keine Rolle. Nicht mehr. In einer Woche würde er seinen Geburtstag jenseits der 30 feiern, überlegte er. Es war ihm gleich. Während er durch das schneebedeckte Tal stapfte, überdachte er seine Vergangenheit. In seiner Jugend hatte er die Aussicht auf Wohlstand, Ruhm, Anerkennung genossen. Im Bruchteil weniger Augenblicke war ihm jede Hoffnung geraubt worden. Infolgedessen hatte er jeden Respekt vor sich selbst verloren.
Immerzu stellte er sich zwei Fragen: Hätte er den Tod des Fürsten verhindern können? War es falsch, seiner Heimat den Rücken zu kehren?
Darauf die Antworten nicht zu kennen, quälte Yaten. In seiner Funktion als Samurai, in seiner Behauptung, dem besten Schwertkämpfer zu entsprechen und in Anbetracht seiner Ausbildung sollte er meinen, seinen Herrn beschützen zu können. Wäre er im Kampf für seinen Clan gefallen, käme dies einer Ehre gleich. Welcher Krieger gab nicht alles dafür, heldenhaft in der Schlacht zu sterben? Was aber hatte er getan?
Am Abend vor dem Angriff hatte Yaten unbedingt sein Können unter Beweis stellen müssen. Dutzende Duelle hatte er gewonnen. Im Anschluss an seine Siege war er saufen gegangen. Seine Sauftour hatte die gesamte Nacht hindurch angedauert. Kurz nach Sonnenaufgang waren die Kämpfer des rivalisierenden Clans eingefallen. Nicht ansatzweise hatte er seinen Rausch ausgeschlafen, da war sein Daimyō schon getötet worden. Leicht torkelnd, sich immer wieder übergebend, war er über dessen kopflosen Leichnam gestolpert. Im wahrsten Sinn. Schlagartig hellwach, darüber hinaus ausgenüchtert, hatte er auf dem Weg durch seinen Heimatort die ihn kreuzenden Feinde niedergestreckt. Dank seiner teils angeborenen, teils antrainierten Fähigkeiten hätte er dies selbst im Vollrausch bewerkstelligt. Nachdem Yaten sich ein Bild von der Lage verschafft und das Unheil wahrgenommen hatte, war ihm als einzige Lösung die Flucht eingefallen. Durch Fremdeinwirkung verursachte Brände hatten die Häuser verschlungen. Überall war er Leichenbergen begegnet. Keinesfalls die Angst hatte ihn übermannt und ihn verleitet, der Scham hatte ihn befallen. Auch jetzt nagte dieses Schamgefühl an ihm. Hätte er weniger getrunken … wäre er doch geblieben, um nach Überlebenden zu schauen … um nachzusehen, ob sich seine Eltern darunter befanden …
Könnte er die Zeit zurückdrehen ...
Yaten stieß einen Seufzer aus. Vor seiner Nase bildete sein warmer Atem, vermischt mit der Winterluft, Rauschschwaden. Höchstens notdürftig schützten Hakama und Haori ihn vor der Kälte. Wenigstens ein Katana trug er bei sich, gebunden an seinen Obi. Weil Schmach sein Innerstes zerfraß, verweigerte er das Mitführen zweier Schwerter. Mit jedem Schritt durch den pulvrigen Schnee sogen seine Zori Sandalen Feuchtigkeit auf. Dadurch durchnässt, spendeten seine Tabi keine Wärme. Quasi von unten herauf fror Yaten, Gänsehaut bedeckte seinen Körper. Obwohl er marschierte, zitterte er. Er konnte von Glück reden, in den vergangenen Wochen und Monaten regelmäßig Unterschlupf in den hiesig verbreiteten Tempeln gefunden zu haben. Die warmen Nachtlager samt den gespendeten Speisen hatten ihn am Leben gehalten. Kurz hielt er inne. Den Blick gen Himmel gewandt, überlegte er, wo das nächste Dorf oder die nächste Tempelstadt lag. Beunruhigt nahm er die tief liegende Wolkendecke zur Kenntnis. Die ihn umgebende Luft roch frisch. Die Farbe des Wolkenturms ließ auf baldigen Schnee schließen. Zwingend musste er einen Unterschlupf finden, ein Schneesturm könnte sein Erfrieren bedeuten. Bei dem Gedanken schüttete sein Gehirn Adrenalin aus. Klopfenden Herzens stapfte er los. Mühevoll bahnte er sich seinen Pfad. Seine Konzentrationsfähigkeit stieg und er erinnerte sich an eine seiner vergangenen Reisen. Plötzlich wusste er, wohin er zu marschieren hatte und wie lange er benötigen würde.
Allmählich überzogen Schatten das Land. Nach der Stellung der Sonne zu urteilen, versank sie in spätestens einer Stunde hinter dem Horizont. Vor Einbruch der Dunkelheit beabsichtigte Yaten, in der westwärts ungefähr fünf Kilometer entfernten Siedlung einzutreffen. Mit dem Ziel vor Augen gelang es ihm, stracks voranzukommen. Der Wind frischte auf. Tränen traten in seine Augen. Einzeln kullerten sie seine Wangen hinab, benetzen seine Haut, gefroren unmittelbar. Automatisch kniff er die Lider zusammen. Durch verbleibende Schlitze erfasste er einen sich vor ihm befindlichen rostroten Fleck. Etwas lag im Schnee. Etwas, das Fell besaß. Ein Tier? Ja, sicherlich. Unmittelbar vor seiner Position verharrte Yaten. Den Kopf leicht schief gelegt, blickte er hinab und blinzelte. Was es war, es musste tot sein.
Unvermittelt stellten sich die Ohren auf, folglich hob es sein Köpfchen. Goldgelbe Iris starrten den Wandersmann an. Für einen Augenblick stolperte sein Herz. Gleichwohl er für einen Moment erschrak, faszinierten ihn die kristallklaren Knopfaugen. Darin erkannte er eine Intelligenz, wie er sie bei keinem seiner Mitmenschen bislang wahrgenommen hatte. Ein leises Fiepen entrann der Kehle des Tiers. Litt es an Schmerzen? Er kniete sich nieder. Beim genauen Betrachten stellte er fest, bei dem Fellknäuel handelte es sich um einen Fuchs. Ob er in seinem Leben je einen in natura gesehen hatte? Auf Bildern in Büchern sicherlich. Scheu, wie sie waren, hielten sich die Tierchen gewöhnlich von Menschen fern. Ebenso verhielt es sich andersherum. Gemäß einem altbekannten Glauben galten Füchse als trickreiche Verwandlungskünstler. Und als böse. Schon überlegte Yaten, aufzustehen und einfach weiterzugehen. Schließlich litt er unter Zeitdruck und auf böse Omen gedachte er, zu verzichten. Zur Untermauerung seiner Überlegung rieselten Schneeflöckchen auf sein Haupt. Genauso auf das des piepsenden Wesens. Weiße Kristalle bedeckten den rostroten Pelz. Einem Impuls folgend, wartete er ab. Der Fuchs schaute ihn an. Ein Geruch kitzelte seine Nase. Blut? War der Kleine verletzt? Erwartete das Tier Hilfe? Womöglich den Gnadenstoß? Unauffällig ließ Yaten seinen Blick über den schmächtigen Körper gleiten. Tatsächlich bemerkte er einen tiefroten Fleck an den Hinterläufen. Entweder hatte es sich die Haut an einem unter dem Schnee verborgenen Gehölz aufgerissen oder …?
Heulen.
Sofort spitzte das verletzte Fellbündel die Ohren. Von früheren Trainings in der Wildnis kannte Yaten etwaige Geräusche. Wölfe. Bestimmt hetzten sie hinter dem Füchslein her. Mehr noch ein Grund, das Weite zu suchen. Obzwar jede Zelle in seinem Körper ihn zum Aufbruch drängte, rührte er sich keinen Millimeter. Wieder fixierten die gelben Iris Yaten.
Ohne weiter nachzudenken, schlüpfte er aus seinem Haori und wickelte den Verletzten darin ein. Die Dämmerung setzte ein. Um rechtzeitig vor Einbruch der Nacht zur Siedlung zu gelangen, müsste er sich beeilen. Eile war geboten. Wohl würde er seinen jüngsten Schützling tragen. Doch vorher hatte er eine Sache zu erledigen.
Abrupt stand Yaten auf, seine rechte Hand lag auf dem Schwertgriff.
Sie kamen.
Heulen. Hinter ihm.
Bereit riss Yaten sein Katana aus dessen Scheide. Trotz äußerlich vorherrschender Kälte tobte Hitze in seinem Innern. Im Bruchteil einer Sekunde sog er Atem durch seine Nasenflügel ein, damit er ihn im nächsten Moment ausstoßen und gleichzeitig vorpreschen konnte. Sein meisterlich ausgeführter Hieb spaltete den Schädel des anstürmenden Wolfs. Regungslos sackte das graue Wildtier auf den Grund. Die Wildnis gewährte ihm keine Atempause. Zwei weitere Räuber sprangen über die Leiche ihres Kameraden hinweg. Fokussiert auf Atem- und Schwerttechnik führte Yaten seine Waffe, die Klinge schnitt die Atmosphäre sowie die Leiber der Angreifer.
Im Hintergrund zählte er die Schemen von vier weiteren Gesellen. Knurrend, die Häupter bedrohlich geneigt, die zusammengekniffenen Augenpaare auf ihn gerichtet, verweilten sie an Ort und Stelle. Sie agierten vorsichtig. Nach einer halben Minute schritt einer nach vorn. Das Alphatier? Abwechselnd starrte es ihn und den Fuchs an. Wie er richtig vermutet hatte, hetzte das Rudel hinter dem kleinen Roten her. Bei seiner Flucht musste sich das Füchschen verletzt haben. Oder es war gebissen worden. Für eindringlichere Mutmaßungen schien gewiss nicht der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, denn der Alpha fletschte die Zähne. Der Anführer hatte seine Wahl getroffen, die Angriff verhieß. Yaten positionierte sein Katana. Dessen Schwertspitze deutete auf seinen Gegner. Der Fuchs stieß einen Klagelaut aus und der Wolf stürzte los.
Nach außen wirkte es, als reagierte der Schwertkämpfer in Zeitlupe. Für ihn entsprach dies gewiss der Wirklichkeit. Seiner Realität. Er überlegte nicht. Keinerlei Gedanken verschwendete er an Technik oder Ausführung. Er handelte instinktiv. Zweieinhalb Jahrzehnte des Trainings hatten seinen Geist geschult. Jede Zelle seines Körpers reagierte vollkommen automatisiert auf den eintretenden Reiz. Das nächste Mal, als er seine Umwelt bewusst wahrnahm, tränkte Blut den Schnee. Im Bruchteil von Sekunden hatte er alle Wölfe niedergestreckt. Inmitten des Gemetzels lugte der in seinem Haori eingewickelten Fuchs aus dem Kleidungsstück heraus. Unsicher begutachtete er die Szenerie, schnüffelte und fiepte. Er wehrte sich nicht, als Yaten ihn aufhob. „Komm“, sagte er zu dem wimmernden Bündel, seine ersten Worte nach Tagen der Abstinenz von jeder Art von Kontakt, „suchen wir uns eine Zuflucht vor dem nahenden Sturm.“

Der Schneesturm kam urplötzlich. Er dachte, das Wetter richtig einschätzen zu können. Eindeutig hatte er sich verkalkuliert.
Aufgrund des Adrenalins in seinem Körper, sicherlich hervorgerufen von einer unbewussten Angst, bald zu erfrieren, spürte er die Kälte kaum. Zumindest nahm er sie nicht wahr. Stärker belastete ihn die Sorge, durch den entstandenen Schneenebel höchstens marginal sehen zu können. Einigermaßen die Orientierung zu behalten, kostete ihn Mühe. An seiner Brust zitterte das verletzte Bündel Tier. Fell und Haori spendeten dem Fuchs unzureichend Wärme. Yaten überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn zurückzulassen. Seine Überlebenschancen waren vorher bereits schlecht gewesen, inzwischen sanken sie gen null. Da der Wanderer sich nun einmal für diese undurchdachte Heldentat entschieden hatte, würde er sie durchziehen. Entweder schafften sie es durch ein Wunder bis zur Siedlung oder sie verendeten gemeinsam. Für möglich hielt er, dass die Konsequenzen seiner Entscheidung einer Fügung des Schicksals entsprachen. Passend dazu erstarkte der Sturm. Durch die Wand an Millionen von Schneeflocken erkannte Yaten einzig die Farbe Weiß. Weiterzugehen, erfüllte keinerlei Zweck. War diese Wendung also seine Strafe?
Seufzend tat Yaten, was er für am sinnvollsten erachtetet. Gesengten Hauptes kniete er in den eisigen Schnee, zog den Fuchs enger an seinen Körper. Sein leicht bärtiges Kinn betete er auf dessen Fell. Andächtig schloss er die Augen. Falls er leiden müsste, hätte er dies verdient. Für seinen Gefährten hoffte er auf einen schnellen, gnädigen Tod. Überrascht öffnete er die Augenlider. Das Füchschen hatte begonnen, mit der Zunge über seine Wange zu lecken. Eine Liebkosung? Oder ein Dankeschön? Unwillkürlich lächelte er. Sofern es sich um eine Füchsin handelte, konnte er behaupten, bei seinem Ableben eine Frau in den Armen gehalten zu haben und von ihr geküsst worden zu sein. Welch ein reizendes Happy End!
Und dann war der Sturm vorbei. Einfach so. Als hätte das Schicksal seine Meinung geändert.

Das Wunder war eingetreten. Eine Dreiviertelstunde, nachdem er im Stillen seinen sicheren Tod akzeptiert hatte, erreichte er die Siedlung. Im Prinzip erlebte er ein doppeltes Wunder. Längst hatte die Nacht das Land verschluckt. Mit getrübtem Blick und ausschließlich der fernen Erinnerung einer einzigen vergangenen Reise hatte er die korrekte Wegstrecke gefunden. Froh sowie dankbar, endlich angekommen zu sein, hielt er Ausschau nach einem Nachtlager. Weiterhin trug er den indes schlafenden Fuchs. Fürwahr vertraute das Knäuel seinem Träger, sonst ließe es seine Deckung nicht arglos fallen.
Wenig überraschend, doch umso erschütternder, gestaltete es sich als nahezu unmöglich, eine Schlafstätte zu finden. Weder, weil er als Rōnin umherstreifte, noch, weil er äußerlich wie ein Landstreicher daherkam. Generell verhielten sich die Menschen Fremden gegenüber freundlich. Gern halfen sie in der Not. Und Samurai, selbst herrenlose, genossen hohes Ansehen. Das Problem lag in Yatens Begleiter. Dem Aberglauben geschuldet waren Füchse – Kitsune – ungern gesehen. Obzwar Yaten die Märchen für Unfug abtat, von seinem rostroten Fellbündel ungefähr so viel Gefahr ausging, wie von einer Eintagsfliege, machte er den Bewohnern ihren Argwohn nicht zum Vorwurf. Die Aussagen deckten sich. Ihn hießen die Gastgeber willkommen. Sobald er den Unheilbringer aussetzte oder besser gleich tötete.
Yaten zögerte nicht. Keinen Gedanken verschwendet er mit der Abwägung der Optionen. Unter einem Baum, an einer von Schnee freien Stelle, bezog er Stellung. Bequem auf seinem Schoß verharrend, betrachte sein aufgewachter Gefährte ihn. Auch wenn die menschliche Sprache ihm ungeläufig war, schien er das Opfer seines Gönners zu deuten. Behutsam leckte er über dessen Hand. Zum wiederholten Mal lächelte der Schwertkämpfer, denn sein Herz bestätigte ihm, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Am darauffolgenden Morgen erwachte Yaten vor Sonnenaufgang. Hätte er sein Spiegelbild sehen können, wären ihm die rot-blau angelaufenen Ohren und Nasenflügel aufgefallen. An den gefrorenen Stellen litt er keine Schmerzen, vielmehr nahm er kein Gefühl wahr. Eine ähnliche Taubheit bemerkte er in seinen Füßen. Ungelenk erhob er sich. Dabei weckte er seinen Schlafgast. Aufgeschreckt von der ruckartigen Bewegung sprang der Fuchs von seinem Schoß, schüttelte sich daraufhin auf dem Boden. „Hey, mein kleiner Freund“, begrüßte der Wanderer seinen Wandergefährten. Füchschen schaute zu ihm hinauf. „Warte hier“, bat Yaten im Flüsterton, „ich besorge uns etwas zu essen.“
Ohne abzuwarten, marschierte er los. Um zu vermeiden, dass sein Kumpel ihm folgte, blickte er starr geradeaus und vermied ermutigende Blicke über die Schulter.
In der nächsten Stunde klapperte Yaten die umliegenden Häuser ab, suchte sogar den örtlichen Tempel auf. Verwundert nahm er die Abweisung der Bewohner zur Kenntnis. Aus seinen vergangenen Erfahrungen war er Gastfreundschaft und Großzügigkeit gewohnt, die ihm heute entgegengebrachte Ablehnung sowie Kaltherzigkeit überraschte ihn. Ja, sie erschreckte ihn regelrecht. Als den primären Grund für die Reaktion der Siedler erkannte er seinen Begleiter. Sicherlich mieden die Abergläubischen ihn, weil sie hinter seiner Fassade ein von einer Kitsune verzaubertes Opfer vermuteten. Resigniert kehrte er zu seinem Nachtlager zurück. Der Fuchs war fort. Ein anderer hätte erleichtert reagiert. Er nicht.
Lediglich seit einem nicht nennenswerten Zeitraum kannte er den Flohfänger, schon hatte er ihn ein wenig gern. Leicht betrübt schluckte er.
Im Augenwinkel registrierte er eine Bewegung. Sofort schnellte seine Hand auf den Schwertgriff. Sekündlich fuhr Yaten herum. Perplex blinzelte er. Dann lachte er auf, ein heiseres Glucksen entrann seiner Kehle. Vor seinen Füßen war der Fuchs erschienen, aus dessen Maul die zuckenden Beine einer Maus heraushingen. Sein Freund spie den Fleischhappen aus und starrte ihn an. Offensichtlich bereitete er seinem Retter ein Mahl. Sichtlich gerührt, kniete Yaten neben das rostrote Pelzknäuel, strich sanft über das kühle Fell. „Danke!“, hauchte er, „doch nimm du diesen Snack zu dir.“ Fuchs gähnte. Lächelnd ergänzte der Schwertkämpfer: „Wenn sie uns hier nicht haben wollen, gehen wir weiter. Und wir besorgen uns unsere Mahlzeit auswärts.“

Mit „auswärts“ meinte Yaten außerhalb der Siedlung. Fürwahr gestaltete sich die Jagd auf Frischfleisch inmitten von Schnee und Eis als schwierig. Doch welche Wahl blieb ihnen?
Bis zum Mittag watete das Gespann durch in der Sonne halb getauten Schneematsch. Als die Mittagsstunde angebrochen war, spitzte Fuchs schlagartig die Öhrchen. Einen Wimpernschlag darauf stürmte er davon. Zögern erschien fehl am Platz, weshalb der Rōnin ihm unmittelbar hinterher hetzte. Tatsächlich! Vor seinen Augen erschien ein Hasen-Pärchen! Angesichts der Gefahr flohen die Karnickel, so schnell ihre Beinchen sie trugen. Ihre wahnwitzige Geschwindigkeit schützte sie keineswegs vor dem Jäger. Mit atemberaubender Anmut stürzte sich das Raubtier auf seine Beute. Flugs erlegte er Usagi Nummer Eins. Beutetier Zwei wechselte die Richtung, fixierte eine nahe Felsformation an. Zweifelsohne ein Hasenbau.
Um seiner Ausbildung gerecht zu werden und seinem Freund alle Ehre zu machen, bündelte Yaten sämtliche Kraftreserven. Minder elegant setzte er zu einem Hechtsprung auf Usagi Zwei an. Nun ja, sein Begleiter war fixer. Ehe er sein Schwert ziehen konnte, hatte der Fuchs den Hasen erlegt und sein Herrchen schön alt aussehen lassen. Unwichtig. „Gut, jetzt müssen wir nur Holz auftreiben“, keuchte der Atemlose. Die Anstrengung, in Verbindung mit den fehlenden Kalorien, zehrte an seiner Konstitution. Ihn ignorierend, riss der Räuber einen Brocken Fleisch aus dem toten Tier. „Schön, dass du dein Gericht roh verträgst“, frotzelte der Hungernde. Zur Antwort erhielt er Schmatzen. Kopfschüttelnd, dennoch grinsend, sammelte Yaten das erste Beutetier auf. Während sein Freund kaute, suchte er Holzstücke zusammen. Dank der trockenen Luft und des Sonnenscheins war er imstande, ein Feuer zu entzünden. Notdürftig briet er seine Portion. Gerade genug, sodass er seinen Magen nicht verdarb. Im Anschluss an das Mahl machten Wanderer und Fuchs sich auf den Weg ins Unbekannte. Wie in jener Siedlung würde es ihnen in umliegenden Dörfern ergehen. Dessen war Yaten sich sicher. Ein schelmisches Lächeln auf den Lippen wandte er sich seinem Begleiter zu. „Es erscheint mir, ich sollte mich an das Jagen gewöhnen.“ Füchschen schaute ihn an. Fast wirkte es, als ob er es seine Worte verstehen konnte. „Solange du bei mir bist“, erklärte der Wanderer, „sind wir auf uns beide gestellt. Ich bin sicher, das wird lustig!“

Noch bevor eine lustige Zeit einsetzen konnte, trübten Kümmernis und Schwermut Yatens Herz. Ein leerer Magen hatte den Fuchs seine Verletzung vergessen – oder zumindest ignorieren – lassen. Die verbleibende Strecke bis zum nächsten Ort legte der flauschige Knirps humpelnd zurück. Innerhalb der letzten Meter bis zum Ortseingang stieß er piepsende Klagelaute aus. Ähnlich zum gestrigen Abend nahm der Mann seinen Kumpel auf den Arm, trug ihn vollends. Ob Unglücksbringer, schlechte Vorboten oder sonstige Omen, augenblicklich musste einer der Ortsbewohner ihnen helfen! Verbandszeug, Medizin, frisches Wasser, etwas davon, ganz gleich. Und wenn er sein Schwert zu ziehen hatte …
Pff! Wohl steckte in der Fellansammlung in der Tat eine Kitsune. Eine, die ihm den Verstand raubte! Anders war sein Geisteszustand nicht zu erklären, so arg er sich um den Kleinen sorgte!
Wichtig erschien ihm, einen Mediziner, möglicherweise einen Arzt zu finden. Erneut wanderte er von Tür zu Tür, klopfte und klopfte.
Mag es an seiner bedrohlichen Haltung, seinem zornigen Blick gelegen haben oder am Aufblitzen des Stahls, als er mit seinem Finger das Katana einen Spart breit aus der Scheide geschoben hatte? Woran auch immer, der siebte Einwohner des 500 Seelen Dörfchens sprang über den Schatten des Aberglaubens und gewährte ihm Hilfe. Mehr oder weniger. Unterstützung wurde Yaten in Form einer Information zuteil. Von seiner Erscheinung sowie dem Schwert eingeschüchtert, riet der Hausbewohner, auf dessen Schwelle er breitbeinig verharrte und sich keinen Meter bewegte, ihm, den hiesigen Dorfarzt aufzusuchen. Gleich die Straße hinunter, dort wohnt er. Sogar die Beschaffenheit des Hauses beschrieb das verängstigte halbe Hemd von einem Mann in sämtlichen Details. Eine Augenbraue erhoben, drohte Yaten damit, wiederzukehren, sollte die Auskunft mangelhaft sein. Geschwind schloss der Kauz die Schiebetür. Als ob die Konstruktion minderer Qualität den Schwertfechter vom Eindringen abhalten könnte!
Der Fuchs stöhnte. Mit jeder vergehenden Minute erging es ihm schlechter. Vorhin hatten Jagdinstinkt und Hunger den Jäger vorangetrieben. War die überlebensnotwendige Nahrungsaufnahme erledigt gewesen, reagierte sein schmächtiger Körper auf die Wunde. In Sorge um seinen Freund spurtete Yaten den leicht unebenen Pfad entlang. Am entsprechenden Hauseingang angelangt, hämmerte er gegen die Holzsäule neben der Schiebetür. Rechts oberhalb von seiner Position baumelten an der Decke befestigte Lampions. Jedes Hämmern versetzte sie in Schwingung.
Sachte wurde die Türe einen Spaltbreit geöffnet. Dunkle Augen spähten hinaus, musterten erst den Menschen, dann das Tier auf seinem Arm. „Der Bauersmann am anderen Ende der Straße wies mich auf Ihre Befähigung als Arzt hin, mein Herr“, raunte der Rōnin höflich, dennoch bestimmend, „angeblich sollt Ihr neben menschlichen Patienten auch schon Viecher geheilt haben.“ - „Du musst fehlinformiert worden sein“, blökte der Greis mit dem faltigen Gesicht zurück, „bereits seit Monaten praktiziere ich nicht mehr!“ Gewiss erschien es frech von ihm, den Krieger zu duzen. Doch er saß am längeren Hebel. Schlagartig verrauchte Yatens aufbrausendes Wesen. Weiche Gesichtszüge spiegelten seinen derzeitigen Gemütszustand. „Bitte“, flehte er, „mein Freund stirbt!“
Eine schier nicht auszuhaltende Weile wägte das Männchen das Pro und Contra für seine weitere Entscheidungsfindung ab. Der mindestens um zwei Köpfe größere Schwertkämpfer gab sich jede erdenkliche Mühe, geduldig seine Contenance aufrechtzuerhalten. Nach Ewigkeiten öffnete der Mediziner die Pforte. Indessen er ihn hineinwinkte, mutmaßte er: „Deinem Aussehen zufolge besitzt du kein Geld.“ Es war keine Frage. Die nussbraunen Augen zu Boden gerichtet, antwortete der Samurai: „Ja, ich bin auf die Großherzigkeit meiner Mitmenschen angewiesen.“ Nickend bestätigte der Doktor: „In Ordnung. In deinem Fall fordere ich einen Gefallen für meine Gefälligkeit.“ Er bugsierte Yaten in die Raummitte. Dessen Mitte zierte ein quadratischer Holztisch. Rundherum dienten Kissen als Sitzgelegenheiten. Auf Anweisung hin legte er seinen winselnden Gefährten vorsichtig auf das Holz. „Hier meine Bezahlung“, bestimmte der Arzt, holte derweil eine Decke und diverse Utensilien, welche der unwissende Gast als Medizinerkram identifizierte, „ich rette deinen Freund. Im Austausch fordere ich ein Leben für ein Leben.“ Missbilligend legte Yaten die Stirn in Falten. „Ihr erwartet von mir, dass ich jemanden töte?“
Untypisch für einen alten, gebrechlichen Greis erschien auf dessen Lippen ein abfällig böses Lächeln. „Erfülle mein Postulat, dann überlebt dein Fuchs.“ Das Grinsen wurde sogar noch bösartiger. „Oder nimm dieses Unheil bringende Dämonenbalg und verlasse mein Haus.“
Yaten schluckte. Schweiß glänzte auf seiner Haut.
Nachdrücklich befeuerte der Alte sein Verlangen: „Falls du gehst, garantiere ich dir, wirst du keinen Ort der Heilung finden. Niemand möchte einen Kitsune im Haus haben, geschweige denn ihn behandeln!“
Wo er recht hatte …
„Sagt mir, Herr“, erbat Yaten zu erfahren, „wer den Tod finden soll.“
Fünf Minuten später hatte der Alte dem Jüngeren Anweisungen erteilt. Während der Rōnin seine Pflicht erfüllen würde, täte der Arzt es ihm gleich. Eilends verließ Yaten das Gebäude. An der Türschwelle räusperte sich der Greis. Der aus dem Schwertadel Stammende wandte sich um. „Meine Worte möchte ich korrigieren“, wisperte die böse Zunge, „genauer betrachtet handelt es sich bei deinem Freund um eine Freundin. Der Fuchs ist eine Füchsin.“
Wortlos machte der Wanderer auf dem Absatz kehrt und stampfte in die Richtung seines Ziels davon. Ungesehen schmunzelte er. Welche Mühen ein Mann doch nur für eine Frau auf sich nahm …

Während seiner aktiven Zeit als Samurai des Daimyō hatte Yaten ein ums andere Mal getötet.
Für ihn existierte dennoch ein gewaltiger Unterschied zwischen der Art des Tötens. Kämpften zwei Krieger gegeneinander, waren sie beide auf ihr Ableben vorbereitet. Erwiesen sich ihre Kräfte als ebenbürtig, fand der Unterlegene einen ebenbürtigen Tod. Mord an einem von vornherein Schwächeren, Unvorbereiteten zu begehen, war ihm bislang als ein falscher Weg erschienen. Zum Krieger hatte er sich ausbilden lassen, mitnichten zu einem Meuchelmörder. Wegen eines Tiers ein Menschenleben zu nehmen, dazu auf die feigste Weise, nagte an seinen Wertvorstellungen, an allem, woran er glaubte.
Darüber durfte er nicht sinnieren. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Wenn dies gleichzeitig auch bedeuten mochte, seinem Opfer die Wahl abzunehmen.
Ein anständiger Charakter zeugte davon, Hintergründe von Handlungen zu erfragen. Hätte Yaten Anstand bewiesen, wäre er den Motiven des Alten auf den Grund gegangen. Nein, er würde sich überhaupt nicht erst auf das Unterfangen einlassen!
Anstatt etwaige Beweggründe zu verstehen, um seine baldige Tat in einer Form zu rechtfertigen, ging er blind der Anweisung eines Fremden nach.
Andererseits, der Samurai glich einem Diener. Doch einem Diener seines Fürsten. Der Arzt entsprach nicht seinem Fürsten.
Seufzend zwang sich Yaten, sein Gedankenkarussell anzuhalten. Sich den Kopf zerbrechen, zermürbte ihn, ehe es ihm half. So wanderte er im Eilschritt einen Hügel hinauf. Vereinzelt eisbedeckte Stellen erschwerten ihm das Vorankommen. Zwischen Wolken hervorlugende Strahlen der Nachmittagssonne trockneten die Schweißperlen auf seinem Gesicht. Schweiß, welcher teilweise von der Anstrengung herrührte, teilweise der Tatsache geschuldet war, dass er den Zielort just erreichte. Auf dem höchsten Punkt des Hügels, dementsprechend oberhalb des Dorfes, lag ein Bauernhaus. Dort lebte, laut Aussage des Arztes, ein Mann mittleren Alters. Welchen Bezug die Herren zueinander hatten, erschien fraglich. Yaten legte sämtliche Moral ab und zog sein Schwert.

Klopfen hielt er für überflüssig. Statt sich hineinzuschleichen, wie ein Assassine es täte, brach er ein. Wäre es sinnvoller gewesen, hätte er bis zum Abend gewartet? Möglicherweise. Doch bis dahin vermochte sich die Wunde der Füchsin zu entzünden. Er musste gleich handeln, damit der Doktor seine Arbeit verrichtete. Ohnehin spielte die Tageszeit eine untergeordnete Rolle. Die Bewohner dieses verschlafenen Nestes, selbst, wenn sie seinen Einbruch bemerkten, was wollten sie unternehmen? Gegen einen ausgebildeten Samurai? Yaten betrat die Stube. An einer offenen Feuerstelle am anderen Ende des Raumes kniete eine Gestalt auf Kissen. Seinen Rücken dem Eindringling zugewendet, ließ er sich weder aus der Ruhe bringen noch dazu herab, aufzustehen. Geschweige denn, einen Blick über die Schulter zu werfen. Sofort stellten sich Yatens Nackenhaare auf. Vorher weitestgehend entspannt, versteifte sich sein Körper. Dieser Mann … ohne Zweifel, er war ein Kämpfer (zumindest gewesen). Unmittelbar erkannte er die kriegerische Attitüde hinter der Fassade eines in die Jahre gekommenen Herrn. Seinem sorglosen Verhalten und der ihn umgebenen Ausstrahlung nach zu urteilen, hatte er einem großen Krieger entsprochen. Einem Samurai.
Yaten schwieg. Er wartete. Minuten in Stille vergingen. Das Knistern einer einzelnen Flamme stellte das einzige Geräusch dar. Weitere Sekunden verstrichen. Gemächlich erhob sich der Sitzende. Geschätzt besaßen er und der Arzt dasselbe Alter.
„Da schickt er mir nach all den Jahren schließlich doch meinen Henker und macht seine Drohung wahr“, wisperte der Herr. Primär richtete er die Worte an sich selbst, weniger betrafen sie den Eindringling. Zweifelsfrei sprach er über den Doktor. Zwischen den Männern hatte es einen Vorfall gegeben, dessen war Yaten sicher. Welches Ereignis die Zwietracht gesät hatte, sollte er später noch erfahren. Zunächst wandte sich der Hausherr seinem ungebetenen Gast zu. „Und du bist?“
Der nächste Ältere, der den Jüngeren gleich zu Beginn duzte. Aus Respekt vor der Lebenserfahrung sah er ihm den Affront nach. „Fujihiro Yaten“, beantwortete er die Frage, „aus dem Tal hinter dem Berg.“ - „Nach einem Meuchelmörder siehst du mir nicht aus“, stellte der ehemalige Samurai fest, „dein geräuschvolles Eindringen zeugt von Rohheit, keineswegs von den Fähigkeiten eines im Schatten Agierenden“ – „Rōnin“, erklärte der Angesprochene nüchtern. „Ah, natürlich!“, bestätigte der inzwischen Ergraute. Sechs Schritte benötigte er, um zur linken Wand zu gelangen. Auf einer Vorrichtung bahrte sein Schwert. Behutsam, fast andächtig, nahm er das Stück mit der wunderschönen rot und grün verzierten Scheide hinunter. „Ehe wir beginnen, sollst du eines wissen“, hauchte er, „egal, was der alte Sack behauptet, es geschah einvernehmlich. Sie wollte es! Dass sie sich das Leben nahm, lag an einer geistigen Störung. An ihren Suizid trage ich keinerlei Schuld.“
Automatisch legte Yaten die Stirn in Falten und zog eine Augenbraue in die Höhe. Darum ging es also? Eine Frau. Die Tochter des Arztes oder seine Gattin?
Wie er in seiner aktiven Zeit unter dem Dienst des Fürsten bemerkt hatte, ersuchten etliche, zum Teil hinreisende, wunderschöne Frauen die Nähe der Samurai. Macht, Einfluss, Stärke, diese Attribute wirkten verführerisch, männlich, anziehend. Überwiegend gaben sie sich ihnen freiwillig hin, manchmal drängten sie sich ihnen regelrecht auf. Selten geschah es dennoch, dass ein Vertreter aus dem Kriegeradel seine Stellung missbrauchte und eine Frau, ja, eben missbrauchte. Ob ähnliches der Ehefrau oder Tochter des Arztes tatsächlich widerfahren war, konnte Yaten höchstens erahnen. War der pensionierte Krieger ein Widerling oder ein vom Vater oder Ehemann der Verstorbenen deformiertes Opfer? Die Wahrheit kannten nur sie und der ihm gegenüberstehende Mann.
Gleichgültig senkte der Rōnin seinen Blick. Jedweden Gedanken an mögliche Szenarien verbannte er aus seinem Kopf. Er hob das gezogene Schwert, richtete die Spitze auf sein Ziel und fixierte dieses nun mit den Augen.
„Verstehe“, sagte der andere, „entweder glaubst du mir nicht oder meine Worte stoßen bei dir auf taube Ohren.“ - „Letzteres.“
Nickend befreite der Alte sein Schwert aus der Scheide. Weitere Worte erschienen überflüssig.
Nach Art der Samurai startete ein Kampf auf Leben und Tod.

Ein geschlossener, flächenmäßig überschaubarer Raum erschwerte die optimale Nutzung eines Langschwerts. Über diesen Umstand waren sich die Kontrahenten bewusst. Für lang ausgedehnte Sekunden verharrten sie auf der Stelle, lediglich die minimal notwendigen Regungen vornehmend. Absolute Stille herrschte. Von außen betrachtet schien es sogar, als hätten sie das Atmen eingestellt. Jeder wartete auf den Zug des Gegenübers. Bedrohliche Schwingungen flackerten in der Sphäre. Beide Männer erreichten den höchsten Grad ihrer Konzentration. Aktuell fochten sie das Duell mit ihren Blicken aus. Zwinkern vermieden sie. Beidseitig tropfte Schweiß auf die Tatami. Innerlich bereitete sich Yaten auf seinen Tod vor, eine erforderliche Geisteshaltung innerhalb von Gefechten. Bereit, seinem Schöpfer gegenüberzutreten, machte er einen Schritt vorwärts, dann einen zur Seite. Unverzüglich spiegelte sein Gegner die Aktion. Kurzerhand umkreisten sie einander. Von rechts nach links, von links nach rechts.
Als ob ein unsichtbarer Schiedsrichter der Anstoß gegeben hätte, preschten die Samurai los. Zwei Schritte, die Klingen trafen aufeinander. Ein spitzes „Kling“ brach die Stille. Nachfolgende Schwertstreiche. Klack, klack, klack. Insgesamt viereinhalb Sekunden dauerte die Begegnung. Abschließend initiierten die Kämpfer ihren jeweils letzten Hieb. Rücken an Rücken standen sie nun, die Schwertspitzen zu Boden geneigt. Blut rann hinunter. Es stammte von ihnen beiden. Yaten fasste an seine Brust. Auf Höhe des Herzens klaffte eine Wunde. Sie schmerzte. Doch sie war nicht tief genug. Nicht tief genug, um als tödlich zu gelten. Er atmete ein. Während er den Atem ausstieß, warf er einen Blick über die Schulter. Sein Gegner fiel auf die Knie, daraufhin bäuchlings auf die Tatami-Matten. Im Gegensatz zu seinem eigenen, als oberflächlich zu betrachtenden Schnitt hatte Yaten die Bauchdecke seines Gegners fein säuberlich aufgeschlitzt. „Ruhe in Frieden“, sagte der Sieger. Der Verlierer antwortete: „Du kannst mich mal, du verdammter Rotzlöffel!“
Wahrlich rührende Abschiedsworte!

Vor dem Haus erwartete eine neugierige Meute aus versammelten Dorfbewohnern den Fremden. Unbeeindruckt verließ Yaten das Gebäude. An seinem Obi befestigt, ruhte sein Schwert in dessen Scheide. In der rechten Hand trug er einen aus Laken gebastelten Beutel. Darin befand sich der Beweis über seinen Sieg, der abgetrennte Kopf des Gegners. Mit der baumelnden Wolltasche stolzierte er an den gaffenden, flüsternden Einwohnern vorbei, bahnte sich einen Weg. Nicht, dass ihn dies sonderlich viel Mühe gekostet hätte. Kaum erblickten die Menschen den blutgetränkten Stoff, stoben sie wie aufgescheuchte Vögel auseinander. Niemand würde es wagen, den Krieger anzugreifen, wenn es sich bei diesem auch um einen Rōnin handelte.
Froh darüber, dass der ihm entgegengebrachte Respekt der Gemeinschaft für Abstand und damit Ruhe sorgte, begab er sich zum Haus des Doktors. Manierlich klopfte er. Hinter der Schiebetür erschien die Silhouette des Eigentümers. Am anderen Ende der Straße starrten die Dörfler weiterhin.
Der Alte öffnete. Sobald der Türspalt groß genug war, sprang der Fuchs hinaus. Pardon, die Füchsin. Närrisch wedelte ihre Rute, indessen sie aufgekratzt zwischen Yatens Füßen immer wieder hindurchschlüpfte. Der Anblick erinnerte ihn an einen Welpen.
„Du bist gesund! Munter obendrauf!“, stellte der Wanderer erleichtert fest. Am Hauseingang räusperte sich der Doktor. „Natürlich ist sie das! Glaubst du, ich bin ein Quacksalber?“
Dankbar verbeugte Yaten sich, drapierte den eingepackten Kopf auf der Veranda. „Die Bezahlung“, erklärte er knapp.
Ohne ein Dankeswort nickte der Mann, winkte dann mit den Händen zum Zeichen, die Fremden sollen verschwinden. Die Schuld war beglichen. Zwischen ihnen existierte keine weitere Verbindung. Wie der Kauz seine Füchsin in der kurzen Zeit hatte heilen können, interessierte ihn zweitrangig. Lediglich, dass ihre Wunde verbunden und sie offensichtlich fidel war, schien von Bedeutung.
Yaten kehrte dem Haus sowie dem Dorf und seinen Bewohnern den Rücken zu. Links trug er sein Schwert. Rechts schritt der Fuchs neben ihm entlang. „Was meinst du?“, fragte er seine Freundin, „sind wir fit genug, um unser Abendessen zu jagen? Langsam bekomme ich Hunger. Ein Nachtlager sollten wir ebenfalls suchen.“ Durch ihre intelligenten Augen sah sie ihn an. Obwohl sie seine Sprache nicht sprach, verstand sie ihn. Die Ohren gespitzt, hob sie ihre Nase, schnüffelte. Mit dem Wind erhaschte sie einen Duft. Einen Laut ausstoßend, flitzte sie los. „Oh weh“, seufze er lächelnd, rieb sich den Nacken, „was er ihr gegeben hat, ich will es haben!“ Glucksend rannte er ihr hinterher.

Wie es bei Gerüchten üblich war, verbreite sich das Gerede über einen umherstreifenden Rōnin und seinen Fuchs bald im ganzen Land.
Nach wenigen Tagen begann Yaten, seine Weggefährtin wertzuschätzen. Nach wenigen Wochen baute er eine freundschaftliche Beziehung zu diesem Tier auf. Bereits nach zwei Monaten entstand daraus eine gewisse Art Liebe. Einzig Tierhalter vollzogen eine solch tiefe Empfindung nach. Aufgrund seiner Gefühle taufte Yaten die Füchsin auf den Namen „Ai“.
Unerheblich, wohin es das Gespann verschlug, in welcher Provinz oder Siedlung sie landeten, er ließ es zu keinem Zeitpunkt zu, dass er akzeptiert und sie abgelehnt wurde. Mit vergehenden Sommern und Wintern kannte ein jeder weit und breit den Wanderer und seine Freundin, den Fuchs. Ein Japaner hatte eine Kitsune zur Gefährtin gewählt. Aus dem Sträflichen wurde Normalität. Allmählich akzeptierten die Menschen diese ungewöhnliche Freundschaft. Sogar gestaltete sich daraus eine Sensation. Tempel öffneten Yaten und Ai die Tür, hießen sie willkommen. Privatpersonen ebenso. Unbedingt wollten Klein wie Groß die Geschichte hören. Schwierigkeiten, eine Unterkunft oder Essbares zu finden, bekamen Wanderer und Fuchs nimmer mehr.
Zusammen verbrachte das ungleiche Pärchen ein wundersames, gleichermaßen wunderschönes Leben. Wenn Yaten schlief, lag Ai, eng an ihn geschmiegt, auf Höhe seines Kopfes. Übernachteten sie außerhalb der Dörfer, gingen sie gemeinsam auf die Jagd. Durfte er bei Einheimischen ein Bad nehmen, badete sie mit ihm. Keinen Tag verbrachten sie getrennt voneinander. Inständig hoffte er, seine Gefährtin nicht überleben zu müssen. Der Himmel zeigte Einsicht. Großmütig erhöhten die Kami seine Gebete. Im Vorhinein hatte ihm die Kenntnis gefehlt, welches Alter Füchse erreichten. Oder betraf der Segen lediglich seinen Fuchs? Jenseits der 60 angelangt, weilte die inzwischen deutlich über 20 Jahre alte Ai noch immer an seiner Seite.
Jahre der Wanderschaft forderten ihren Tribut. Nachdem er seinen 63. Geburtstag gefeiert hatte, bemerkte Yaten die Erschöpfung in Gliedern mitsamt Knochen. Auf seine Gebrechlichkeit reagierte auch seine Füchsin.
In einer warmen Sommernacht, die Sonne war vor Minuten hinter dem Horizont verschwunden, warf letzte Schatten auf die Ebene, legte sich Yaten auf eine saftig grüne Wiese, bettete sein Haupt auf Gras. Auf seiner Brust ließ Ai sich nieder. Sanft streichelte er ihr Fell. Gleichermaßen, wie sie seit ihrer Begegnung alles zusammen unternommen hatten, schliefen sie im Einklang ihrer beider Herzen ein. Sie wachten nicht mehr auf. Doch wie zu Lebzeiten, traten sie die Reise nach ihrem Tod gemeinsam an. Für ewig waren ihre Seelen vereint. Weder Leben noch Tod konnten Fuchs und Wanderer jemals trennen.