Die Legende von Tiger und Drache / Teil 1 / Tigerwasser - Eine Leseprobe


Die Stadt zwischen zwei Meeren, Trapani, lag im äußersten Nordwesten Siziliens und gehörte zu den siebtgrößten Städten der Insel. Erwähnung fand sie in Vergils Meisterwerk „Aeneis“, demzufolge Aeneas Vater auf Drepanum, welches dem lateinischen Wort für Trapani entsprach, gestorben und vergraben worden war. In der Antike hatte das Volk der Phönizier begonnen, Trapanis Küste zu einem Handelshafen auszubauen. Deutlich an Bedeutung hatte die Gegend ab dem Mittelalter gewonnen. Araber hatten wertvolles Salz an wichtige Geschäftspartner, darunter Italien, Frankreich sowie England verkauft. Zweifellos war Trapani zur wichtigsten Hafenstadt Siziliens geworden. Wie andere Gebiete hatte die Provinz während des Zweiten Weltkriegs schwere Schäden erlitten. Die Wiederaufbaumaßnahmen hatten von 1950 bis 1965 angedauert. Zu dieser Zeit, noch bis zum heutigen Tag, hatte die Salzgewinnung die Liste der bedeutendsten Wirtschaftszweige angeführt. Trapanesische Weine, wie der „Grillo“, erlangten weltweite Berühmtheit. Dem natürlichen Lauf der Dinge geschuldet, lockten pulsierende Handelszentren Kriminalität an. Die hiesige Mafia galt als eine der einflussreichsten Siziliens. Nicht grundlos bangten Einwohner tagtäglich um ihre Sicherheit. Anders Ermano. Kamen sie ihm krumm, verwies er die aufmüpfigen Möchtegerngangster in die Schranken. 110 Jahre Unterricht in Kriegs- und Kampfkunst, obendrein Waffenkunde, hatten ihn zu einem unangenehmen Gegner gemacht. Wer bescheuert war, sich mit ihm anzulegen, dem konnte nicht geholfen werden.
Seine erste Lektion hatte er im zarten Alter von fünf Jahren erhalten. Draußen, auf dem familieneigenen Garten. Bereits früh in seiner Entwicklung hatte Ermanos Vater dem Knaben eingeimpft, über besondere Kräfte zu verfügen, die weit über die Stärke Normalsterblicher hinausgingen. Mann-gegen-Mann Gefechte dürften ihm keinerlei Problem bescheren.
Kontinuierlich hatte die Geschichte für die Erben der Phönixmacht dasselbe Schicksal vorgesehen. Ihre Bestimmung hielt die Gesegneten in einem unaufhörlichen Kreislauf gefangen. Im Anschluss eines jeden Überfalls der Anderwesen zeugten die Träger des Yin und des Yang Nachkommen, gaben hierdurch ihre Macht an die nächste, für den weiteren Kampf fitte Generation weiter.
Zwischen den Angriffen der Außerirdischen hatten zumeist mehrere Jahrzehnte gelegen. Sofern den Notizen Glauben geschenkt werden konnte. Falls die raren, handgeschriebenen Aufzeichnungen stimmten, glichen intergalaktische Portale nicht zu manipulierenden Naturphänomenen. Wissenschaftler der Tigris vermuteten die Anderwesen außerstande, eine Öffnung aktiv herbeizuführen. Ergo musste die Ankunft der Aliens vom Zufall abhängen. Teilweise hofften die Tigris dies. Für die Akademiker des Clans stand fest, zum Durchqueren des Raumes brauchte es bestimmte Konstellationen im Raumzeit-Gefüge. Welche Faktoren die Entstehung eines nutzbaren schwarzen Loches bedingten, dies galt es herauszufinden. Besser früher, wie spät.
Um der Gefahr entgegnen zu können, lebten Erbträger, einschließlich deren Angehörige, etliche Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Unsterblich machte sie der Umstand keineswegs.
Damit die Sprösslinge der wiederkehrenden Offensive standhielten, über ausreichend Gelegenheit zur körperlichen und seelischen Vorbereitung verfügten, hatten die Erbträger sich unmittelbar nach den Gefechten fortgepflanzt. Selten brachten die Frauen mehrere Kinder zur Welt. In erster Linie existierten ein Tiger sowie ein Drache gleichzeitig. Jeweils der älteste Nachkomme erbte das Gen. Unter den Ahnen hatte es die Mehrheit bei einem Kind belassen. Vermutlich aus Gründen der Effizienz.
Da ein erneuter Vorstoß der Anderwesen außer Frage stand, hatte Ragna Tigris seinen Sohn Ermano gnadenlos und mit voller Härte ausgebildet. Fatum hatte dem stolzen Oberhaupt nicht nur die Herrschaft über die Familie geschenkt, sondern seinem Spross zudem den Erhalt des Yin gewährt. Eine Ehre, die eigentlich Brunos Nachkömmling gebührt gehabt hätte. Aus Ragnas Sicht verdiente Ermano diese Macht, war er doch ein würdiger Tiger. Sein vermaledeiter Bruder hatte sich das eigene Grab geschaufelt. Durch Kreuzung mit der Draconis-Schlampe hatte deren gemeinsames Gör das Gen des Drachen geerbt. Eine Schande und Verschwendung der großartigen Macht, jedoch unveränderlich. Inzwischen waren Bruno und die Hure tot, sowohl physisch als auch in den Gedanken der Hinterbliebenen. Ragna hatte ein Band des Schweigens innerhalb der Familie geknüpft. Dadurch sorgte er dafür, dass es so blieb.
Seit jeher scharten Tigris Anhänger um sich, die sich vorab als vertrauenswürdig erweisen mussten. Je mehr Untertanen, desto besser.
Frauen erhielten eine Sonderstellung. Sämtliche Nachkommen der Tigris waren männlich. Anhand eines überlieferten Rituals erwählte der Machterbe sein begehrtestes Ziel mit der höchsten Fruchtbarkeit und den profitabelsten Anlagen zur Frau. Die Verbindung verschaffte ihr eine nahezu ewige Jugend plus eine verlängerte Lebensspanne.
In der Konsequenz hielt die Ehe für die Ewigkeit. Verständlicherweise wählten Genträger ihre Gemahlinnen mit Bedacht.
Weil die Oberhäupter der Tigris das Charisma gepachtet hatten, war ihnen von Anbeginn an ein genialer Schachzug gelungen. Neben Tigern und Drachen bewohnten zwei weitere übernatürliche Wesen die Erde. Historisch gesehen, dienten sie als Unterstützer der Phönix-Urmacht. Bereits der erste Tigris hatte ihr Potenzial erkannt und sie daher in seinen Bann gezogen. Einem angeborenen Überlebensinstinkt folgend, hatten die ursprünglich neutralen Parteien Schildkröte und Schlange sich dem Clan der Tiger angeschlossen. Ausgestattet mit einem analytischen Verstand übernahm die gebildete Schildkröte, Testudo Graeca, wissenschaftliche Tätigkeiten innerhalb der Familie. Anguis, die Schlange, plante Gefechtszüge. Dank ihrer Listigkeit war so mancher Feind in ihre ausgeklügelten Fallen getappt.
An der Spitze der Nahrungskette stehend, protzten Tigris-Nachfahren mit ihren zahlreichen Anhängern, treuen Untergebenen, loyalen Partner. Abgesehen von ihren Lebenspartnern blieben Draconis bevorzugt allein. Drachen liebten ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Ragna vollzog diese Einstellung nicht nach. Verbündete bedeuteten Macht. Womöglich ähnelte seine Familie jener der Mafia. Einmal ihrem Kreis beigetreten, verboten geltende Gesetze den Mitgliedern, auszutreten.
Unter keinen Umständen würde Natascha Lima einen Austritt jemals in Erwägung ziehen. Nicht freiwillig. Viel zu sehr genoss sie es, Teil des Clans der Tigris geworden zu sein. Nunmehr seit 25 Jahren wartete sie außerdem darauf, von Ermano zur Frau gewählt zu werden. Tag für Tag träumte sie von ihrem ganz eigenen Happy End. Würdig eines Disney-Märchens. Zu ihrem Leidwesen erwies sich ihr Prinz als beziehungsuntauglich.
Wer konnte ihm das verübeln? Schließlich stand unter dieser besonderen Ehe wahrhaftig das Wort für immer.
Gegensätzlich der menschlichen Hochzeit besiegelten die Machtinhaber ihr Gelübde anhand eines Austausches ihres Blutes. Falls ein Austausch von Eheringen stattfand, entsprach das allenfalls einem Symbol.
Natascha kannte Ermano, seit sie 14 Jahre alt war. Die gebürtige Spanierin machte zusammen mit ihren Eltern Urlaub auf Sizilien.
Ein Raubüberfall endete für ihren Vater und die Mutter tödlich.
Skrupellos erschoss der Täter erst den Ehemann, der ausnahmslos seine Familie beschützte, anschließend seine wild kreischende Gemahlin.
Teenager Natascha verdankte ihr Leben dem großzügigen Zufall.
Ermano hörte die Schüsse bei einem Einkaufsbummel, seine feinen Ohren registrierten selbst weit entfernte Geräusche.
Rechtzeitig schritt er ein, vermöbelte den Kerl nach Strich und Faden.
Blutend am Boden liegend, die Pistole plus zwei Leichen daneben, hatten die Beamten der Carabinieri keinerlei Zweifel an der Schuld des bereits polizeibekannten Gewalttäters.
Wahrscheinlich starben andere Kinder vor Trauer, Natascha hingegen, begeisterte der Anblick ihres knapp zwei Meter großen Retters. Sie verlor sich in seinen bernsteinbraunen Augen, als er sie vom Asphalt hochhob und auf seinen muskulösen Armen den ganzen Weg nach Hause trug, zum Haus seiner Eltern wohlgemerkt.
Ihrer anmutigen Grazie geschuldet, integrierte Ragna die Waise sofort in seine Sippe.
Zudem entschieden er und Gattin Maria wenig später, Natascha entspräche einer perfekten, künftigen Partnerin für ihren Sohn.
Weiterführend war sie in ihrem zarten Alter noch bestens formbar.
Theoretisch verhinderte kein Argument eine Hochzeit, hauptsächlich Ermanos Sturheit. Rückblickend fasste er Natascha kein weiteres Mal an, wie an diesem Tag, als er sie auf Händen trug.
Seine Contenance störte sie dermaßen!
Zwar verfügte sie über einen naturgegebenen Liebreiz, mittlerweile lasteten allerdings 39 Lebensjahre auf ihr, die Zahl 40 kam immer näher!
Eines Tages zeichneten altersbedingte Makel ihren weiblich kurvigen Körper, plus das hübsche Gesicht. Erste Fältchen erkannte sie bereits im Spiegel, wenige ergraute Haare, innerhalb der goldbraunen Mähne, entfernte sie schnurstracks.
Ausschließlich die Blutverbindung vergönnte ihr andauernde Jugend.
Ihre Furcht, Ermano könnte sie eines Tages nicht mehr für schön genug halten, wuchs andauernd. Sie tat alles in ihrer Macht Stehende, ihn zu verführen.
Entschlossen schlüpfte sie auch jetzt in ein eng anliegendes Kleid, welches ihre Reize optimal betonte und suchte nach ihm.
Vermutlich fand sie ihn auf dem Rasen des üppigen Gartens von Ragnas Villa.
Wahrscheinlich übte er sich dort im Schwertkampf, gemeinsam mit seinem besten Freund seit Kindertagen, Anführer der über 100 Jahre lang aufgebauten, tigrischen Streitmacht, Lisias Anguis.
Das Anwesen der Tigris lag bei Locogrande, ungefähr 15 Kilometer von Trapanis Stadtzentrum entfernt.
Üblicherweise hausten die selbst gekürten Adligen in purem Luxus.
Über 200 Quadratmeter maß die mediterran angehauchte Villa.
Verschnörkelte Steinsäulen überdachten die großzügige Terrasse des Eingangsbereiches, welche speziell für den Empfang von Gästen Verwendung fand.
Ein für das stattliche Gebäude untypisch schmaler Flur führte links und rechts in vier pompös ausgestattete Schlafgemächer, sowie geradeaus ins Wohnzimmer, mitsamt offener Küche, einschließlich Essbereich.
Terrakotta Fließen veredelten die Böden der Bäder, von welchen jedes Zimmer über ein eigenes verfügte, zusätzlich einem alleinstehenden Gästebad.
Ansonsten stand dunkles Parkett im starken, dennoch passendem Kontrast zu den hellen Designermöbeln. Teure Gemälde bedeckten die eierschalenfarbenen Wände. Bekanntlich ließe sich über Kunst streiten. In dem Fall traf das Sprichwort zu. Egal, wie hässlich die Stücke wirkten, die Behausung der Tigris war zweifelsfrei ein Sammelsurium an kostbaren Raritäten und prahlte an Reichtum. Jene, teilweise übertriebene Ausgaben befriedigten ihr ausuferndes Ego. Sämtliche Bäder entsprachen Oasen der Wellness. Inhaltlich traf Klassik auf Moderne. Die weiße Küche, kombiniert durch Holzelemente, passend zur Bodenfarbe, nutzte ausschließlich der üppig bezahlte Koch. Weitere Hausangestellte hielten die Villa sauber. Gärtner kümmerten sich um die Außenanlagen. Vom Wohnbereich gelangte man auf die zweite Terrasse, groß genug, um die wichtigsten Familienmitglieder zum Barbecue einzuladen, welche übrigens zum Teil in der näheren Umgebung hausten. Bei Gelegenheit hatte Ragna die umliegenden Wohnblöcke aufgekauft, damit er seine bedeutendste, ihn am nützlichsten erscheinende Gefolgschaft in der nachbarschaftlichen Gegend beherbergen konnte. Flächenmässige Nähe gewährleistete ihm eine sofortige Bereitschaft zum Abruf. Die Bediensteten seines Haushalts trugen Sorge, dass der Hausherr die Esstische drinnen und draußen jederzeit gedeckt vorfand.
Allerhand frisches Obst, Gemüse, Antipasti, zusätzlich süße Naschereien garantierten stetige Gastfreundschaft. Wenige Stufen führten von der Terrasse in den riesigen Garten. Natürlich durfte ein Swimmingpool nicht fehlen, wenngleich das Meer wenige Fahrminuten entfernt lag.
Auf dieser allzeit grünen Wiese verbesserte Ermano seine Fähigkeiten. Sein Vater überließ ihm einen mächtigen Säbel, das Werkzeug seiner Vorfahren.
Mittlerweile beherrschte Ermano die verzierte Klinge meisterlich.
Zudem gab er einen hervorragenden Schützen ab.
Traditionen bewahrte er, allerdings überstiegen Reichweite und Durchschlagkraft von Handfeuerwaffen, die seines Säbels bei Weitem. Deshalb ließ er einen eigenen Schiessstand aufstellen, lernte Zielen, wählte seine bevorzugten Gerätschaften, perfektionierte deren Umgang daraufhin.
Zu seinen Favoriten zählten gewöhnliche Kleinkaliber, gleichsam eine mächtige Schrotflinte.
Mutter Maria verabscheute dieses Gewehr. Ihrer Ansicht nach entspräche grobe Streu ganz und gar nicht der vornehmen Ader der Tigris.
Hauptsache, sie erledigte ihren Job, dachte Ermano regelmäßig.
Fernkampf gereichte nicht, deshalb investierte er genauso viele Trainingseinheiten in Techniken des Vollkontakts. Zur Seite stand ihm sein bester Freund, Lisias.
Wie Ermano, wurde der Nachfahre der Anguis kurz auf den letzten Offensivschlag der Anderwesen geboren. Gemeinsam wuchsen sie zu Männern heran, lernten, praktizierten, teilten ihre tiefsten Empfindungen.
Ermano würde Lisias sein Leben anvertrauen, im Gegensatz zu seinem anderen, eher aufgezwungenen Kumpel.
Ethan Testudo Graeca, Erbe der Schildkröten, vier Jahre jünger, war der Inbegriff eines Weicheis.
So groß sein Verstand auch sein mochte, entsprechend klein fiel sein Mut aus.
Absolut ungeeignet für die Schlacht, ließe Ethan selbst seine Herzdame – hätte er eine -zurück, nur um seine eigene Haut zu retten.
Weil Ragna die Intelligenz der Testudo Graeca stets schätzte, verschaffte er Ethan einen Posten unter den Wissenschaftlern. Dort blühte der untersetzte Wicht auf. Zu seinen Kindertagen hatte Ragna Sohn Ermano ermahnt, ihn zu integrieren. Für den Knaben bedeutete dies eine Belastung. Natürlich hing das Kerlchen am Rockzipfel der coolen Jungs. Fast wie eine Zecke an ihren Wirt.
Was Ermano und Lisias betraf, sie wurden ihren Parasiten nicht los.
Oft hatten die Freunde ihm Streiche gespielt, alberne Scherze auf seine Kosten gemacht. So war der dicke Ethan einmal splitterfasernackt in eine von Ragnas Sitzungen geplatzt. Die beiden Lausebengel hatten ihm erzählt, sein heimlicher Schwarm würde hinter der besagte Tür auf ihn warten. Zu allem Unglück handelte es sich bei seiner Jugendliebe um ein Mädchen aus der Nachbarschaft, welches, anstelle des jungen Testudo Graeca, den stattlichen Ermano verehrt hatte. Inzwischen lebte sie nicht mehr. Altersbedingt gingen die gewöhnlichen Sterblichen irgendwann von dieser Welt. In ihrem Fall hatte der Tod das Mädchen im zarten Alter von 20 ereilt. Auf ihrer Beerdigung war der ultimative Fauxpas geschehen. Ermano und Lisias reichten Ethan ein Getränk und verkauften ihm die trübe Flüssigkeit als den Lieblingscocktail seiner Umschwärmten. In Wahrheit hatten die Lausebengel kohlensäurehaltiges Wasser mit Sahne gemischt. Ethan glaubte seinen sogenannten Freunden, egal, wie oft sie ihn bereits auf die Schippe genommen hatten und obwohl er seinerzeit schon erwachsen gewesen war. Der Streich sollte ihrem letzten entsprechen. Im Beisein der trauernden Gesellschaft kotzte Ethan den Tisch voll, auf dem der Leichenschmaus bereitstand. Abseits bejubelten die Bengel ihre Tat. Dafür kassierten beide einen ordentlichen Einlauf. Seitdem hatte Ragna seinem Spross Ermano die Gepflogenheiten der Tigris eingeimpft, ihm die kindlichen Flausen aus dem Kopf getrieben. Ausschweifendes Verhalten dudelte er nicht. Harte Disziplin hatte liebevolle Fürsorge ersetzt, eine militärische Ausbildung war fortan im Vordergrund gestanden.
Selbstverständlich hatten Ermano und Lisias Ethan um Vergebung bitten müssen. Obgleich seit dem Vorfall 90 Jahre verstrichen waren, eine Schildkröte vergaß nie.
Angeschlossen an seine schweißtreibende Trainingseinheit, schlüpfte Ermano unter die riesige Dusche seines eigenen Badezimmers, ruhte danach auf seinem Bett und dachte nach.
Abermals versuchte Natascha verzweifelt an seine Männlichkeit zu appellieren.
Alle um ihn herum vertraten die Auffassung, sie verkörperte die perfekte Partnerin.
Natürlich gewährte ihr Mutter Natur äußerliche Schönheit, runde Kurven, vorbildliches Benehmen. Doch sie reizte ihn nicht. Simpel gesprochen.
Ihr Wunsch nach einem Beschützer, dem Prinzen auf seinem weißen Ross, stieß ihn sogar ab. Das Ersehnen seiner Person tötete jeglichen Jagdinstinkt.
Außerdem hielt er Perfektion für generell langweilig.
Prinzipiell wollte er wach bleiben, seinem erschöpften Leib lediglich eine Verschnaufpause gönnen, stattdessen versank er irgendwann in einen leichten Schlummer.
Dort, jenseits seiner Träume, fand er sie wieder.
Sie saß auf dem gewohnten Platz, einer grünen Wiese, vor einem flachen See.
Jede Nacht erlebte er dieselbe Vorführung, seit nunmehr 22 Jahren.
Seine Gestalt entsprach der eines Jungen, kurz vor dem Teenageralter. Abgesehen von seiner geringen Körpergröße, ähnelte er seinem erwachsenen Ich.
Hastig rannte Teenie Ermano zum besagten Rasenstück.
Die untergehende Sonne tauchte die Gegend in ihren dämmrigen Zustand kurz vor der hereinbrechenden Nacht, betonte daneben seine eigene, bronzene Hautfarbe.
Frischer Wind zerzauste seine kurzen, allseits abstehenden blonden Haare.
Voraus kniete ein Mädchen nahe dem Flussufer, mit dem Rücken zu ihm, auf dem Grün und pflückte ringsherum Blumen.
In unmittelbarer Reichweite, schlich Ermano leise an sie heran, legte seine Arme um sie, verdeckte ihre Augen. Sofort roch er ihren Duft, der selbst den ihrer schönen Wildrosen überdeckte.
Erschrocken ließ sie die Blüten fallen.
Amüsiert fing er an zu lachen. Derweil riss sie empört seine kindlichen Hände weg.
„Ermano!“, quiekte sie verärgert, „soll ich einen Herzanfall bekommen?“ - „Du bist viel zu jung für einen!“, erklärte er, küsste sie besänftigend auf die Stirn.
Strähnen der langen, schwarzbraunen Haare fielen ihr ins Gesicht.
Lautstark platzierte er seinen Hintern neben sie.
Immer noch missmutig kniff sie die hübschen grünblauen Augen zusammen und ihm gleichzeitig in den Oberarm.
„Autsch!“, flachste er, „schon gut, ich gebe auf! Entschuldige mein Anschleichen!“
Zur Strafe streckte sie ihm die Zunge raus.
Obwohl die Umgebung, die Liegenschaft am See, konstant die gleiche blieb, die Szene, wie er dort ankam, sich permanent ähnelte, unterschieden sich doch winzige Details.
Nämlich sprachen sie stets über verschiedene Dinge. Ermano vertraute dem Traummädchen, dessen Namen er nicht einmal kannte, all seine Geheimnisse an. Er erzählte von seinem Vater, lästerte über die eingeschworene und nervige Gemeinschaft der Tigris, lobte seinen besten Freund Lisias, bemängelte die Situation mit Natascha, beschimpfte Ethan.
Meistens hörte sie ihm schweigend zu. Dafür konnte er ihr nicht genug danken. Sie entpuppte sich für ihn zum Ruhepol, seinem Rückzugsort.
Der Traum endete beständig gleich, er kotzte sich im wahrsten Sinne aus, fragte im letzten Moment nach ihrem Namen. Dann verschwamm das Bild.
Bevor sie antwortete, hauchte sie einen zarten Kuss auf seine Lippen, woraufhin Ermano erwachte und ihre Antwort nicht mehr deutlich genug vernahm.
Leider wiederholte sich dieser unglückliche Teil andauernd.
Dennoch sprühte er beim Erwachen voller Tatendrang.
Das unbekannte Mädchen tat ihm gut, schon mehr als 20 Jahre lang.
Ohne sie, würde er seiner auferlegten Bürde nicht standhalten.
Die vorbereitende Ausbildung unter seinem herrischen Vater verlangte körperlich sowie geistig alles von ihm ab.
Seelisch lastete zusätzlich die Bedrohung durch die Anderwesen auf ihm.
Umso dankbarer fühlte er sich, einmal am Tag, in eine schönere Welt abtauchen zu können. Dementsprechend erwartete Ermano stets freudig sein nächstes Nickerchen.
Pünktlich stand das Abendessen bereit.
Für Mai erreichte die Außentemperatur gerade einmal acht Grad Celsius, was völlig ungewöhnlich war. Überraschend kühle Luft zwang sämtliche Angehörige der Tigris, ihre Mahlzeit drinnen einzunehmen.
Neben Ragna, Maria, Natascha und Ermano, belegten Lisias, Ethan, plus drei der besten Elitekämpfer der Familie, sowie zwei enge Vertraute des Oberhauptes die begrenzten Plätze des Esstischs.
Sein Vater erteilte Anweisungen für das anstehende Barbecue, bei welchem einflussreiche Mitglieder des tigrischen Adels zusammenkamen. Was hatten sie auch anderes zu schaffen? Außer endlosen Sitzungen, Trainingseinheiten, gemeinsamen Festen und Feiern gingen die Ranghöchsten keinen sinnvollen Beschäftigungen nach.
Niedrigere Angestellte lernten Berufe, arbeiteten und integrierten sich innerhalb der Gesellschaft. Ihr Lohn floss teilweise in die Kasse der Tigris. Man konnte das auch Erbringung eines Mitgliedsbeitrags nennen.
Jedenfalls scheffelte Ragna dadurch Unmengen an Kapital.
Gesellschaftliche Integration verschaffte ihm weitere Vorteile. Von überall gelangte er an Informationen, ob von Banken, diversen Finanzdienstleistern, dem Kapitalmarkt, Bürgermeister, politischen Parteivorsitzenden, Staatsanwälten, Polizeibeamten und vielen namhaften Berufen mehr.
Ragna blieb nicht nur immer auf dem Laufenden, sondern stets einen Schritt voraus.
Ebenso jetzt. Augenblicklich beendeten sie die Diskussion über gewünschtes Fleisch für den Grill und widmeten die Aufmerksamkeit der Börse.
Bisher spekulierte Ragna ausnahmslos erfolgreich, verdankte seine Gewinne zuverlässigen Tippgebern.
Während er sich wieder bestens informierte, beschlich Ermano plötzlich ein beklemmendes Gefühl.
Eine solche Unruhe spürte er bisher nie zuvor. Ihm war, als schnürten ihm Stricke die Luft zum Atmen ab. Daneben spürte er einen steigenden Druck innerhalb der Atmosphäre.
Fast hörte sein Herz auf, zu schlagen. Schwindel und Übelkeit traten infolgedessen auf.
Zunächst konnte er seinen Gemütszustand nirgends zuordnen, dann, schlagartig, erkannte er die Antwort.
In dieser Sekunde verschob sich das Gleichgewicht der Welt!
Instinktiv sprang Ermano von seinem Stuhl.
„Sohn, was ist in dich gefahren?“, fragte sein Vater verwundert, immerhin unterbrach er mit seinem Ausbruch gerade die Instruktionen für neuerlichen Aktienhandel.
Besorgt schauten sämtliche Dinierenden den über 1,90 Meter großen Genträger an.
Ermanos Herz, das eben noch beinahe stillstand, raste nun, seine Schläfen pochten, zudem schwitzte er stark, sein ganzer Körper bebte und beide Hände zitterten.
Den rechten Unterarm zierte die auffällige Tätowierung eines im Sprung angreifenden Tigers, welches plötzlich pulsierte.
Genauso harsch arbeitete Ermanos zweites Tattoo auf der rechten Schulterseite.
Das Symbol Yin Yang prangte am Übergang, zwischen Schulterkuppel und Oberarm.
Momentan brannte es wie kochend heißes Wassers.
Bedingt durch reflexhaftes Anspannen und Lösen seiner Muskeln, keuchte Ermano vor Anstrengung.
„Ermano?“ Behutsam stand Natascha auf und legte ihre Hand an sein Gesicht.
Sicherlich sollte ihn die Geste trösten, allerdings empfand er sie eher befremdlich.
Grober als geplant, packte er ihre Hand, stieß sie fort. „Du glühst ja richtig!“, stellte sie fest, enttäuscht darüber, dass er sich ihr entzogen hatte.
„Lisias“, zischte Ermano, ignorierte dabei seine ungewollte Freundin, „nimm deine Männer! Wir werden angegriffen!“ - „Das ist unmöglich!“, platzte es aus Ragna heraus.
Soeben endete der Geduldsfaden seines Vaters, der es bevorzugte, im Mittelpunkt zu stehen. Wehe, jemand wagte, ihm das Rampenlicht zu stehlen!
„Vater! Es ist wahr! Ich spüre das kosmische Ungleichgewicht bis ins Mark!“
Warum glaubte er ihm nicht?
Ausgerechnet Ethan versuchte zu vermitteln: „Das könnte stimmen. Der vorausgesagte Zeitraum würde theoretisch passen!“ - „Natürlich stimmt das!“, wandte Ermano verärgert ein, „meint ihr, ich unterbreche unser Essen wegen nichts? Oder besudele den Boden mit meinem Schweiß grundlos?“
Genug den Erklärungen! Notfalls regelte Ermano das Thema allein, Hauptsache sein Puls normalisierte irgendwann wieder.
Selbstverständlich machte er die Rechnung ohne seinen Vater. „Sohn, woher sollten sie denn kommen? Weder Ethan, noch Lisias, gar du erkanntest etwaige schwarzen Löcher am Himmel, obgleich ihr drei über diese Gabe verfügt! Anderwesen gelangen nur mithilfe der Portale in unsere Welt!“ - „Und dennoch sind sie da! Verdammt, beim Diskutieren verlieren wir kostbare Zeit!“ Ermanos ohnehin glänzend bernsteinfarbene Augen leuchteten jetzt gold vor Zorn. Wortlos erhob Lisias seine schlanke Gestalt vom Stuhl, lief um den Edelholztisch herum und verharrte an der Seite seines Freundes. Daraufhin befahl er: „Antonio, Sergio, Hermann! Gefechtsbereit machen!“ Hurtig hüpften die Angesprochenen von ihren Plätzen, nicht ohne Ragna vorher einen ängstlichen Blick zuzuwerfen, stürmten anschließend auf den Ausgang der Villa zu.
„Danke für das Mahl!“, sagte Lisias höflich.
Ragna platzte schier vor Zorn!
Jedes Mitglied seiner Sippe erwies ihm die Treue! Loyalität stand großgeschrieben.
Lisias gewährte seine Solidarität einzig Ermano. Offenkundig. Die Tatsachte brachte Ragna zur Weißglut. Ermano dagegen schaute seinen Freund dankbar an.
Um unnötigem Zeitverlust vorzubeugen, verbarrikadierten die Kumpels sich in Ermanos Quartier. Auf einem modernen Schreibtisch stand eine Weltkugel, fast eine Rarität.
In der heutigen Zeit bedienten die meisten Weltbürger ihr Smartphone, oder Tablet, um einen Überblick über die Erde zu erhalten. Atlas und 3D Weltkugel waren Old School Auslaufmodelle. Nicht für einen Erben.
Obgleich er den Prozess nie selbst vollzogen hatte, lehrte sein Vater ihn Ermano.
Wie eine Hexe, die ihr Pendel schwenkte, sollte er in gleicher Weise seine Gegner aufspüren können. „Schauen wir, ob ich richtig liege“, flüsterte er.
Ermano ergriff das runde Plastik, Lisias stand direkt hinter ihm. Er öffnete den Verschluss seiner Halskette und befreite das Lederband.
Ein Anhänger baumelte in dessen Mittelpunkt, der echte Zahn des zum Tiger gewandelten, ersten Tigris. In Tigergestalt schlug er seine Fangzähne in die Leiber der Anderwesen, verlor dabei den rechten langen Reißzahn.
Dank der Magie des Übernatürlichen, vermochte dieses einzigartige Utensil seither die Aufenthaltsorte der Feinde zu bestimmen.
Zusammen mit dem scharfen Säbel überlieferten die Tigris den Tigerzahn an ihre Nachfolger.
Andächtig inspizierte ihn Ermano. Neben dem Siegelring der Tigris, trug er keinerlei sonstigen Schmuck.
Unter der Lupe betrachtet, besaß der gewundene Zahn nahezu die Form einer Hälfte des Yin Yang Symbols.
Ermano lächelte.
Bestimmt klang der Gedanke absurd.
Wer verfügte schon über eine mögliche andere Hälfte? Die Draconis etwa? Sicherlich rannte der Pöbel, selbst wenn es sich um unmanierliche Raufbolde handelte, nicht mit einem Drachengebiss herum!
Schnell verdrängte Ermano seine Theorie.
Anhand zweier Finger schwenkte er sein provisorisches Pendel über die Kugel, dabei stieß er sie an.
Das kleinere Format des Erdballs rotierte. Ermano und Lisias hielten ihren Atem an.
Abrupt stoppten sowohl Kette als auch Kugel.
Als erhöhte jemand kurzzeitig die Gravitation, zog der Anhänger Ermanos Hand hinunter, die Spitze des Zahnes landete zweifelsfrei auf einem spezifischen Gebiet.
„Rom!“, wisperte Ermano gänzlich überwältigt.
Überwältigt davon, dass die Vorgehensweise funktionierte!
Entschlossen schaute er Lisias an.
„Mein Freund, buch uns einen Flug! Unsere Anderwesen befinden sich aktuell in Rom!“
Natürlich verpflichtete Ragna überwiegend Einflussträger.
Global weihte er hohe Tiere bei Fluggesellschaften, der Polizei, weiterführend Interpol, Autovermietungen, außerdem Hotelbetreiber ein. Nicht zu vergessen, Anwälte, Steuerberater, Banker.
Die Aufzählung stellte lediglich einen Auszug seiner wichtigsten Familienmitglieder dar.
Ragna verließ sich darauf, dass tigrische Krieger unerkannt, problemlos, vorrangig zügig vorankamen.
Glücklicherweise hatten Polizia, ebenso Carabinieri vor Ragna mehr Angst, als vor der Mafia. Selbst, da er nicht die Macht des Yins beherrschte, Ragna war immer noch tigrischen Geblüts, dadurch ein ausgezeichneter Feldherr, von großer Intelligenz und gesegnet anhand außergewöhnlicher Stärke. Seine bloße Aura schüchterte Normalsterbliche bereits ein.
Nur ein Idiot legte sich mit ihm an!
Ausgezeichneter Vernetzung innerhalb der menschlichen Gesellschaft geschuldet, gelangten Ermano, Lisias und die drei Kämpfer Antonio, Sergio, Hermann in Windeseile nach Rom.
Trotz, dass ihn die vorausgegangene Diskussion mit Vater Ranga Nerven kostete!
Am Flughafen angekommen, erfasste der Genträger sofort die Fährte der Außerirdischen. Zusätzlich zum ausgezeichneten Gehör, verfügte Ermano über einen enorm feinen Geruchssinn, speziell ausgerichtet für außerirdische Bedrohungen.
Zunächst mietete die fünf Mann Truppe einen Wagen, genauer gesagt einen Fiat 500, direkt am Flughafen Fiumicino. Nicht gerade sein Lieblingsmodell. Kurzfristig hatte der Autohandel keine vielversprechenden Alternativen anzubieten. Zumindest passte die Marke zum Land.
Ermano bestand darauf, selbst zu fahren. Mit heruntergelassenem Fenster folgte er der befremdlichen Geruchsspur.
Selbst wenn er bisher keinem Anderwesen live begegnete, war er sich ihres stark abweichenden Aromas sicher. Deutliche Abstriche unterschieden die Noten der Außerirdischen von menschlichen, insbesondere der herbe Blutduft in Kombination mit verbrannter Asche und fauliger Haut.
Rom, die Ewige Stadt, bot ein atemberaubendes Bild.
Drei Jahrtausende alte Geschichte erweckte nostalgische Gefühle bei seinen Besuchern.
Bestimmte Bereiche und Sehenswürdigkeiten benannte der UNESCO sogar zum Weltkulturerbe.
Die Umgebung, alleinig vom Autofenster aus bewundert, beeindruckte Ermano.
Inständig hoffte er eines Tages die Hauptstadt Italiens privat und nicht in dienstlicher Mission besuchen zu können.
Etwa eine halbe Stunde sauste das flotte Gefährt über römische Straßen.
Nach einer Weile äußerte Lisias, welcher Stellung auf der Beifahrerseite bezog, seine aufkeimende Befürchtung. „Ich glaube, deine Nase führt uns Richtung Vatikanstadt.“ - „Was sollten die Anderwesen dort wollen?“, fragte Ermano rhetorisch, „etwa den Papst entführen?“
Gelächter drang von der Rückbank nach vorne.
Ziemlich beachtlich, wenn man bedachte, dass die drei muskelbepackten Krieger ihre Testosteron geschwängerten Leiber in einen ziemlich beengten Raum quetschen mussten.
„Lacht nicht darüber!“, mahnte Lisias seine Untergebenen, die er jahrelang ausgebildet hatte, „der Petersplatz steckt voller Menschen. Attackieren die Viecher dort, fallen ihnen etliche Seelen zum Opfer. Außerdem sorgt ihr Auftritt für Furore. Überlegt mal, welch Schrecken und Panik sie im Zeitalter des Internets verbreiten vermögen! Wahrscheinlich ist das erst überhaupt ihr Ziel!“ - „Quatsch!“, intervenierte Ermano, „die Anderwesen wissen nichts über das Internet. Sie betraten die Erde das letzte Mal 1901! Ein ganzes Jahrhundert verstrich, in welchem die Erde extrem fortschrittlich wurde. Damit rechnen diese Weltallarschgeigen doch keinesfalls!“
Lisias prustete. „Mein Lieber, wenn dein Vater deine unflätige Ausdrucksweise hörte!“
Spitzbübisch grinsend erwiderte Ermano: „Ich sage nichts, wenn du nichts verrätst!“ - „Niemals, mein Freund!“, beteuerte er, „aber du hast womöglich recht. Die Anderwesen sehen es bestimmt nicht auf das Internet ab. Entweder sie landeten durch Zufall ausgerechnet im Vatikan, oder ihr Blutdurst treibt sie direkt in die Menge hinein!“
Betretenes Schweigen.
Langsam atmete Ermano die Luft aus: „Du weißt, mein Freund, ich glaube nicht an Zufälle. Was es auch sein mag, die Anderwesen hegen einen Plan! Zumindest gilt ihre Spezies als höchst intelligent. Du kennst die Mistdinger auch nur durch uns gelehrte Theorie. Bist du bereit?“
Jetzt formte Lisias’ kantiges, gut aussehendes, wenn auch blasses Jünglingsgesicht ein listiges Lächeln. Die Schlange kam zum Vorschein. Geschmeidig fuhr er durch sein feines schwarzes Haar, die gelbgrünen Augen glitzerten aufgeregt. „Natürlich! Ich sehne der Schlacht entgegen!“
Der Vatikan galt als der weltweit kleinste Staat. Gerade 1000 Einwohner lebten in seiner Monarchie, geführt vom amtierenden Papst.
Auf der höchsten Erhebung Roms, thronte die Vatikanstadt, umgeben von den italienischen Stadtteilen Municipio und Aurelia.
Besondere Sehenswürdigkeiten, nebst allerhand Museen, waren der berühmte Petersplatz, Petersdom und natürlich die Sixtinische Kapelle.
284 Säulen bildeten sogenannte Kolonnaden, die ehrfürchtige Grenze zwischen Rom und Vatikan.
Jahr für Jahr lockte der Petersplatz Touristen in Scharen.
Dessen Zentrum beherrschte der vatikanische Obelisk. Weiter nördlich, inmitten der Piazza, beeindruckte ein ebenso bekannter Brunnen mit seinen Wasserspielen, sein Zwilling bezog übrigens Stellung auf der anderen Seite des Obelisken.
Dazwischen prangten zwei runde Marmortafeln.
Von deren Blickwinkeln betrachtet, wirkten die umgebenen Säulen zu einer geraden Linie aufgereiht.
Ermano parkte den geborgten Fiat 500 in nächster Nähe.
Gemeinsam mit seinen Gefolgsleuten eilte er die letzten Meter zum Petersplatz zu Fuß.
Dabei sog er konzentriert die Luft ein, wirkte analog einem schnüffelnden Hund.
Wie vermutet trafen die fünf Krieger auf eine gigantische Menschenansammlung, obwohl sie nicht einmal an einem Wochenende eintrafen.
Von überall her stürmten Touristen die Stadt Rom, begierig ihre diversen Sehenswürdigen zu besichtigen.
Planten die Anderwesen einen Angriff absichtlich, entspräche der Petersplatz der perfekten Zielscheibe.
Ermano spürte die Blicke der Kämpfer auf sich ruhen, blendete sie weitestgehend aus.
Fokussiert lief er seiner Nase hinterher, bis er unvermittelt stoppte.
Beinahe prallten die Nachkommenden gegen sein breites Kreuz.
„Warum zögerst du?“, fragte Lisias wachsam, seine Augen schweiften über die Menge.
Überfordert mit der Situation keuchte Ermano: „Es ist genau hier! Na ja, eigentlich. Ich kann keinen Außerirdischen ausmachen! Ihr vielleicht?“
Gewiss trugen die Krieger alltagstaugliche Kleidung, gleichwohl fiel der tigrische Erbe auf. Abgesehen von seinem außergewöhnlich schönen Gesicht, leuchtend bernsteinbraunen Augen, besaß er einen überdurchschnittlich muskulösen Körper, welcher momentan das enge, schwarze T-Shirt, mitsamt ausgewaschener Jeans, bestens ausfüllte, ja beinahe sprengte! An den Seiten gekürzt, erinnerte sein oben längerer Haarschopf an flackernde Flammen. Die Haarfarbe war ungewöhnlich, wie die seiner Iris. Schimmerndes weißblond, vielmehr weißgolden, schaffte kein Friseur je nachzumachen.
Frauen glotzen ihn schwärmend an, versuchten zumindest seine flüchtige Aufmerksamkeit zu erhaschen. Indessen starrten die Männer voller Neid, den Kindern standen die Münder vor Staunen offen.
Dagegen interessierte Ermano lediglich eines.
Wo zur Hölle versteckte sich das Anderwesen?
Man sollte meinen, einen zwei bis drei Meter riesigen Außerirdischen bedenkenlos erkennen zu können!
„Mein Freund“, flüsterte Lisias, „auf 01:00 Uhr.“ Vorsichtig neigte Ermano seinen Blickwinkel leicht rechts. Sofort verstand er den Hinweis.
Ein gewöhnlicher Kerl, etwa 1,75 Meter groß, durchschnittlich gebaut, standardmäßig gekleidet, optisch unscheinbar, musterte die Beschützer der Erde auf eine seltsame Art und Weise.
Während andere Ermano einfach begafften, schien der Kerl ihn regelrecht zu studieren, Lisias ebenso.
Offenbar ergab seine Analyse Gefahr, der Typ fing stark an zu schwitzen, sein Herz klopfte schneller.
Ermano handelte sofort, bewegte seinen austrainierten Körper flink durch die Menschenmasse, fixierte immerzu sein Ziel.
Zweifellos verbarg dieser Mann etwas, denn er rannte unmittelbar davon.
Hurtig beschleunigte der Tiger seine Schritte. Direkt neben ihm tauchte Lisias auf. „Vielleicht irren wir uns. Möglicherweise hat das Menschlein nur menschlichen Dreck am Stecken und hält dich für einen Cop in Zivil. Deine Gestalt würde mir auch Angst einjagen!“ - „Eventuell. Allerdings will ich lieber sichergehen“, erwiderte Ermano, erhöhte indes sein Tempo weiter.
Hoffentlich folgten ihnen ihre drei Mitstreiter. Zeit, um sie noch zu suchen, blieb nämlich keine! Jetzt beäugten die umstehenden Normalsterblichen, die aus der Menge stechenden Gestalten erst recht, welche gerade einem vermeintlichen Normalo hinterher sprinteten. Wohin spurtete der Komiker? In der Richtung lagen Mauern! Just fegte er an einem der beiden Brunnen vorbei, direkt vor ihm lag die Sackgasse. Beinahe holte Ermano ihn ein, befürchtete jedoch, dass der Flüchtige kurz vor Wegende seine Richtung wechselte. Darauf machte er sich gefasst. Unvermutet, nebstdem kaum zu fassen, sprang der Normalo genau darauf zu. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mühelos kraxelte er die steile Mauer nach oben.
Reflexartig wollte Ermano nachsetzen, immerhin schenkten ihm seine Gene eine ordentliche Sprungkraft. Lisias erkannte das Vorhaben, packte ihn geschwind an der breiten Schulter.
„Ermano, nein!“, mahnte er, „ein Mensch, der Wände senkrecht hochklettert, genügt. Wir erregen genug Aufsehen! Du spürst ihn sicherlich wieder auf!“
Leider hatte Lisias recht! Berichte über einen realen Spider-Man durften keinesfalls die Runde machen!
Frustriert schaute Ermano seine Kameraden an, allesamt stillstehend und weitere Befehle abwartend.
„Ich kann ihn riechen! Wir laufen um die, den Platz abgrenzenden Mauern herum. Dann finden wir den Scherzkeks und stellen ihn zur Rede!“
Lisias vermutete richtig. Die Duftspur, welche Ermano für die des Anderwesens hielt, entfernte sich in jene Richtung, die der seltsame Mann einschlug. Sein strenger Geruch brannte in Ermanos Nase, eine Verfolgung verursachte somit wenig Mühe.
Fünf Mitglieder der Tigris rannten an parkenden Autos in einer Art Seitengasse vorbei.
Lediglich eine Querstraße weiter, verharrte Ermano vor einem orange-braunen Gebäude.
Offenbar erreichte ihr Geflüchteter seine Belastungsgrenze recht fix.
„Äh, Ermano“, hüstelte Lisias, zeigte auf die Schrift oberhalb der hölzernen Eingangstüre. Wie alle Tigris sprachen die Freunde perfekt Italienisch, zusätzlich englisch, eine Grundvoraussetzung für die Mitgliedschaft. In diesem Fall benötigten sie allerdings keine tiefgründigen Sprachkenntnisse, erkannten mühelos, vor wessen Haus sie standen.
„Capella Santa Monica“ prangte in schlichten Lettern unter einem herausragenden, dachförmigen Mauervorsprung, dessen Spitze ein Kreuz zierte.
Wütig schimpfte Ermano: „Verdammt! Die Kröte verpisst sich doch tatsächlich in eine Kirche!“ - „Hey, Kumpel, keine Flüche!“, zischte Lisias, der großen Respekt vor Religionen besaß.
„Ts! Na dann, geh ich mal beichten!“, schnaubte der Tiger, dessen Gefolgsleute den Anschein erweckten, ihm zu folgen. „Nein!“, kommandierte der Erbe, „um den kümmere ich mich allein! Ihr schiebt Wache. Passt auf, dass er nicht flieht!“
Beide Hände auf die Schultern seines engsten Freundes legend, dementierte Lisias: „Sorry, Kumpel! Mich lässt du sicher nicht zurück! Ich stärke dir deinen Rücken!“ Ermano wollte verneinen, Lisias unterband sogleich den lahmen Versuch. „Keine Wiederrede! Antonio, Sergio, Hermann, ihr handelt wie befohlen! Haltet die Stellung!“
Schmunzelnd ergriff Ermano Lisias‘ Arm. „Tut gut, dich an meiner Seite zu haben, meine Teuerste!“ - „Weiß ich, Liebling!“, scherzte die Schlange, „lass uns unser Treuegelübde erneuern!“
Im Innern der katholischen Kirche herrschte absolute Stille. Kein Mensch war anwesend.
Geistig verfluchte Ermano, grobe Boots zu tragen. Sneaker würden die Laute seiner Schritte besser dämpfen, wohingegen seine gewählten Schuhe klopfende Geräusche auf den Bodenfliesen verursachten.
Ein schmaler Flur führte an zwei Reihen Sitzbänken vorbei zum Altar.
Ermanos Präsenz füllte die übersichtliche Kapelle beinah aus. Lisias schritt, besser gesagt quetschte den schlanken Körper neben seinen.
Flüsternd fragte er: „Meinst du, er versteckt sich auf dem Beichtstuhl, oder verschwand eher über den Hintereingang?“ - „Ich erkenne keine Hintertür. Abgehauen ist er jedenfalls nicht, sein Geruch liegt in der Luft!“, kommentierte Ermano.
Die spezielle Note des Mannes schien frisch, verband sich mit dem stickigen, leicht muffigen Eigengeruch des Raumes. Wie vom Donner gerührt blieb Lisias stehen. „Sag, mein Freund. Erzählte dein Vater nicht kürzlich diese eine Geschichte? Einmal lauerten ihm Anderwesen an Decken hängend auf, korrekt?“
Beide Kumpanen glotzten erst einander an, spähten dann hinauf. Jäh kam ein Mann geflogen! Tobsüchtig stürzte er zunächst auf Ermano, der kaum rechtzeitig reagieren konnte.
Dafür konterte Lisias. Geschwind öffnete er seinen langen, dunkelgrünen Ledermantel, der ihn bei dieser milden Wärme absolut verdächtig erscheinen ließ, zog anschließend einen Degen aus der verdeckten Schwertschneide. „Du wirst bereuen, uns in einer heiligen Kirche anzugreifen!“, zischte die Schlange.
Der Kopf des Mannes fuhr aggressiv zu Lisias herum, welcher stöhnend nach Sauerstoff schnappte.
Ähnlich einer Portion Butter in der heißen Sonne, schmolz das Gesicht des vorher menschlich wirkenden Kerls dahin, genau wie der restliche Körper. Klauen schossen aus den fleischigen Fingern, der Rücken bog sich durch, die Haare wuchsen immer länger.
Aufsteigender Ekel hielt die Krieger in Trance gefangen. Unfähig, aktive Handlungen auszuführen, beobachteten sie den Hergang völlig entgeistert.
Hautfetzen, Haarpartikel, Überreste von zerrissener Kleidung, Finger- und Fußnägel, sogar zwei überaus reale Augäpfel bedeckten den polierten Boden, unter einer Lache aus rotem Blut. „Himmel ist das abartig!“, würgte Ermano. Weshalb nahm er bloß ein reichhaltiges Frühstück zu sich? Das kam ihm eben hoch!
Immerhin enttarnte er das Anderwesen! Das war doch etwas!
Übrigens maß es an die zweieinhalb Meter.
Donnerndes Gebrüll, ausgestoßen durch den Feind, erschütterten sämtliche Poren der Männer. Hoffentlich hörte dieses Gegeifer niemand außerhalb der Kirche. Sonst vermuteten die Menschen möglicherweise noch, die Hölle sei ausgebrochen!
Wahrscheinlich stimmte das sogar.
Ein Hieb des Außerirdischen katapultierte Ermano querfeldein.
Unsanft landete er zwischen den Bänken, bei seinem Aufprall zerschmetterte er das Holz.
Zwar zog er sich keine ernste Verletzung zu, das Inventar unterhielt leider nicht so viel Glück. Angesäuert erhob Ermano seinen schweren Torso aus den zerschmetterten Überresten.
„Lisias, denk daran, im Nachgang werden wir Santa Monica eine ordentliche Spende zukommen lassen!“ Ohne Waffe, dafür mit Wut im Bauch, fegte Ermano dem Feind entgegen, seine Hände zu Fäusten geballt. Kurz vor seinem Zielpunkt, dem Gegner, sprang er ab, beabsichtigte einen Lufttritt mittels beiden Füßen via Körpermitte. Das Anderwesen schlussfolgerte seinen Angriff, ergriff Ermanos Fußfesseln und schleuderte den Tigris davon. Abermals krachte er in die Sitzbänke.
Indessen attackierte Lisias unter Zuhilfenahme seines Degens. Das Alien wehrte den Vorstoß gekonnt ab, eine Klinge benötigte er nicht. Scharfe Krallen, mitsamt einer gepanzerten Haut, ersetzen Schwert und Schild, erschwerten das Durchdringen herkömmlicher Gefechtswerkzeuge.
Bedeutete, Ermano und Lisias hatten ein ernsthaftes Problem! Ausgeklügelt versuchte Anguis wirksame Treffer zu landen. Trotz feinster Bemühungen fügte er seinem Opponenten keinen einzigen Kratzer bei.
Hinterrücks pirschte sich Ermano an das Ungetüm heran.
Einen Kampfschrei ausstoßend, zog er daraufhin dessen Aufmerksamkeit auf seine Wenigkeit. Flink ging er zu Boden, trat gegen die knochigen Beine, brachte den Feind zum Wanken.
Währenddessen zauberte Lisias dolchartige Messer aus seiner Manteltasche.
Geschmeidig hüpfte er auf den Rücken des noch taumelnden Anderwesens, rammte ihm die Stichwaffe in den Hals.
Die doch sehr unbeeindruckte Verkörperung des Bösen langte nach hinten. Grob schickte sie Lisias auf die Bretter, zog die Klinge heraus und jagte sie der Schlange in die Brust.
Als Ermano seinen blutenden Freund am Boden sah, übermannte ihn das Tier in seinem Innern.
Jahrelanges Training ersetzten Leichtsinn durch Contenance, Zorn gegen Ruhe, Manieren zuvorderst rüpelhaftem Benehmen, doch würde er gewiss nicht zulassen, dass das Alien Mistvieh seinen Partner aufgrund beigebrachter Eitelkeiten umbrachte!
„Yin!“, schrie Ermano. Unverzüglich pulsierte sein Tigerzahn. Die schwarze Hälfte des Yin Yang Symbols tauchte zwischen Ermano und dem Anderwesen auf. Seine Form war schummrig, beinahe durchschneidend, erweckte nahezu den Eindruck einer Fata Morgana.
Kopf voraus, gewissermaßen ein Kopfsprung ohne Wasserbecken, hetzte Ermano durch das in der Luft flimmernde Zeichen.
Indem er seine menschliche Gestalt hinter sich ließ, trat die tierische aus der anderen Seite des magischen Portals hinaus.
Japsend sagte Lisias, an das Anderwesen gerichtet: „Du hast den Tiger geweckt. Wundere dich also nicht, wenn er brüllt!“
Zum Beweis fiel die majestätische, weiße Raubkatze den Bösewicht an.
Unbeholfen gedachte das Anderwesen den Jäger abzuschütteln, Ermano biss sich jedoch in seiner oberen Körperhälfte fest.
Mithilfe scharfer Krallen riss er tiefe Furchen in den sehnigen Leib.
Vor Schmerz schrie das Mistding auf. Es schlug seinerseits auf Ermano ein, tiefe Kratzer durchzogen den feinen Pelz.
Trotzdem blieb der Tiger starr an dem Alien haften. Tier an Wesen rangelten die Parteien miteinander, schenkten dem jeweils anderen nichts.
Inzwischen entfernte Lisias das Messer aus seinem Brustkorb. Seine Gene begünstigten eine baldige Heilung. Lisias‘ angekratztes Ego würde dagegen eine Weile zum Ausheilen brauchen. „Yin-Yang“, wisperte er leise.
Eine kleinere Version des flimmernden, vollständigen Yin Yang Symbols erschien.
Gleich seinem besten Kumpel Ermano, verwandelte er sich beim Durchschreiten des Zirkels.
Anmutig schlängelte sich der olivfarbene, schuppige Körper der Schwarzen Mamba vorwärts. Ermano lenkte das Anderwesen bestens ab.
Blitzschnell schlug Lisias zu, peilte eine offene Wunde im Bauchraum des Außerirdischen an.
Das von seinen Drüsen produzierte Nervengift verbreitete sich direkt.
Gewöhnliches Schlangengift entfaltete bei diesen Dingern keinerlei Wirkung, jenes der Unterstützer schon!
Kurzzeitig gelähmt, sackte das Alien in die Knie.
Flugs nahmen Ermano, gleichwohl Lisias ihre menschlichen Gestalten an.
Da er ausgiebig Vorarbeit leistete, schlug Ermano seine Faust in die vor Schrammen klaffende Brust des Feindes, nutzte eine vielversprechend verletzte Stelle, drang in das Innerste und riss dem Unhold das Herz heraus.
Leblos sackte das Anderwesen zusammen.
Die beiden Kameraden tauschten vielsagende Blicke. „Wir müssen unbedingt mit meinem Vater sprechen!“, erklärte er, woraufhin Lisias bestätigend nickte.
Draußen vor der Kirche sangen drei Wonneproppen ein Ständchen.
„Was verflucht macht ihr da, zum Teufel?“, fragte Ermano entgeistert.
Räuspern seitens Lisias „Keine Flüche!“
Gottlob behielten die Erben ihre Klamotten bei ihren Verwandlungen, respektive Rückverwandlungen an. Ansonsten stünden sie jetzt nackt auf der Straße!
Antonio rechtfertige: „Wisst ihr, welchen Lärm ihr da drin verursacht habt? Vorbeikommende Leute gafften schon blöd. Also mussten wir uns etwas ausdenken!“ - „Indem ihr ‚Volare‘ jodelt?“, fragte der Tiger brüskiert.
Man stelle sich drei militärisch proportionierte Soldaten vor, welche ein italienisches Original trällerten.
Mehr als Schulterzucken bekam er nicht zur Antwort.
„Nun, dann macht euch mal richtig nützlich“, befahl Ermano, „räumt den Dreck in der Kapelle weg, bevor jemand beten will!“
Warum war sein Vater nicht einsichtig?
Selbstredend erstatten die Rückkehrenden Ragna Tigris augenblicklich Bericht.
Anschließend äußerte Ermano seinen Verdacht: „Menschliches Gewebe umhüllte diesen Teufel. Dazu kamen Haare, Nägel, Augen, Haut. Alles an ihm erweckte den Eindruck eines normalen Erdenbürgers!“
Ragna, dessen Frau Maria, die Krieger, Ethan und Natascha saßen um den Tisch des inneren Essbereichs der Villa herum.
Draußen fiel Regen in Strömen. Gerade vier Grad Celsius brachte die Temperatur an diesem tristen Abend.
Weiterhin galt das Wetter als unbeständig und für diese Jahreszeit unüblich kühl.
Depressive Schweigsamkeit beschrieb den allgemeinen Gemütszustand der Anwesenden.
In der offenen Küche klapperten Kochutensilien, der hauseigene Gastronom bereitete ein herzhaftes, mediterranes Mahl vor.
„Vater?“ Langsam wurde Ermano ungeduldig.
Den Sohn ignorierend, richtete er das Wort an Ethan: „Am meisten vertraut mit Vorgehensweisen, sowie Wissenschaften, plus Entwicklungen der Anderwesen bist du, Ethan. Sage mir, existiert die kleinste Wahrscheinlichkeit, dass die Kreaturen aus dem All, Menschenformen annehmen können?“
Scharf sog Ermano die Luft ein, weil sein eigener Vater ihm nicht vertraute!
Neugierig betrachteten die Anwesenden den Erben der Schildkröten, lediglich Natascha starrte Löcher in den Boden.
Räuspernd mutmaßte Ethan: „Nun, ein solcher Vorgang entzieht sich meiner Kenntnis. Außerdem vermag ich mir nicht vorzustellen, wie der Prozess, menschliches Aussehen zu kopieren, vonstattengehen soll.“ - „Und ich vermag mir kaum vorzustellen, was passiert, wenn noch weitere Anderwesen unerkannt unter uns leben!“, schrie Ermano, hämmerte seine Handflächen dabei auf den Tisch.
„Unfug!“, bestritt Ethan die Befürchtung des tigrischen Sprosses, „ihr berichtetet, das Exemplar streifte die Haut, wie eine Verkleidung ab. Sie müssten demnach Menschen klonen, ihre Epidermis runterziehen und was weiß ich noch alles anstellen, um überhaupt eine saubere Hülle zu erhalten. Das ist technisch unmöglich!“ - „Eben nicht!“, brüllte Ermano, sprang aufgebracht vom Stuhl. Vater Ragna beobachtete die Diskussion eine Weile.
„Dieses Teil hat deine ‚Unmöglich-Theorie‘ widerlegt! Warum wollt ihr nicht wahrhaben, dass die Anderwesen neuerdings in der Lage sind, menschliche Gestalt anzunehmen? Wenn aus ihren Riegen weitere Eindringlinge unser Aussehen, unseren Geruch, unsere Mimik nachahmen, wisst ihr eigentlich, was das heißt?“ Leicht erregt, hob Ragna eine Augenbraue. Er wirkte wie eine ältere Version Ermanos, lediglich zierten einige Falten sein attraktives, stets ernstes Gesicht.
Ethan wollte antworten, Lisias kam ihm zuvor: „Infiltration!“
Alle Köpfe schnellten in Richtung der Schlange. „Wir können noch von Glück reden. Ermano spürte das menschenähnliche Wesen ungeachtet aller Schwierigkeiten auf. Dennoch müssen wir die Geschehnisse fortan wachsam beobachten. Gibt es weitere als dieses, stünde uns ein Einmarsch unbekannten Ausmaßes bevor. Möglicherweise begann er längst und wir ahnten ihn weder voraus noch können wir ihn aufhalten, gar eindämmen!“
Jetzt platzte Ragna: „Was ihr beide unterstellt, ist eine Unverschämtheit! Weltweit verbreiteten die Tigris seit Jahrhunderten unser Revier. Unsere Familienmitglieder befinden sich überall! Wir haben gebildete Diener bei sämtlichen, einflussreichen Organisationen! Glaubt ihr unsere Verbündeten von FBI, Interpol, den Universitäten, Krankenhäusern und so weiter, hätten uns im Dunklen gelassen, falls ihnen verdächtige Handlungen, oder Personen auffielen? Zudem öffnete sich kein kosmisches Portal oberhalb der Sphäre. Was immer dieses Ding tat, es war eine einmalige Geschichte. Debatte beendet! Essen wir.“
Ragnas Wort entsprach Gesetz.
Damit endete der Meinungsaustausch.
„Danke, der Appetit ist mir eben vergangen.“
Ermano machte auf dem Absatz kehrt und verschwand frustriert in seinem Zimmer.
Unruhig schlief er wenig später ein, sehnte seinen altbekannten Traum herbei.
Erschrocken fand er eine veränderte Kulisse vor, erstmals nach über 20 Jahren.
Fernerhin betrat er das Rasenstück am See, doch brannte es lichterloh.
Orangerote Flammen schossen in die Höhe, züngelten, verzehrten das nahrhafte Gras.
Rauchschwaden verpesteten die klare Seeluft.
Besorgt spähte Teenager Ermano in jedwede Richtung, suchte verzweifelt seine nächtliche Freundin.
Die ohrenbetäubende Explosion einer Feuerstelle erregte seine Aufmerksamkeit.
Dort stand sie, inmitten des Brandherds, eingehüllt in sengenden Glimmer.
Er mahnte sein Hirn, die Beine zu bewegen und rannte ihr schnurstracks entgegen.
„Nein“, bat sie, hob ihre flache Hand, eine Geste, die ihn zum Stoppen animierte. „Ermano“, vermeldete sie bekümmert, „vertraue auf deinen Instinkt. Ignoriere die Verblendung deines Vaters. Macht trübt seine Sicht. Sie sind bereits unter uns.“
Ganz und gar machtlos sah Ermano mit an, wie Flammen seine treue Vertraute verschlangen und ihr Geruch mithin einer düsteren, aus Asche bestehenden Rauchwolke verschwand.
Unter Tränen krisch er: „Was kann ich tun?“
Bloß ein Wort drang in seine Ohren.
Als er dieses Mal erwachte, blieb die Erinnerung daran haften. Draconis.
„Lisias, du musst mir einen Gefallen tun.“
Noch vor dem Frühstück beorderte Ermano seinen Freund in eigene Gemächer.
Leise flüsterte er: „Du befürchtest dasselbe wie ich, richtig?“
Unverzüglich offenbarte Lisias: „Natürlich. Wir waren beide anwesend. Selbst wenn nicht, ich glaubte dir trotzdem.“
Froh über dieses Zugeständnis klopfte Ermano Lisias auf die Schulter.
Kaum hörbar wisperte sein Kumpel: „Hör mal. Es mag ein Zufall sein, jedoch spielt das Wetter ausschließlich in Trapani, maximal näherer Umgebung verrückt. Ich glaube, das liegt an dir!“ Perplex musterte Tigris Anguis. Der fuhr fort: „Yin bedeutet Tiger, Winter, Kälte, Wasser, Regen. Unter anderem. Eventuell steuern unbewusste Empfindungen die tiefen Temperaturen, einschließlich regnerischen Umschwüngen.“
Eine denkbar plausible Erklärung.
„Lass uns umso dringlicher herausfinden, was auf der Welt vorgeht! Macht, kombiniert mit bedingungsloser Unfehlbarkeit der Tigris, machen aus meinem Vater einen Narren! Versagensangst bestimmt seine Entscheidungen! Entsprechend seiner Ansicht, funktioniert unser Clan so perfekt, sodass niemand ein Schlupfloch finden könnte. Deshalb, mein lieber Weggefährte, hilf mir! Außer dir traue ich sonst keinem!“
Lisias schluckte, gespannt darauf, welch Gefälligkeit Ermano forderte.
„Lisias, bitte finde für mich den Erben der Draconis!“
Die Familie Tigris feierte das große Barbecue.
Heizlüfter erwärmten die frostige Terrasse, welche aktuell Platz für 50 Personen bot.
Wichtige Mitglieder, allesamt hohe Tiere bei Polizei, Interpol, Staatsanwaltschaft, Gerichtshöfen, Ärztekammern, Börsen und Zeitschriften versammelten sich um großzügig gedeckte Tische. Mehrere Grills rösteten das Fleisch.
Bedienstete huschten zwischen den Autoritätspersonen hindurch, versorgten jeden individuellen Geschmack.
Seltsamerweise lud Ragna keinen Diener seiner privaten Gefechtsarmee ein. Anscheinend mussten die Fußsoldaten zu Hause bleiben!
Natascha erlangte die Aufmerksamkeit eines jeden Mannes durch ein enges, rosafarbenes Kleid, das ihre weiblichen Kurven, sowie das üppige Dekolleté betonte.
Natürlich fiel sie auch Ermano auf, was sie beabsichtigte.
Die Arme überkreuzt, stand er bei einer Gruppe aus Staatsanwälten, welche regen Austausch über anspruchsvolle Fälle pflegten und deren Augenpaare die grazile Frau fixierten.
Ermanos Blick folgte den ihren. Sie schenkte ihm ein laszives Lächeln.
Weitere Aufmerksamkeit bekam sie dann nicht mehr, denn Lisias unterbrach ihren missglücklichen Versuch eines Flirts.
„Ermano, auf ein Wort!“, raunte er.
Höflich entschuldigend, verabschiedeten sich die Genträger von den seriösen Anzugsträgern. Abseits fuchtelte Lisias mit den Händen, wie es ein Italiener tat, um seine nächsten Worte zu untermalen. „Zugegeben, es war knifflig. Selbst für mich! Dank meiner Vernetzung innerhalb diverser Militärbasen, konnte ich einen Soldaten ausfindig machen, der den Kumpel eines Polizisten kennt. Dessen Freundin wurde kürzlich Zeugin einer kuriosen Schlägerei!“
Ermano wusste zunächst nicht, ob er die Ausführungen nachvollziehen konnte.
Bei Kumpel des Polizisten geriet er ins Stocken.
„Jedenfalls“, fuhr Lisias fort, „Drosch eine vermummte Gestalt einen gewöhnlichen Bürger durch das Schaufenster einer Boutique und, Trommelwirbel, der normal aussehende, nicht auffallende Typ stand einfach wieder auf! Dann schlug der Vermummte mit einem Baseballschläger auf ihn ein, der Kerl reagierte nicht mal! Du kannst dir denken, was das heißt?“ - „Ein Anderwesen!“, schlussfolgerte Ermano. „Ganz genau!“, unterstützte Lisias seine Mutmaßung, „die Rangelei trug sich, laut Aussage der Freundin des Polizisten, ohne Grund zu. Kein Streit ging voraus! Der Vermummte kam an und schlug drauflos! Das Beste kommt aber! Die Frau rief ihren Partner. Samt Verstärkung rückte dieser an. Derweil floh das Opfer in eine Gasse, ihm hinterher spurtete der Angreifer. Als die Polizei anrückte, fanden sie ausnahmslos männliche Kleidung, Haare, Fingernägel und Hautreste!“
Erstaunt lachte Ermano auf. „Das heißt, wir lagen richtig!“
Lisias legte die Hand auf seine Schulter. „Nein, mein Freund, das wollte ich damit nicht ausdrücken, auch wenn es stimmt! Was ich eigentlich sagen wollte, ich fand den Draconis!“

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